Konrad Canis: Bismarcks Außenpolitik 1870-1890. Aufstieg und Gefährdung (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 6), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003, VIII + 452 S., ISBN 978-3-506-70131-2, EUR 39,80
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Nach seiner Darstellung der deutschen Außenpolitik zwischen 1890 und 1902 (aus dem Jahr 1997) hat Konrad Canis nun eine Geschichte der Außenpolitik der Jahre 1870 bis 1890 vorgelegt. Um seine Arbeit über die Politik des Deutschen Reichs bis zum Ersten Weltkrieg fortzuführen, habe sich, so Canis im Vorwort, dieser "Umweg" über die Bismarckzeit angeboten: "Denn vieles von dem, was bis in die letzten Jahre vor 1914 von Belang war, erklärt sich nicht zuletzt aus den Voraussetzungen, den Grundlagen, den Kontinuitäten, die sich aus dem Gesamtverlauf der Außenpolitik dieses Reiches ablesen lassen" (VIII).
Canis beginnt seine Untersuchung mit einer auf 35 Seiten gerafften Darstellung der Deutschen Frage zwischen 1815 und 1870. Es schließen sich, chronologisch geordnet, Kapitel entlang der wichtigsten außenpolitischen Ereignisse der Jahre bis 1890 an. Die Mission Radowitz und die Krieg-in-Sicht-Krise des Jahres 1875 deutet Canis dabei als Auseinandersetzung um die Hegemonie in Europa. Über Radowitz habe Bismarck von Russland Reziprozität eingefordert und damit im Kern eine einvernehmliche Teilung der Vorherrschaft über den Kontinent angeboten. Gegenüber Frankreich ging es ihm dagegen um deutsche Dominanz. Den Weg in den Zweibund mit Österreich-Ungarn sieht Canis ganz von Bismarcks Russlandpolitik bestimmt. Angesichts dessen war die Allianz von 1879 lediglich ein "Produkt der Verlegenheit" (157), für Bismarck "eher von sekundärem Rang" (159). Dass dann zwei Jahre später doch im Dreikaiservertrag die Verbindung der drei konservativen Reiche gelang, darin sieht Canis dann die "Meisterschaft des Kanzlers" (163) am Werk.
Die Kolonialpolitik der Jahre um 1885 deutet Canis als eine für Bismarck typische Politik des "try and error", mit der der Kanzler Flexibilität zu wahren suchte: "Trends stellten sich ihm vor, die er auf Chancen abklopfte, um sich aus Zwängen zu befreien oder diesen für die Zukunft möglichst zu entgehen" (209). Thematisch nimmt er ein Bündel aus innenpolitischen Gründen - vor allem den Machtkampf mit dem Thronfolger - und außenpolitischen Kalkülen an. Die Annäherung an Frankreich sollte getestet, der Gegensatz zu Großbritannien betrieben werden. In den letzten Jahren seiner Kanzlerschaft begann sich Bismarck dann aber doch ernsthafter mit einer Annäherung an England auseinander zu setzen. Doch auch jetzt kam für ihn die Verbindung mit London als "reale Alternative [...] erst dann in Frage, 'wenn Rußland uns die Freundschaft kündigt'". Aber das, so Bismarck 1885, sei "'nicht unsere Absicht'" (241). Und so spielte bei seinem Sturz die Orientierung des Kanzlers an Russland, die viele in der Reichsleitung durch eine an England ersetzen wollten, zwar eine Rolle, gestürzt sei Bismarck, so Canis, aber vor allem über innenpolitische Fragen.
Das alles erzählt Canis - gruppiert um die klassischen Perioden der Bismarck'schen Außenpolitik von 1870 bis 1878, 1879 bis 1885 beziehungsweise 1885 bis 1890 - mit großem Verständnis für die schwierige außenpolitische Position des Reichs und die Leistung seines Kanzlers. Wo aber liegen die Linien, die Canis über die Gesamtepoche zwischen 1870 und 1890 stark macht und die dann auch eventuell über diese Zeit hinausweisen können?
Zunächst ist der Titel "Bismarcks Außenpolitik" ernst zu nehmen. Canis Darstellung ist ganz auf den ersten Kanzler konzentriert. Andere Akteure der deutschen Politik kommen nur am Rande vor, vermehrt eigentlich erst in den letzten Jahren, als die Autorität Bismarcks langsam schwand. Besonderes Augenmerk richtet Canis sodann auf die durchgängige Gefährdung der Position des Reichs nach 1871. Die Einigung unter preußischer Führung, die das bisherige Gleichgewicht in Europa veränderte, verdankte sich einer kurzfristigen internationalen Konstellation. Grundsätzlich sahen sich die anderen durch das neue Reich aber eher bedroht. Bismarck erscheint bei Canis vor diesem Hintergrund als der Staatsmann, der sich der labilen Sicherheitslage stets in höchstem Maße bewusst blieb und sich ständig auf der Suche nach neuen Möglichkeiten zur außenpolitischen Stabilisierung befand. Selbst auf dem Höhepunkt außenpolitischer Erfolge in den 1880er-Jahren blieb die Situation aber gefährlich. Stabil war die außenpolitische Situation des Reichs, folgt man Canis, zur Zeit des ersten Reichskanzlers somit nie.
