Thomas Laqueur: Solitary sex. A Cultural History of Masturbation, New York: Zone Books 2003, 501 S., ISBN 978-1-890951-32-0, GBP 21,95
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Ist Masturbation noch immer ein Tabu-Thema? Für den angloamerikanischen Kontext scheint dies, so der amerikanische Historiker Thomas Laqueur, zu stimmen. Ob das allerdings in diesem Maße auch für den europäischen Kontext zutrifft, ist zu bezweifeln. Denn in den letzten Jahren sind hier eine Vielzahl von Arbeiten zur Geschichte der Masturbation erschienen. [1] Kaum ein Aspekt blieb unerforscht. Und nun das Werk von Laqueur, das uns als erste Kulturgeschichte der Masturbation angekündigt wird. Den in der Geschichte der Sexualität Bewanderten bringt es leider nur wenig Neues; allen anderen mag es einen soliden Überblick liefern und teilweise sehr detaillierte Einblicke gewähren.
Das Kernthema, das Laqueur untersucht, ist die Entstehung der Masturbation zu Beginn des 18. Jahrhunderts oder genauer: "in or around 1712" (13). Das waren die Jahre, in denen anonym in England das Werk "Onania; or, The Heinous Sin of Self Pollution [...]" erschien. Warum gerade zu Beginn des 18. Jahrhundert die Onanie zu einem Thema wurde, das in der Folgezeit zahlreiche Autoren beschäftigten sollte, ist eine der zentralen Fragen, denen Laqueur nachgeht.
Nach einer Einführung gibt Laqueur im zweiten Kapitel auf knapp 60 Seiten (25-82) einen dichten Überblick der Diskussion über Masturbation von der "Onania" des frühen 18. Jahrhunderts bis zum späten 20. Jahrhundert. Insbesondere geht er hier auf die enorme Erfolgs- und Verbreitungsgeschichte der "Onania" ein, die neben der Diagnose auch gleich die Therapie bereit hielt. Über Tissots "L'Onanisme" von 1760 und Rousseaus Bildungsroman "Emile" von 1762 führt der Weg in die Welt der Literatur des 18. Jahrhunderts. Damit verknüpfte sich der Strang einer medizinischen Betrachtungsweise mit dem einer moralischen, philosophischen und pädagogischen Argumentation. Auf wenigen Seiten wird dann der Diskurs über Masturbation im 19. und frühen 20. Jahrhundert abgehandelt, um dann zum Diskurs über "Selbstbefleckung" unter den deutschen Philanthropen und Pädagogen (Zimmermann, Salzmann und Campe) sowie Philosophen (Kant) der Aufklärung zurückzukehren. Anschließend nimmt Laqueur das 20. Jahrhundert in den Blick: Angefangen bei den Sexualwissenschaftlern der Jahrhundertwende, die erstmals die körperlichen Folgen des Masturbierens in Frage stellten, über Freud, der Masturbation zu einem normalen kindlichen Durchgangsstadium zur Sexualität des Erwachsenen erklärte, hin zu den amerikanischen Sexologen Kinsey - der die Öffentlichkeit durch die Erkenntnis schockierte, dass Masturbation unter Erwachsenen weit verbreitet war - und Masters und Johnson. Von dort aus führt der Weg, ein wenig atemlos, über die Frauenbewegung mit ihrem Schlüsselwerk "Our Bodies, Ourselves" von 1971, das die Kritik an der Freud'schen Orgasmus-Theorie einleitete, zu Beate Uhse und ihren Sextoys sowie zu Nancy Fridays Büchern über weibliche Sexualfantasien. Am Schluss steht die Masturbation in der Schwulenbewegung mit den entsprechenden Web-Seiten.
Merkwürdig ist, dass Laqueur dem 19. Jahrhundert mit seinen radikalen Therapien gegen das Masturbieren so wenig Aufmerksamkeit schenkt - andererseits ist dieser Aspekt ja auch schon zur Genüge bekannt. Interessant ist - und dies soll hier ausdrücklich positiv hervorgehoben werden -, dass hier ein Historiker den Blick bis zum Ende des 20. Jahrhunderts lenkt.
Im dritten Kapitel untersucht Laqueur das Masturbieren vor der "Onania", wobei er bis in die Antike zurückgeht. Auf den 100 Seiten, die dieses Kapitel umfasst (83-183), lässt Laqueur keinen Stein unumgedreht, um seinen Leserinnen und Lesern zu zeigen, dass in der Vergangenheit zwar ebenfalls masturbiert wurde, dass dieser Praktik aber keine besondere Beachtung geschenkt wurde, weder in der Antike noch im Christentum oder im Judentum, nicht in Japan (das merkwürdigerweise immer wieder einmal unvermittelt auftaucht), nicht im europäischen Mittelalter oder in der Renaissance. Masturbation wurde zwar immer wieder moralisch verurteilt, insbesondere im Christentum, aber eine der Onanie-Hysterie des 18. Jahrhunderts vergleichbare Reaktion findet sich nicht.
