Matthias Schnettger (Hg.): Imperium Romanum - irregulare corpus - Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Universalgeschichte; Beiheft 57), Mainz: Philipp von Zabern 2002, XI + 336 S., 16 Abb., ISBN 978-3-8053-2963-7, EUR 39,80
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Christine Roll / Matthias Schnettger (Hgg.): Epochenjahr 1806? Das Ende des Alten Reichs in zeitgenössischen Perspektiven und Deutungen, Mainz: Philipp von Zabern 2008
Johannes Paulmann / Matthias Schnettger / Thomas Weller (Hgg.): Unversöhnte Verschiedenheit. Verfahren zur Bewältigung religiös-konfessioneller Differenz in der europäischen Neuzeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016
Matthias Schnettger: Kaiser und Reich. Eine Verfassungsgeschichte (1500-1806), Stuttgart: W. Kohlhammer 2020
Der Band zu einer Mainzer Tagung vom 27. bis 29. September 2001 zieht Bilanz zur "Historiographie über das Alte Reich" (X), mit Akzenten auf der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und auf der zuletzt umstrittenen Staatsqualität des Reichs. Die schätzenswerten Beiträge erstens zum "Urteil der Zeitgenossen" über das Reich und zweitens zu einzelnen Wertungen der "Historiographie" sind vor allem wegen ihres europäischen Zuschnitts weiterführend. In einem dritten Teil zu aktuellen "Forschungstendenzen" erhalten Georg Schmidt und Heinz Schilling noch einmal die Gelegenheit, ihr Pro und Contra zum "Reichs-Staat" vorzutragen.
Da sich die meisten Beiträge zur Staatlichkeit des Reichs äußern, beginne ich mit dem dritten Teil des Bandes, in dem dieser Aspekt im Mittelpunkt steht. Der Begriff "komplementärer Reichs-Staat" habe vier "Vorteile", so Georg Schmidt: Mittels des Begriffsinhalts werde (1) das Reich räumlich "an die politisch-territoriale deutsche Nation gebunden"; (2) der Zusatz "komplementär" hebe seine Eigentümlichkeit hervor; (3) "ethnische Nationsvorstellungen" würden vermieden; (4) es handle sich um "eine historische Formation, die erstaunlich lange bestand und die europäische Geschichte mitgeprägt hat" (274-276). Der für das Reich zuvor selbstverständlich verwendete Staatsbegriff sei erst im 19. Jahrhundert durch die nationalpolitische Umdeutung zum Machtstaat verschüttet worden. Heinz Schilling bleibt trotz dieser "Vorteile" bei seiner Auffassung, "nicht modernisiertes" oder "teilmodernisiertes" Reich zu sagen, und zwar wegen der nur reagierenden äußeren Politik des Reichs, wegen der nur formalen Handlungseinheit in der Wirtschaftspolitik, wegen der offenen Grenzräume, schließlich wegen der konfessionellen Spaltung. Barbara Stollberg-Rilinger erläutert nochmals ihre spezifische Sicht der Staatlichkeit aus kulturalistischem Blickwinkel. Die symbolische Inszenierung und die Zeremonialkonflikte seien als genuine Verfassungselemente zu verstehen, da sich in den "solennen actibus" die Ordnung des Reichs stets aufs Neue konstituierte.
Zum ersten Teil des Bandes: Wie fiel das "Urteil der Zeitgenossen" aus? Nahmen sie das Reich als "Staat" wahr? Burghart Schmidt kommentiert Karten des Alten Reichs von Nicolaus Cusanus (1439/91) bis Adolf Stieler (1805). Sie tragen die Aufschrift Germania oder Deutschland, nicht Reich, auch wenn sie das Reich abbilden. Wolfgang Burgdorf untersucht, wie Goethe im "Götz von Berlichingen" die Probleme der Staats-, Reichs-, Kirchen-, Hof- und Adelskritik seiner Gegenwart in den politischen Verwerfungen nach 1500 spiegelte. Goethe blendete die längst vergessene Forma-Imperii-Debatte aus, da sie ohnehin an den Problemen des Reichs vorbeiging. Die europäischen Nachbarn sahen in der Frühen Neuzeit das Reich im Wesentlichen als Staatenlandschaft. Die italienischen Vasallen hatten nur den Kaiserhof als ständigen Bezugspunkt, nicht die Reichsversammlungen und -institutionen. Für die Großen war das Reich ein deutsches, für die kleinen Lehensträger auch ein "römisches", weil sie von Kaiser und Reich Schutz erwarteten. Matthias Schnettger will daher vom kaiserlichen Italien statt von Reichsitalien sprechen. Die schwedische Diplomatie, die das Reich sehr gut kannte, glich nach 1648 die eigene militärische und politische Schwäche mühsam durch wechselnde Koalitionen aus. Schwedens Ziele waren auf die Erhaltung des Besitzstands gerichtet, nicht auf eine Stärkung der Protestanten oder der reichsständischen Libertät. Französische Autoren in der Zeit Ludwigs XIV. entwarfen Niedergangsszenarien des Reichs, in der Form eines allgemeinen Niedergangs von den Karolingern bis zu den Habsburgern, aber auch als aktuellen Machtverlust. Sie sprachen synonym von "Reich", "Empire" und "Allemagne" und waren sich einig, dass die Reichsstände die "supériorité territoriale" hatten, dass jedoch diese Souveränität unter einer wenigstens "theoretischen" Kontrolle des Reichs stand (108). Von den Niederlanden aus wurden "Deutschland", das "Reich" oder das "Deutsche Reich" als Raum erfasst, nicht als Handlungseinheit und nicht als Staat. Sogar als sich die Libertät noch günstig auf die Sicherheitslage der Niederlande auswirkte (bis in die 1670er-Jahre), verurteilten die Gesandten die "verdeeldheid" des Reichs (131). Selbst die Moskowiter hatten eine Vorstellung und mehrere Bezeichnungen für das Reich, das für sie mitsamt seinen Institutionen und Verträgen ein "kaiserliches" war.