Durchgängig fragt Canis auch nach den innenpolitischen Absichten von Bismarcks äußerer Politik. Ohne dass Bismarck zum Vertreter einer "modernen" Außenpolitik würde, sieht Canis das Verhältnis von Innen- und Außenpolitik bei ihm von mehreren Momenten bestimmt. Zunächst ließ sich der Reichskanzler bei der Einschätzung der anderen Mächte natürlich von der dortigen gesellschaftlichen Konstellation leiten. Daneben ließ sich mit außenpolitischen Erfolgen im Rücken trefflich Wahlkampf machen. Immer wieder versuchte Bismarck sein außenpolitisches Prestige gegen die Opposition im Innern, Nationalliberale oder Sozialisten, zu nutzen. Doch nicht nur parteipolitisch wurde die Außenpolitik instrumentalisiert. Bismarck setzte sie auch ganz gezielt für seinen persönlichen Machterhalt ein: "Es lag für ihn auf der Hand", so Canis, "den Gewinn an Autorität auch wechselseitig zu suchen: von innen nach außen und von außen nach innen" (131).
In dieser spezifischen Verbindung von Außen- und Innenpolitik unter der Prämisse des Machterhalts ließen sich interessante Bezüge zur Wilhelminischen Zeit herstellen. Seinen Fluchtpunkt 1914 visiert Konrad Canis aber vor allem unter einer anderen Perspektive an. Denn inwieweit stellte für Bismarck bei allen Saturiertheitsbeteuerungen eine - "begrenzte, friedliche" (VII) - Vormachtstellung eine ernsthafte außenpolitische Alternative zur Sicherung des Reichs dar, ja inwieweit waren neben defensiven auch offensive Varianten Bestandteil seines außenpolitischen Kalküls? Vor allem was die Frankreich-Politik anbelangt, plädiert Canis dafür, den Präventivkriegsgedanken in Bismarcks Überlegungen ernst zu nehmen, und das auch über die Krieg-in-Sicht-Krise von 1875 hinaus. Es gehe an der Sache vorbei "Bismarck als Kriegs- oder Friedenspolitiker sui generis zu bewerten. Die Sicherheit des Reiches stand ihm obenan. Angesichts der prekären Lage des Reiches befand er sich ständig auf der Suche nach Alternativen für mehr Sicherheit, und für sie war ihm jedes Mittel recht, solange es Erfolg versprach. In diesem Rahmen sah er den Frieden und den Krieg." (106). Damit stellt sich aber dann auch die Frage, inwiefern nicht nur die machtpolitische Gefährdung des Reichs unter Bismarck dominierend war, sondern auch die militärische Offensive als eine der möglichen Alternativen zur Sicherung des Reichs immer mehr an Boden gewann: Neben der "defensiven, auf Status quo" orientierten Linie, "die auf dem Erhalt des Friedens gründete", gab es "tatsächlich eine zweite, auf den Ausbruch aus der eingeengten Stellung ausgerichtete Linie". Niemals, so Canis allerdings, habe Bismarck "va banque gespielt." (256)
Die - gedankliche - Überschreitung der Grenze zwischen "gleichgewichtigem und hegemonialem Anspruch" weist bereits über die Bismarckzeit hinaus. Ein anderer Aspekt, den Canis kaum einmal ausdrücklich problematisiert, der aber seine Studie durchzieht, tut es vielleicht noch mehr. Es ist die Aufmerksamkeit, die Canis dem außenpolitischen Stil Bismarcks widmet. Kaum jemals, so wird im Zuge der Darstellung einmal mehr deutlich, hat es Bismarck mit Kooperation, mit Mitteln, die echte Verständigungsbereitschaft signalisierten, versucht. Stets setzte er auf Druck, auf das Ausspielen der diplomatischen Partner. Kurz- und mittelfristig mochte das Erfolg haben, doch längerfristig warf das die Gefahr auf, vorhandene Differenzen zwischen dem Deutschen Reich und den anderen Mächten weiter zu vertiefen. In einem abschließenden Kapitel, das die Brücke zu den Entwicklungen bis 1914 schlägt, wird klar, dass hierin vielleicht eine der wichtigsten Kontinuitäten zu suchen ist. Bismarck mochte sich diese Methoden angesichts der internationalen Konstellation noch erlauben können, bei seinen Nachfolgern wirkte die Politik der Stärke verheerend. Und so gilt für sie umso mehr, was Canis mit Blick auf Bismarcks immer wieder praktizierte außenpolitische Taktik formuliert: "Vertrauen zu erwecken vermochte sie nicht, in Rußland nicht, in Frankreich ohnehin nicht, aber auch nicht mehr in Österreich-Ungarn, erst recht nicht, weil sie zudem besonders auf Druckmittel setzte" (274 f.).
Mit der Arbeit von Konrad Canis liegt eine äußerst konzentriert geschriebene, abwägende Studie vor, die den bisherigen großen Gesamtdarstellungen Bismarck'scher Außenpolitik in nichts nachsteht. Canis benennt die Grenzen des Außenpolitikers Bismarck und deutet die Kontinuitäten an, die über die Jahre zwischen 1870 und 1890 hinausreichten, er verhehlt aber auch seine Sympathie für die Außenpolitik des ersten Reichskanzlers nicht. Das "gewonnene Maß außenpolitischer Sicherheit für Deutschland", so lautet denn auch ein Fazit von Canis, "war so groß, wie es die von Bismarck angewandten Mittel überhaupt hergaben. Und dieses Maß ging allemal über das hinaus, was seine Kontrahenten in Berlin und eine maßgebliche Strömung der Öffentlichkeit im Reich mit ihren Standpunkten in Anschlag brachten" (312).
Friedrich Kießling