Rezension über:

Mark Hengerer: Kaiserhof und Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Eine Mikrogeschichte der Macht in der Vormoderne (= Historische Kulturwissenschaft; Bd. 3), Konstanz: UVK 2004, 690 S., ISBN 978-3-89669-694-6, EUR 59,00
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Rezension von:
Andreas Pečar
UniversitÀt Rostock
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Pečar: Rezension von: Mark Hengerer: Kaiserhof und Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Eine Mikrogeschichte der Macht in der Vormoderne, Konstanz: UVK 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 9 [15.09.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/09/5554.html


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Mark Hengerer: Kaiserhof und Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts

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Mark Hengerers Untersuchung beginnt mit einer bemerkenswerten Beobachtung. Die stetig steigende Zahl von Amtsträgern am Kaiserhof, insbesondere von Kämmerern und Geheimen Räten, wurde bislang stets als Wachstum des kaiserlichen Hofstaats und damit als Zeichen steigender Attraktivität des Kaiserhofes gedeutet. Hengerer weist nun zurecht darauf hin, dass bereits im 16. Jahrhundert ähnlich viele Adlige an den Kaiserhof gebunden waren, die allerdings als sogenannte "Diener ohne Amt" keine formelle Mitgliedschaft beanspruchen konnten. Nicht das Wachstum des kaiserlichen Hofes selbst ist daher der entscheidende Unterschied, sondern der Unterschied zwischen loser Hofbindung einerseits und formaler Mitgliedschaft im Hofstaat andererseits. Wie sich dieser Wandlungsprozess im Einzelnen vollzog und wie er zu deuten ist, steht im Mittelpunkt von Hengerers Doktorarbeit, die nun als Buch vorliegt. Dabei liegt der zeitliche Schwerpunkt seiner Untersuchung in der Regierungszeit Ferdinands II., Ferdinands III. und den ersten Regierungsjahren Leopolds I. (bis 1665).

Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Zunächst werden die einzelnen Hofämter in ihrer unterschiedlichen Bedeutung vorgestellt. Dabei zeigt sich, dass insbesondere die Ämter des Kämmerers und des Geheimen Rates dazu dienten, eine immer größere Zahl von Adligen in den kaiserlichen Hofstaat aufzunehmen, ohne dass jedoch damit eine Bezahlung sichergestellt war oder eine ständige Präsenz am Kaiserhof verlangt wurde. Wie viele Kämmerer ihren Dienst tatsächlich versahen, wie hoch die Mobilität und die Fluktuation unter den einzelnen Amtsinhabern war, kommt gleichfalls zur Sprache. In einem zweiten Teil wird die Mitgliedschaft im kaiserlichen Hofstaat dann im Einzelnen beschrieben. Der Modus der Ämtervergabe sowie die mit der Übernahme von kaiserlichen Ämtern einhergehenden Verpflichtungen werden ausführlich dargestellt. Ein zweiter wichtiger Aspekt sind die zeremoniellen Normen am Kaiserhof, die unter anderem auch den Zugang zum Kaiser regelten. Ebenfalls wird erwähnt, wie sich die Normen bei den Mitgliedern des Hofstaates durchsetzen ließen und welche Konflikte hierbei öfters zu beobachten sind. Weitere Formen der Interaktion - zum Beispiel gemeinsame Mahlzeiten als Mittel der Kontaktpflege - finden sich hier gleichfalls ausführlich dargestellt. Im dritten Teil schließlich wird exemplarisch anhand verschiedener Adliger, die am Kaiserhof Karriere machten und in oberste Hofämter vorstoßen konnten, insbesondere durch die intensive Auswertung von Briefwechseln aufgezeigt, ob sich deren soziale Kontakte und damit deren Einflussmöglichkeiten parallel zur Hofkarriere steigerten oder nicht - dabei kommt Hengerer je nach Amt und Person zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen. Mit einem Überblick über die Vergabepraxis der kaiserlichen Ressourcen am Hof - insbesondere Stellenbesetzungen, Gnaden- und Geldzuweisungen - schließt die Untersuchung.

