Wolfgang Harms / Alfred Messerli (Hgg.): Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450-1700), Basel: Schwabe 2002, 512 S., 75 Abb., davon 19 in Farbe, ISBN 978-3-7965-1935-2, EUR 68,50
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Wie liest man eigentlich ein illustriertes Flugblatt? Welche mediale Struktur hat es? Welche mediale Funktion kann es ausüben? Um die Sache zu verkomplizieren: Wie rezipiert man eine Sammlung von Flugblättern? Als gemeinsamen Textkorpus oder als Bricolage unterschiedlichster Themen und Positionen? Der voluminöse und luxuriös ausgestattete Sammelband des Zürcher Volkskundlers Alfred Messerli und des Münchner Doyen der deutschen Flugblattforschung Wolfgang Harms, der eine Tagung des Jahres 1999 anlässlich der kritischen Edition der Flugblattsammlung des Zürcher Chorherrn Johann Jakob Wick (die "Wickiana" der Zentralbibliothek Zürich) dokumentiert, scheut sich nicht vor solch grundsätzlichen Problemen. Auf diese sehr einfachen Fragen befriedigende Antworten zu geben, erweist sich als außerordentlich schwierig. Es reicht offenbar nicht hin, schlicht von wechselseitiger Erhellung von Bild und Text im illustrierten Flugblatt zu sprechen. Denn schon der Gattungsbegriff selbst impliziert eine Hierarchie zwischen Text und Bild, die Letzteres eben nur als Illustration eines Textes begreift, so womöglich aber gar nicht haltbar ist. Vielmehr kann sich die Text-Bild-Relation als instabil erweisen und Unschärfen enthalten, die eine eindeutige und einsinnige Lektüre erschweren. Hans Irler macht in seinem Beitrag zu Landsknechtflugblättern im Anschluss an Erwin Panofsky diese Probleme deutlich (90 f.): Text und Bild können einander korrespondieren oder unterlaufen. Jedes Element kann Bedeutungsebenen erschließen, die dem Anderen verschlossen bleiben. Jedes Element spricht andere Affekt- und Erfahrungsebenen im Rezipienten an, die unter Umständen nicht ineinander übersetzbar sind. Bild und Text können einander ergänzen und zugleich einen medialen Eigensinn bewahren. Zwischen beiden spielt sich Rezeption wie Hermeneutik des illustrierten Flugblattes ab. Welches Erkenntnispotenzial, aber auch welche verwirrende Vielfalt eine Sensibilisierung der Flugblattforschung für dieses mediale Apriori bereithält, belegt der Sammelband eindrucksvoll.
Je nach Fragestellung ergeben sich hier durchaus gegensätzliche Thesen: Während Alfred Messerli deutlich für ein Primat des Textes bei der Bedeutungsproduktion des Blattes plädiert und dem Bild allenfalls die Rolle eines "Lesestimulus", höchstens aber einer "inhaltlichen Akzentuierung" oder "Gedächtnisstütze" (28) zuweist, spiegelt die Dualität von Text und Bild im illustrierten Flugblatt für Horst Wenzel die "doppelte Lesbarkeit der Welt" (66) selbst. In seiner Sicht hat der Rezipient die Wahl zwischen Abbildung und begrifflichem Argument, sinnbildlich zwischen dem Buch der Natur und dem Buch der Bücher. Anschauung und Deutung sind gleichwohl niemals zu trennen, sondern generieren einen immer schon perspektivischen Blick auf die Welt. Dass die Information, das Ereignis oder eben die Anschauung nicht notwendig ihrer Deutung vorausgehen muss, verdeutlicht Michael Schilling in seinem Beitrag zur Rolle von Flugblättern als Katalysatoren von Krisenwahrnehmung. Sie multiplizieren nicht nur eine vorhandene Krisenstimmung und können als ihr Symptom angesprochen werden, sondern generieren sie in gleicher Weise.
