Winfried Schmitz: Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland (= KLIO. Beiträge zur Alten Geschichte. Beihefte. Neue Folge; Bd. 7), Berlin: Akademie Verlag 2004, 558 S., ISBN 978-3-05-004017-2, EUR 69,80
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Jonas Grethlein: Das Geschichtsbild der Ilias. Eine Untersuchung aus phänomenologischer und narratologischer Perspektive, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006
Berit Hildebrandt: Damos und Basileus. Überlegungen zu den Sozialstrukturen in den Dunklen Jahrhunderten Griechenlands, München: Utz Verlag 2007
Hélène Ménard / Rosa Plana-Mallart: Contacts de cultures, constructions identitaires et stéréotypesdans l'espace méditerranéenn antique, Montpellier: Presses universitaires de la Méditerranée 2013
Winfried Schmitz: Die griechische Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte der archaischen und klassischen Zeit, Heidelberg: Verlag Antike 2014
Wolfgang Blösel / Winfried Schmitz / Gunnar Seelantag u.a. (Hgg.): Grenzen politischer Partizipation im klassischen Griechenland, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014
Das Buch stellt die überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift aus dem Jahr 1994 dar. Grundzüge der Argumentation wurden schon in der Historischen Zeitschrift 268 (1999), 561-597 vorgetragen. Schmitz verfolgt konsequent einen strukturgeschichtlichen Ansatz. Aus Ergebnissen der Volkskunde und der Agrar- und Siedlungssoziologie gewinnt er per analogiam feste Strukturen für die archaische griechische Welt. Das schlägt sich in klaren Begriffsfestlegungen nicht bloß von Oikos und Polis, sondern zudem von "Dorfgemeinschaft" und "Gemeinde", aber auch von Adel und Bauer nieder. Mit dieser systematischen wird eine historische Perspektive verbunden, deren Ablaufschema ebenfalls aus der Analogie europäisch-mittelalterlicher und neuzeitlicher Gesellschaften abgeleitet wird. Mit diesen Mitteln geht Schmitz der Frage nach, was zwischen den als klar umschreibbar angenommenen Einheiten von Oikos und Polis als "intermediäre soziale Einrichtung" anzusetzen ist. Die Frage ist deshalb notwendig, aber auch möglich geworden, weil die in der älteren Forschung als Untergliederungen eines schon existierenden Stammstaates erscheinenden Einheiten Genos, Phyle und Phratrie inzwischen fast allgemein als Produkt der Polis angesehen werden. An ihrer Stelle lokalisiert Schmitz bäuerliche Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft. Der historische Wandel von Oikos und Dorf zur Polis wird in Anlehnung an Hans Achim Schuberts Modell der Nachbarbeziehungen als ein Gegenspiel von sich zulasten der älteren Verwandtschaftsbeziehungen verdichtenden Nachbarschaftsbeziehungen und der Ausbildung überlokaler Sozialbeziehungen gesehen. Diesen Ablauf zeichnet Schmitz in fünf chronologisch angelegten Abschnitten nach.
Im zweiten Abschnitt, der auf die eben angedeuteten methodischen Überlegungen folgt, wird die Welt des Bauern (Hesiod) von der des Adels (Homer) im 8. und 7. Jahrhundert getrennt und analysiert. Schmitz scheint das Ausmaß der sozialen Differenzierung in den archaischen griechischen politisch-sozialen Einheiten für weitgehend konstant zu halten. Er geht dabei einerseits von dem in der volkskundlichen Literatur vorgefundenen Adelsbegriff aus, stützt sich aber andererseits wesentlich auf den Philologen J. Latacz. Die jüngeren sozialhistorischen Untersuchungen, in die anthropologisch-ethnologische Forschungsergebnisse mit ihrer deutlichen Relativierung des Adelsbegriffes, aber auch mit einer deutlichen Differenzierung bäuerlicher Gesellschaften eingegangen sind, werden kaum diskutiert. Parallel dazu wird ein politisch-sozialer Rahmen, der Adel und Bauern vor dem Entstehen der Polis zusammengehalten haben muss, vorausgesetzt.
Vor allem über Hesiod wird die bäuerliche Welt als eine traditionale Gesellschaft, beruhend auf Subsistenzwirtschaft, aber mit interner sozialer Gliederung nach Vollbauern, Gesinde ('dmos'), Häusler ('thes'), Handwerkern und Bettlern beschrieben. Ihr Zentrum ist die soziale Ordnung des Dorfes, ein wesentliches Mittel des Zusammenhalts die "bäuerliche Sondersprache", in der Lebensweisheiten in Form von Sprichwörtern, Sentenzen und Arbeitsanweisungen weitergegeben werden. Für das Zusammenleben wichtiger als die Verwandtschaft ist der Nachbar ('geiton'), zu dem man in symmetrischer von Gleich zu Gleich oder asymmetrischer Beziehung, also in Abhängigkeit in Form von Bittleihe und Bittarbeit, stehen kann. Als typisch bäuerliches Verhalten wird die Forderung nach Solidarität (unter Nachbarn), die Autorität des Mannes im Haus, aber auch die Ablehnung öffentlicher Geselligkeit und das Sanktionieren von Fehlverhalten diagnostiziert.
