Manfred Rasch / Gerald D. Feldman (Hgg.): August Thyssen und Hugo Stinnes. Ein Briefwechsel 1898-1922. Bearbeitet und annotiert von Vera Schmidt (= Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte; Bd. 10), München: C.H.Beck 2003, 829 S., 32 Abb., ISBN 978-3-406-49637-0, EUR 39,90
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Gerald D. Feldman / Oliver Rathkolb / Theodor Venus u.a. (Hgg.): Österreichische Banken und Sparkassen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit, München: C.H.Beck 2006
Die Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg war eine Phase der Konzernbildung in den Schlüsselbranchen der europäischen Wirtschaft. Vor allem während des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegsinflation entstanden nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Niederlanden, in Österreich und der Ersten Tschechoslowakischen Republik große Industriekonglomerate. Industriekapitäne und "Könige der Inflation" wie August Thyssen, Hugo Stinnes, aber auch Camillo Castiglioni, Julius und Ignaz Petschek stehen für diese Entwicklung. Was waren die Motive für das unternehmerische Handeln dieser Konzernherren, was waren ihre Erwartungen, nach welchen Kriterien richtete sich ihr unternehmerisches Kalkül? Diese Fragen hat die unternehmenshistorische Forschung bis heute nicht zufriedenstellend klären können. Viele Versuche, darauf Antworten zu geben, scheiterten oft am Mangel an ausreichendem Quellenmaterial.
Um so mehr ist es zu begrüßen, dass die Gesellschaft für Unternehmensgeschichte mit Manfred Rasch und Gerald D. Feldman zwei kompetente Kenner der deutschen Schwerindustrie dafür gewinnen konnte, einen höchst aufschlussreichen Schriftwechsel zwischen Hugo Stinnes und August Thyssen zu edieren. Stinnes und Thyssen zählten fraglos zu den bedeutendsten Großindustriellen des Kaiserreiches und der frühen Weimarer Republik. Der nun vorliegende Briefwechsel zwischen Stinnes und Thyssen aus dem Zeitraum von 1898-1922 gewährt Einblicke in das Handlungskalkül und die Strategiebildung der beiden "Konzernschmiede" vor allem am Ende des Kaiserreiches und während des Ersten Weltkriegs, mit Einschränkungen für die Anfangsjahre der ersten deutschen Demokratie.
Eingeleitet wird der vorliegende Band durch zwei biografischen Skizzen zu Hugo Stinnes und August Thyssen, welche die beiden Herausgeber verfasst haben. Vera Schmidt, die den Briefwechsel zwischen den beiden Industriellen bearbeitet und transkribiert hat, führt den Leser mit einigen Benutzungshinweisen in die Lektüre der Dokumente ein. Ein Blick auf die intensive Korrespondenz zwischen Stinnes und Thyssen während des Kaiserreiches offenbart zum einen das große Maß an Offenheit der beiden Konzernherren in ihrem Meinungsaustausch über Geschäftstransaktionen, zum anderen den freundschaftlich-kollegialen Umgangston und ihre gemeinsamen unternehmensstrategischen Überlegungen und Planspiele. Ein weiteres Merkmal, zugleich häufig Thema des Briefwechsels, war die große Skepsis, ja sogar die Ablehnung der geschäftspolitischen Aktivitäten der Berliner Großbanken bei ihrer Expansion an die "Ruhr". Forschungsergebnisse zur Rolle der Kreditinstitute in der westdeutschen Schwerindustrie des Kaiserreiches werden durch die nun vorliegenden Dokumente bestätigt.
Leider ist der erhaltene Briefwechsel zwischen Stinnes und Thyssen für die Zeit des Ersten Weltkriegs und für die Frühphase der Weimarer Republik längst nicht mehr so dicht und damit so aussagekräftig wie für die Jahre davor. Dennoch zeigt er für die Kriegsjahre eine zunehmende Politisierung des Gedankenaustausches, für die Nachkriegsinflation das Bemühen, sich mit den gänzlich anderen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen zu arrangieren beziehungsweise die Geschäftspolitik der jeweiligen Konzernunternehmen den neuen Verhältnissen anzupassen. Aufschlüsse zur Konzernbildungsstrategie eines Hugo Stinnes als "König der Inflation" lassen sich in den vorliegenden Briefen an Thyssen jedoch kaum entnehmen. Vielleicht waren dieses Gedanken und Pläne, die Stinnes dem sich langsam in das Privatleben zurückziehenden August Thyssen auch nicht mitteilen wollte.
Die vorliegende Quellenedition ist für alle Forscher, die sich mit der Schwerindustrie an der Ruhr und ihrer Konzernbildung beschäftigen, ebenso eine Fundgrube für neue Einsichten wie für diejenigen, die nach dem Habitus, dem kulturellen Kapital und der sozialen Interaktion von herausragenden Industriellen fragen.
Harald Wixforth