Insgesamt wird deutlich, dass sich dieses subtile Zusammenspiel von Faktum und Interpretatum auf das bezieht, was Wolfgang Harms in seiner Bandeinleitung leicht euphemistisch als den "besonderen Einzelfall" (13) charakterisiert. So messen viele der Beiträge das Spektrum des Monströsen, Unerwarteten, Numinosen, kurz: des Fremden und "Erschröcklichen" im illustrierten Flugblatt aus. Wolfgang Brückner erkennt in seiner Analyse von Fremdheitsstereotypen in verschiedenen Gattungen von Druckschriften ein neues "ethnographisches Sehen" (154), das die Fremdheit anderer Völker und Ethnien systematisch einem Prozess der Emblematisierung unterwarf. Das neue Medium des Massenbildes sorgte hier für eine stärkere mediale Präsenz des Fremden vor allem unter den städtischen Eliten, die nach Brückner durchaus eine "weltoffene Wahrnehmung von Alterität" (162) mit sich brachten. Ob diese allerdings tatsächlich als Alterität oder doch nur als Extrapolation des Eigenen in das medial erschlossene Fremde wahrgenommen wurde - wie Horst Wenzel in der Diskussion einwandte - bleibt in Brückners optimistischer Sicht offen.
Dass nämlich Fremdheitsstereotypen nicht nur der topologischen Ordnung der Welt dienten, sondern bewusst als polemische Argumente in politischen und konfessionellen Auseinandersetzungen eingesetzt werden konnten, betont Jean Schillinger in seiner Analyse von Feindbildern im Medium Flugblatt. Er verdeutlicht, dass das Fremdheitsmodell "Türke" über komplizierte Ähnlichkeitsoperationen mit dem bekannten Stereotyp "Franzose" konvergieren konnte, um so eine gegenseitige Diffamierung des politischen Gegners zu bewirken. Fremd und vertraut sind hier als Kategorien der Weltwahrnehmung zwar klar abgegrenzt, doch zugleich medial ineinander übersetzbar. Wie erklärungsbedürftig allerdings Abweichungen von der Norm gerade in Bereichen des alltäglichen Lebens waren, belegt Ulla-Britta Kuechens Beitrag zur Dokumentation von Pflanzenmissbildungen auf illustrierten Flugblättern. Sie verfolgt diese Gattung von den Anfängen des Buchdrucks bis in die Goethezeit und zeichnet eine langsame Verschiebung weg von ihrer Deutung als göttliche Wunderzeichen hin zu eher immanent naturkundlichen Erklärungsmustern nach.
Die Integration des Außerordentlichen in bewährte Wahrnehmungsmuster wird ebenfalls in zwei Beiträgen zu außergewöhnlichen Himmelserscheinungen betont. Thomas Gutwald diagnostiziert in verschiedenen Nordlicht-Flugblättern sehr subtil unterschiedliche Grade von Inkongruenz zwischen Bild und Text. Solche Divergenzen erzeugen in seiner Sicht schon auf der medialen Oberfläche eine Deutungsoffenheit des Nordlichts als Prodigium. Es kann durch seinen "Indizcharakter" (260) sowohl auf Ereignisse in der Zukunft vorausdeuten als auch als Ereignis sui generis vorangegangene Prodigien erfüllen. Auf diese Weise kann nicht nur das außergewöhnliche Ereignis des Nordlichts, sondern auch das Medium Flugblatt selbst Prodigienfunktion gewinnen, in dem es spezifische Deutungsangebote macht, die die Zukunftserwartung des Rezipienten strukturieren.
In ähnlicher Weise analysiert Barbara Bauer die Menge der Kometen-, Nordlicht- und anderen Prodigienblätter in Wicks Sammlung. Sie dokumentieren einen Wahrnehmungsmodus, der eine "Polyvalenz des Zeichens" (224) voraussetzt und unbegrenzte Ähnlichkeitsbeziehungen in der Ordnung der Dinge impliziert. Bauer macht auf durchaus brillante Weise deutlich, dass eben diese Struktur auch der Ordnung der Sammlung Wicks zugrunde liegt. Sie sei einerseits als Chronik zu begreifen, die Memorabilia weniger chronografisch verzeichne als vielmehr multimedial kollagiere, habe aber darüber hinaus einen starken prophetischen Subtext. Denn erst die Aufnahme von Wunderzeichenblättern in den Kontext der Chronik mache - so Bauers These - einen theologisch begründeten Zusammenhang zwischen Ereignissen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft möglich. Wicks Chronik wird so zu einem Modell der Welt selbst, in dem einzelne medial dokumentierte Ereignisse andere mithilfe ihrer biblisch oder allegorisch verbürgten Vergleichbarkeit erläutern und deuten können. Die Texte in Wicks Sammlung sind somit zugleich "Spiegel einer Verunsicherung" (234) wie Spiegel ihrer medialen Bewältigung.