Die Arbeit ist stark beeinflusst von der Systemtheorie, insbesondere von Niklas Luhmanns Überlegungen zur Organisationstheorie. Dazu sind zwei Bemerkungen zu machen. Zum einen ist die Sprache der Untersuchung von systemtheoretischen Einflüssen nicht gänzlich frei, obwohl Hengerer den "Jargon" ausdrücklich zu vermeiden sucht (26). Nicht immer ist ihm dies gelungen. So bleibt wohl mancher Leser ratlos, wenn von "Relationierung der Relationen" (26), von "organisationaler Gegenmacht" (26), von "schwellenorientierter Differenzierung" (111) oder von "Systemstellen" (278) die Rede ist.

Zum anderen sollte die Sprache jedoch niemanden davon abhalten, den interpretatorischen Gewinn zur Kenntnis zu nehmen, den die Nutzung der Systemtheorie bereithält: die umfassende Charakterisierung des kaiserlichen Hofstaates als "Organisation", das heißt als Einheit, die wesentlich durch formale Mitgliedschaft ihrer Teilnehmer geregelt ist. Dass der kaiserliche Hofstaat sich im 17. Jahrhundert zunehmend als Organisation etablierte und damit die Phase des Hofes als reinem Interaktionsmittelpunkt hinter sich ließ, sei Hengerer zufolge das eigentlich bemerkenswerte Phänomen im 17. Jahrhundert.

Diese bedeutsame Feststellung kann hier nicht in Gänze diskutiert werden. Es soll allerdings darauf hingewiesen werden, dass Hengerer selbst die zahlreichen Felder betont, in denen der Interaktion innerhalb des Hofstaates nach wie vor großer - vielleicht sogar bestimmender - Einfluss zukam. So gab es zwar formalisierte Verfahren der Entscheidungsfindung, doch wurden diese häufig nicht eingehalten und waren für Außenstehende oft völlig intransparent (303). Der Erfolg von Verfahren blieb daher, selbst wenn es sich um schriftliche Verfahren handelte, weitgehend auf persönliche Interaktion angewiesen. Generell war mündliche Kommunikation erfolgversprechender und damit bedeutsamer als schriftliche (318). Zwar wurde die Zugehörigkeit zum Hofstaat durch die Bekleidung kaiserlicher Ämter geregelt. Von diesen Ämtern waren jedoch viele nicht besoldet, bei anderen Ämtern wurde die Besoldung nicht regelmäßig und pünktlich ausbezahlt, eine Trennung von Amtsvermögen und Privatvermögen war daher nicht gegeben. In dieses Bild fügt sich auch, dass die Annahme von Schmiergeldern zwar in den Instruktionen des Hofstaates ausdrücklich untersagt wurde, gleichwohl "Ehrengaben" (308) weiterhin gängige und auch von den Kaisern selbst meist akzeptierte Praxis blieben. Zudem war Mitgliedschaft zwar die formale Voraussetzung für die Zugehörigkeit zum Hofstaat, reichte zur Durchsetzung persönlicher Ziele gleichwohl nicht aus. Hierfür ging Anwesenheit nach wie vor über Mitgliedschaft. Ferner leitete sich der politische Einfluss beim Kaiser nicht notwendigerweise aus dem bekleideten Amt ab, wie mehrere auswärtige Gesandte am Kaiserhof wiederholt in ihren Gesandtschaftsberichten feststellten. Und dass die Qualität der Mitgliedschaft zum Kaiserhof auch im 17. Jahrhundert prekär blieb, lässt sich schließlich daran ablesen, dass es zwar eine formalisierte Aufnahme in den Hofstaat gab, ein formal geregeltes Verfahren für ein Ausscheiden aus dem Hofstaat hingegen nicht existierte (177 f.).

Mit dieser Auflistung soll nicht in Frage gestellt werden, dass der Kaiserhof eine vormoderne Organisation und Mitgliedschaft im Hofstaat eine bedeutsame Kategorie der Zugehörigkeit zum Hof darstellte. Wohl aber bleibt zu fragen, ob die formale Ordnung der Organisation und das Kriterium der Mitgliedschaft auch die höfische Kommunikation bereits wesentlich dominierten. Oder war der Kaiserhof nicht vielmehr auch noch im 17. und 18. Jahrhundert von persönlicher Interaktion weit stärker geprägt? Diese wichtige Diskussion angestoßen und mit einer äußerst materialreichen und interpretationsstarken Untersuchung vorangetrieben zu haben ist Mark Hengerers Verdienst. Für die Hofforschung ebenso wie für die Forschung zur Habsburgermonarchie im 17. Jahrhundert ist seine Darstellung über den Kaiserhof gleichermaßen unverzichtbar.

Andreas Pečar