Hartmut Soell: Helmut Schmidt. 1918-1969. Vernunft und Leidenschaft, München: DVA 2003, 957 S., 62 s/w-Fotos, ISBN 978-3-421-05352-7, EUR 39,90
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Sabine Pamperrien: Helmut Schmidt und der Scheißkrieg. Die Biografie 1918 bis 1945, München / Zürich: Piper Verlag 2014
Meik Woyke (Hg.): Willy Brandt - Helmut Schmidt. Partner und Rivalen. Der Briefwechsel (1958-1992), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2015
Ulrich Schnakenberg (Hg.): Helmut Schmidt in Karikaturen. Eine visuelle Geschichte seiner Kanzlerschaft, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2016
Gunter Hofmann: Willy Brandt und Helmut Schmidt. Geschichte einer schwierigen Freundschaft, München: C.H.Beck 2012
Thomas Birkner: Mann des gedruckten Wortes. Helmut Schmidt und die Medien, Bremen: Edition Temmen 2014
"Wenn ich Bundeskanzler wäre", so zitiert Hartmut Soell Helmut Schmidt aus einer kleinen, vertraulichen Beraterrunde, die sich mit außenpolitischen Fragen auseinander setzte, "hätte ich mir einen Apparat (Krisenstab) geschaffen". Was im August 1967 noch Kritik an der mangelnden politischen und militärischen Führung durch Bundeskanzler Kiesinger war, sollte wenige Jahre später Wirklichkeit werden: 1974 wurde Schmidt Bundeskanzler, und er bekam schon bald seinen Krisenstab.
Aber davon handelt der erste Band der großen Schmidt-Biografie gar nicht, den Hartmut Soell jetzt vorgelegt hat. Dennoch ist es eine von zwei Fragen, die der Leser an diese ersten 859 Seiten (mit Anmerkungen und Anhang 958 Seiten) unwillkürlich richtet: War Helmut Schmidt der geborene Krisenmanager, der es an politischer Führung nicht mangeln ließ, wenn andere die Zügel schleifen ließen oder die Verantwortung nicht annehmen wollten? Oder waren es nur die besonderen Umstände - die Weltwirtschaftskrise, die Krise der Entspannungspolitik, die Grenzen des Sozialstaats -, die seine Amtsführung als fünfter Bundeskanzler zum Krisenmanagement geraten ließen?
Die zweite Frage richtet sich an den Biografen selbst. Gelingt Hartmut Soell, der zwischen 1966 und 1969 im Büro des SPD-Fraktionsvorsitzenden arbeitete, 1977 zum ordentlichen Professor für Neuere Geschichte in Heidelberg berufen wurde und von 1980 bis 1994 dem Deutschen Bundestag angehörte, die Gratwanderung zwischen der zumindest temporären Nähe zu einem politischen Weggefährten und Chef, dem er sich freundschaftlich verbunden wusste, und der kritischen Distanz des Wissenschaftlers? Auf diese Frage kann es sogleich eine klare Antwort geben: Sie gelingt - eben weil er intime Kenntnisse, wie kaum ein anderer, über die Person, ihr Handeln und Denken besitzt und weil er den politischen Tagesbetrieb sowohl als "Zuschläger" wie auch als Bundestagsabgeordneter von innen zur Genüge kennen gelernt hat. Hagiografische Tendenzen müssen sich andere Schmidt-Biografien nachsagen lassen, nicht jedoch Soell.
Die andere Frage lässt sich nicht so leicht beantworten. In der Tat findet man im politischen Lebensweg Helmut Schmidts schon einiges von dem angelegt, was unser Bild über den fünften Bundeskanzler der Bundesrepublik prägt, allerdings oft auch überzeichnet wird, denn viele Facetten gehen dabei verloren. Um nur wenige Beispiele zu nennen: Bei aller antiakademischer Attitüde, die sich Schmidt in der Auseinandersetzung mit der APO zulegte und auch heute noch gern benutzt, ist er nicht nur selbst ein Akademiker, sondern wurde darüber hinaus 1947 zum Vorsitzenden des damals noch eher parteikonformen, aber gewiss nicht unkritischen Sozialdemokratischen Deutschen Studentenbundes (SDS) gewählt. Auch zählte der spätere Verteidigungsminister in den Fünfzigerjahren zu einem der schärfsten Kritiker der westdeutschen Wiederbewaffnung und lehnte die atomare Aufrüstung der Bundeswehr ab, weil er sie als ein unüberwindbares Hindernis für die deutsche Einheit betrachtete. Und schließlich war es vielleicht nicht nur Taktik gegenüber einem möglichen Konkurrenten, wenn er den von Horst Ehmke vorgelegten Programmentwurf "Perspektiven im Übergang zu den Siebzigerjahren" als zu "technokratisch" und zu wenig wertgebunden kritisierte.