Stellen diese Beobachtungen in Schärfe und Differenzierung ohne Zweifel ein völlig neues Kapitel sozialhistorischer Analyse dar, so wirkt demgegenüber das vor allem aus den homerischen Epen abgeleitete Bild des getrennt von den Bauern lebenden Adels weithin traditionell. Die Verwandtschaft, Freundschaft und Hetairie seien auch deswegen wichtiger als die Nachbarschaft gewesen, weil das adlige Haus autark war. Dieser Gegensatz wird in solcher Schärfe in der jüngeren (historischen) Literatur kaum mehr vertreten und führt zu Unstimmigkeiten etwa der Art, dass dieselbe Textstelle sowohl für bäuerliche als auch für adlige Verhaltensformen ausgewertet wird. Ein Problem bleibt auch die Frage, welche Reichweite der Demos-Begriff bei späteren archaischen Autoren, etwa bei Solon, aufweist. Wichtig bleiben jedoch die Indizien, dass sich aus Homer und Hesiod kein Konglomerat aus nebeneinander stehenden Oikoi ableiten lässt.
Im dritten Abschnitt wird die Dichotomie 'Adel - Bauern' auch in der Polis an den gesetzlichen Regelungen zu Nachbarschaft, Bestattung, Arbeit, hausväterlicher Gewalt und Popularklage in der archaischen Polis des 6. Jahrhunderts, besonders in Athen, festzumachen versucht. Die Interessen der adligen, durch kompetitive Verhaltensformen gekennzeichneten Schicht seien nicht primär auf die Polis ausgerichtet gewesen. Im Gegensatz zu ihr hätten durch Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft sowie ein einheitliches Normensystem geprägte Bauern gestanden, die auch durch die prekäre wirtschaftliche Situation zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung gezwungen gewesen seien. In dieser Konfliktsituation habe Solon mithilfe von gesetztem Recht, gestützt auf die Werte der gemeinschaftlich-bäuerlichen Orientierung, die beiden Ordnungen zusammengeführt und so eine neue "politische" Ordnung ermöglicht. Es sei hier nur auf zwei Beispiele der Argumentation verwiesen, in denen deren Bezug zu den die Arbeit dominierenden volkskundlichen Analogien durchschlägt. Der materielle Aufwand bei Bestattungen sei deswegen begrenzt worden, um den bäuerlichen Betrieb nicht zu gefährden. Oder: Die zur Arbeit verpflichtende Bestimmung spiegle das Bedürfnis der Bauern, nicht wegen einer selbst verschuldeten Bedürftigkeit zur Nachbarschaftshilfe herangezogen zu werden. Auf solche Weise habe Solon die Bauern über die Einhaltung einer dörflichen Ordnung hinaus auf eine umfassende Ordnung der Polis verpflichtet.
Im vierten, mit 150 Seiten umfangreichsten Abschnitt wird die Verbindung zwischen den bäuerlichen Normen und den gesetzlichen Regelungen der Polis über den Nachweis der für die bäuerliche Welt typischen "Rügebräuche und Schandstrafen" hergestellt. Schmitz isoliert in überzeugender Weise derartige Textteile und kann dabei nicht nur die so formulierten Präskriptionen beziehungsweise Delikte, sondern auch die zumindest potenziellen Sanktionen wie Gespött und Gerede, Einschlagen der Tür, die Schandparade oder Wüstungen und deren Anlässe nachweisen. Hier wird wie auch sonst Frauenfeindlichkeit mit den Forderungen der bäuerlichen Welt in engen Zusammenhang gebracht. Das Rechtssystem der Polis drängte Rügebrauch und Rache zurück. In der Stadt, so Schmitz wiederum mit Blick auf die volkskundliche Analogie, könnten nur sekundäre Formen davon beobachtet werden.
Der fünfte Abschnitt ist dem Nachweis gewidmet, dass im 5. und 4. Jahrhundert die "traditionale Ordnung", das heißt die alten Formen der Nachbarschaft, aufgegeben wurde. Hausväterliche Autorität gegenüber Frauen und Kindern sowie Rügebräuche seien in den stabilen politischen Einheiten aufgrund der städtischen Mentalität und intellektuellen Aufgeklärtheit verschwunden. Im klassischen Athen habe es keine von Nachbarschaft getragene Dorfgemeinschaft mehr gegeben. Der Begriff 'geiton' sei zur Bezeichnung der örtlichen Nähe gleichermaßen für den Zugehörigen und den Feind geworden. Die Identität der Dorfgemeinschaft habe sich weniger über die Nachbarschaft als den politischen Begriff des Demoten gebildet. Die Entleerung dieser Elemente des bäuerlichen Lebens äußere sich auch in der nun aufkommenden Idealisierung des Bauern.
Im knappen letzten und sechsten Abschnitt wird unter dem Titel "Die Kontrolle der sozialen Kontrolle" eine Zusammenfassung der Argumente geliefert, aber auch eine Präzisierung der Grundthese angeboten. Als Faktoren, die die Intensität bäuerlicher Nachbarschaft steigern, werden genannt: Unsicherheit in der Subsistenz, einfache Sozialstruktur sowie abgeschlossene und geschlossene Siedlung. Eine Reduktion der Intensität ergibt sich über eine durch Geldwirtschaft und den Import des gegenüber der Gerste höherwertigen Weizens (so in Athen) verbesserte Subsistenzlage. Das eingangs monierte Manko der Übernahme für die Argumentation wesentlicher Begriffe wie Adel, 'einfache Gesellschaft', aber auch Bauer und Polis wird auch in diesem Kontext sichtbar. Ungeachtet dessen bleibt, dass die umfangreiche, von großer Textkenntnis und Belesenheit zeugende Arbeit durch ihre Fokussierung auf 'die Bauern' zweifellos neue Perspektiven und Fragen eröffnet und durch ihre methodische Geschlossenheit überzeugt. Sie sollte künftig in jeder, nicht bloß in sozialhistorischen Untersuchungen zur Archaik berücksichtigt werden.
Christoph Ulf