Wie weit der Historikerstreit um den "Reichs-Staat" von den grellen Sinngebungen früherer Zeiten entfernt ist, verdeutlichen die Analysen Eike Wolgasts und Michael Derndarskys. Heinrich von Treitschke erkannte im Augsburger Religionsfrieden die eigentliche Zäsur, die vom Glanz des mittelalterlichen Reichs in "die schimpflichste Epoche unserer Vergangenheit" (175) führte, in der die Reichsverfassung nur noch "eine große Lüge" war. Obschon weniger drastisch in den Formulierungen, bewertete auch Bernhard Erdmannsdörffer die Libertät der Fürsten als Anarchie und die Reichsinstitutionen als pure Fassade, die den blassen Anschein von Ordnung gaben. Heinrich von Srbik stellte der borussischen Grundthese, dass sich Habsburg-Österreich aus dem Reich herausentwickelt habe, den Mythos einer abgehobenen Reichsidee entgegen. Srbik ging sogar so weit, eine Translatio Imperii vom Alten Reich zu Österreich zu konstruieren. Konsequent stilisierte er Kaiser Franz Joseph I. als den "letzten der mittelalterlichen Imperatoren" (201).
Das Reich ist kein Gegenstand der europäischen Geschichtswissenschaft. Das gilt im Übrigen nicht nur für Historiker in Frankreich und Polen, von denen im Tagungsband die Rede ist. Die französische Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts hat das Reich geradezu übersehen. Christophe Duhamelle führt dies zurück auf traditionelle Schwerpunkte, die in Frankreich eher bei Italien und Spanien, allenfalls noch beim Habsburgerreich lagen. Erst in jüngster Zeit hätten Étienne François und Gérald Chaix Themen mit reichsgeschichtlichem Bezug erschlossen. Polnische Historiker beschrieben das Reich nach 1648 als kulturelle, nicht staatliche Einheit. Die Beziehung Polens zum Reich erscheint in ihren Studien als äußere Politik gegenüber einzelnen Reichsständen, vor allem aber gegenüber Habsburg und Preußen.
Die Beiträge zum Urteil der Zeitgenossen belegen, dass die frühneuzeitlichen Nachbarn das Reich nicht als Staat begriffen. Die Reichspublizistik eingeschlossen, überzeugt daher die These nicht, erst eine "metaphysische", machtpolitische Überhöhung des Staats im 19. Jahrhundert habe dazu geführt, dass die zuvor für das Reich selbstverständliche Bezeichnung "Staat" verschüttet wurde. Sie war nicht selbstverständlich. Keinesfalls passt die heute gebräuchliche Lehrdefinition der Einheit von Staatsgebiet, -gewalt und -volk für den Reichsverband (250). Ronald G. Asch erinnerte in der Diskussion an die Bewertung Georg Schmidts von 1993, der Westfälische Friede habe die "Staatswerdung" (295) des Reichs blockiert. Dem wird man zustimmen, jedoch hinzufügen, dass der Westfälische Friede die schon lange bestehende Blockade nur bestätigte. Auch wenn dies gesichert scheint, ist dennoch der Hinweis von Johannes Burkhardt richtig, dass es "in vielen Punkten [...] erst einmal einer Neubewertung" (311) bedarf - und auch neuer Erkenntnisse.
Vorläufig findet nach wie vor der Systembegriff, der ja schon in der Frühen Neuzeit verwendet wurde, breite Zustimmung. Er besagt indessen als universaler Wissenschaftsbegriff nicht mehr, als dass die Teile mit dem Ganzen in funktionaler Beziehung stehen. Hilfreich ist der Vorschlag von Barbara Stollberg-Rilinger, den Sinn des uns Fremden am Reich zu suchen. Ihr kulturalistischer Ansatz ist eine willkommene Bereicherung der Reichsforschung. Natürlich wird man nicht dabei stehen bleiben, Methoden und Begriffe kulturalistischer Sichtweisen nur illustrativ auf Teilelemente der Reichsverfassung zu beziehen. Das Ziel ist eine Synthese, das heißt eine Beschreibung des Reichsverbands, welche die Institutionen, Entscheidungsprozesse, Geltungsansprüche, symbolischen Praktiken, aber auch die sozialen Strukturen, die durch das Reich geformt wurden, als Gesamtordnung sichtbar macht. Bei einem solchen Ziel ist dann auch der erste Satz im Beitrag Georg Schmidts zu beachten: Die Frage, ob das Reich ein Staat war, sei "eine an sich wenig aufregende Frage" (247). Und weiter ist an die Bemerkung von Sigrid Jahns zu erinnern, man dürfe dem barocken Schloss des Reichs nicht den "Betonblock" (XI) eines ungeeigneten Begriffs überstülpen. Um die europäischen Sonderwege zu vergleichen, braucht man den Begriff eines "Reichs-Staats" nicht. So gesehen, könnte eine durchaus belebende Debatte mit dem Ergebnis schließen: Sprechen wir getrost weiterhin von Reich, Reichsverband oder Reichssystem.
Maximilian Lanzinner