Das Krisenmanagen war Helmut Schmidt zwar nicht in die Wiege gelegt, aber er lernte rasch mit Herausforderungen und Rückschlägen umzugehen und sich in Gefahrensituationen diszipliniert und überlegt zu verhalten: Das galt für den Kriegsdienst ebenso wie für die Gefangenschaft, die schwere Nachkriegszeit oder für die zahlreichen politischen Konflikte, denen er niemals aus dem Weg ging. Er scheute weder die Auseinandersetzung mit dem Parteivorstand noch mit inner- und außerparteilichen Widersachern und meisterte als Hamburger Innensenator die große Flutkatastrophe mit Bravour.
Soell breitet den Lebensweg seines "Helden" in elf großen Abschnitten aus, die durch weitere, bisweilen ungleich gewichtete Unterkapitel strukturiert werden. Am Beginn seiner Biografie steht ein großer historischer Prolog über die Hamburger Gesellschaft, der mehr als gerechtfertigt ist. Denn Helmut Schmidt blieb vor allem immer eines - ein Hamburger Bürger, der mit akademischem und Amtstitel nur zwei Personen ansprach: den Hausarzt als "Doktor" und den Bürgermeister der Stadt als "Herr Bürgermeister".
Soell zeichnet mehr als nur den politischen Lebensweg des "Herrn Schmidt" (so möchte er heute angesprochen werden) aus kleinbürgerlichen Hamburger Verhältnissen in höchste Partei- und Staatsämter nach, er schildert auch die privaten Lebensumstände und leuchtet kundig und umsichtig politische Hintergründe aus. Es fehlt nicht die Darstellung der Animositäten in der Parteiführung, der wechselhaften, komplizierten Beziehung zu Wehner und Brandt. Und es mangelt auch nicht an Kritik gegenüber Schmidt, wenn dieser zu sehr mit Brandt hadert oder diesen angreift. Daneben lässt Soell an vielen Stellen die Akten sprechen, was bei manchen Lesern zu Ermüdungserscheinungen führen mag, diese andererseits aber zum eigenen Abwägen befähigt. Manche andere, mit leichterer Feder geschriebene biografische Darstellung erweist sich im Vergleich zu Soells Biografie dann doch als Diät-Lesekost.
Es gelingt Soell überzeugend, der Persönlichkeit Schmidts und ihrer Entwicklung auf die Spur zu kommen: der Strenge gegenüber anderen, aber vor allem gegenüber sich selbst, das Erkennen eigener Schwächen und den Versuchen, sie zu mindern und vor allem sich immer wieder selbst zu mäßigen, zu zügeln, zu nüchternem, klarem Urteil zu finden (was andere allerdings auch verletzten kann). Schon in seiner Jugend übernahm Schmidt gern das Kommando, freilich war er auch ein Heranwachsender mit zunächst verborgenen künstlerischen Neigungen, immer wieder kehrenden Selbstzweifeln und mit Idealen, die nicht den Himmel auf Erden versprachen. Er wuchs mit und gegen seine wissenschaftlichen und politischen Lehrer, darunter Karl Schiller und Fritz Erler. Dass er schon bald als politische Nachwuchshoffnung und der zweite Mann hinter Willy Brandt galt, bringt Soell nicht so überzeugend auf den Punkt, obwohl es in seiner Biografie mit Händen zu greifen ist. Helmut Schmidt war ein moderner politischer Profi, und er verstand - mehr als er sich selbst wahrscheinlich eingestehen mag - den politischen Beruf weniger als Berufung denn als professionelle Arbeit, die gut gemacht, klug überlegt und überzeugend in Szene gesetzt sein wollte. Eben dies sollte ihm später die Bezeichnung des Krisenmanagers einbringen. Wer von seinen politischen Mitstreitern setzte schon in den Fünfzigerjahren gedrehte Wahlkampfspots ein, wer organisierte sich Beraterkreise, wer verband Fach- und Sachkunde mit solch kalkulierter politischer Rhetorik, wer kannte schon gleichermaßen die politischen Verhältnisse in den USA wie das Binnenleben der SPD, wer brillierte schon gleichzeitig mit intellektuell und analytisch anregenden, publizistischen Beiträgen und wusste ebenso pragmatisch wie notfalls hemdsärmelig aufzutreten? Soell fragt abschließend, ob Schmidt das Amt des SPD-Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag als das "schönste Amt" galt - findet darauf aber so recht keine Antwort. Vielleicht finden wir sie im zweiten Band seiner herausragenden Biografie, wenn er den Bundeskanzler Schmidt beschreibt.
Karsten Rudolph