Dass das illustrierte Flugblatt dabei nicht nur der Krisenbewältigung, sondern auch der Versicherung eigener Identität diente, machen zwei Beiträge zu kollektiven Wir-Vorstellungen klar. Katrin Stegbauer differenziert die verschiedenen "Perspektivierungen" (371), unter denen der spektakuläre Mord am spanischen Konvertiten Juan Diaz 1546 durch seinen Bruder von der protestantischen wie katholischen Seite repräsentiert wurde. Die lutherische Publizistik identifiziert die Mordgeschichte ausgehend von einem Text Melanchthons zusehends mit der biblischen Kain/Abel-Geschichte und integriert sie überdies in die sich im Laufe der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entwickelnde protestantische Martyrologie. Auf diese Weise ereignet sich auch eine Verschiebung in der Memoria-Funktion des Mordes. Diente seine Öffentlichmachung selbst noch der Identitätssicherung der protestantischen Partei im unmittelbaren Kontext des Schmalkaldischen Krieges, so entwickelte er sich später zum Exemplum der verfolgten wahren Kirche im Allgemeinen.
Silvia Serena Tschopp situiert in ihrem Beitrag zur medialen Konstruktion eines frühen gesamteidgenössischen Bewusstseins die Flugblätter in einem komplexen Medienverbund aus historischem Drama, gesungenem Lied und illustriertem Flugblatt. Wichtig ist hier vor allem, dass nicht nur ein Medium der Inhalt eines anderen Mediums sein kann, sondern vor allem auch, dass die verschiedenen Medien einander inhaltlich voraussetzen. Die im Flugblatt transportierten Inhalte erfordern dabei die Kenntnis spezifischer Topoi der eigenen Geschichte, die erst über die Medien Theater und Lied bekannt gemacht worden sein dürften.
Medien dienen so der Integration des Gemeinwesens, auch gerade dann, wenn sie staatliches Handeln nicht nur legitimieren, sondern schlicht dokumentieren. So argumentiert Dietmar Peil am Beispiel von Hinrichtungsflugblättern, dass der Staat qua Flugblatt sein Machtmonopol, das die Hinrichtung selbst rituell beglaubigt, auch in Zeit und Raum perpetuiert. Die Medien werden so - in Abwandlung der McLuhan'schen Formel - zu "extensions of state".
In gewisser Weise trifft sich mit Peils These auch das Argument, das Franz Mauelshagen in seiner perspektivenreichen Analyse von Flugblättern zu verschiedenen Mordfällen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts in den Raum stellt. Er interpretiert die mediale Präsentation des Mordes im Flugblatt als Repräsentation staatlichen Handelns und zugleich als "Rekonstruktion des Tathergangs" (338). Mauelshagen identifiziert die Prozesshaftigkeit dieser Rekonstruktion in der Bild/Text-Relation selbst. Der mit nicht geringem theoretischen Aufwand gewonnene Mehrwert betrifft hier die Frage nach deren Funktion für die Glaubhaftigkeit von Information und Deutung eines Ereignisses. Seine Pointe besteht vor allem darin, dass gerade in den Inkongruenzen zwischen Schrift und Bild je spezifische Beglaubigungsstrategien liegen, die je nach Situation neue Rezeptionsmuster erfordern.
Wie also liest man ein illustriertes Flugblatt? Es kommt - so scheint es - ganz darauf an, was man wissen will, viel mehr aber noch darauf, was man schon vorher weiß. Der angezeigte Sammelband führt eine Fülle von Varianten dieser Rezeptionssituation vor. Dass er dabei keine Version präjudiziert, macht seine Problematik, aber auch seine Qualität aus.
Jan-Friedrich Missfelder