Das vierte Kapitel (185-245) fragt, was es denn seit dem 18. Jahrhundert war, dass das Masturbieren in den Augen der Zeitgenossen zu einem Problem werden ließ. Es ging nicht darum, dass die Zeitgenossen vermuteten, die Menschen würden öfters masturbieren. Es war auch nicht so, dass man den Samenverlust als ein neues Problem wahrnahm. Sondern die Masturbation wurde, wie Laqueur sehr schön herausarbeitet, im Wesentlichen aus drei Gründen verurteilt: zum einen, weil sie im Gegensatz zu allen anderen Formen von Sexualität im Verborgenen, im Privaten ausgeübt wurde; zum Zweiten, weil sie ein Akt der Fantasie war. Und zum Dritten sah man in der Masturbation eine Sucht, deren Verlangen nicht zu stillen war. Die Privatheit des Aktes, die Imagination und die Unersättlichkeit waren alles drei Dinge, die zutiefst dem Gedankengut der Aufklärung und ihrer Idee der Selbstbeherrschung widersprachen. Die Geschichte der Masturbation ist dabei von Paradoxa umgeben. Obgleich es eine im Verborgenen ausgeübte Sünde war, musste das Masturbieren erst erlernt und damit gelehrt werden. Es musste zudem nicht nur die sündige Handlung selbst gelernt werden, sondern auch, dass diese Handlung eine Sünde war, die schwer bestraft wurde.
Das fünfte Kapitel (247-358) verfolgt die Frage, warum Masturbation im 18. Jahrhundert zu einem Problem wurde, das derartige Aufmerksamkeit auf sich zog. Warum begannen sich so viele Menschen für eine sexuelle Handlungsweise zu schämen und Schuldgefühle zu entwickeln? Wie eine Vielzahl von abgedruckten Illustrationen zeigen, war der einsame Akt der Masturbation mit dem einsamen Akt des Lesens verbunden. Hier entwickelt Laqueur seine zweite Kernthese, dass nämlich Masturbation ein moralisches Problem der modernen Identität ist.
Das letzte Kapitel (359-420) beschäftigt sich mit dem Bedeutungswandel der Masturbation im 20. Jahrhundert. Freud spielte dabei - was wenig überrascht - ein wichtige Rolle: Er erklärte die Masturbation zu einem Durchgangsstadium auf dem Weg zur Selbstwerdung. Insbesondere für Mädchen und Frauen lagen hier Fallstricke, denn der klitorale Orgasmus musste mit dem vaginalen überwunden werden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfuhr die Masturbation einen erneuten Bedeutungswandel. Zunächst in den 1960er- und 70er-Jahren in der Frauenbewegung und danach in der Schwulen- und Lesbenbewegung wird Masturbation zu einem Akt der Befreiung von der männlichen, penetrierenden Sexualität. Masturbation erschien nun als Zeichen von Unabhängigkeit und Selbstliebe.
Wie Laqueur in seiner Einleitung feststellt, hat das Schreiben dieses Buches nicht viel Zeit in Anspruch genommen. Vielleicht hätte sich der Autor doch ein wenig mehr Zeit lassen sollen oder zumindest einen Lektor beauftragen sollen, ermüdende Redundanzen zu kürzen. Es hätte das Buch lesbarer und weniger voluminös gemacht. So muss man sich schon sehr für das Thema interessieren, um sich durch die gut 400 Seiten Text durchzubeißen.
Als Fazit bleibt, dass für diejenigen, die wenig über die Geschichte der Masturbation wissen, das zweite und sechste Kapitel informativ sind. Und wenn man noch die Kapitel vier und fünf gelesen hat, dann weiß man so ziemlich alles, was für die Geschichte der Masturbation von Bedeutung ist. Letztlich steckt in dem Buch jedoch wenig Neues. Von Laqueur, der mit seinem - inzwischen - äußerst umstrittenen Buch "Making Sex" so viel Aufmerksamkeit erregt hatte, hatte ich mir mehr erwartet. Gut, wir wissen jetzt, wer der Autor der Onania gewesen sein soll (der Chirurg John Marten). Aber wie wichtig ist dies, um das Konstrukt der Masturbation im 18. Jahrhundert zu verstehen?
Anmerkung:
[1] Siehe unter anderem die Arbeiten von Jean Stenger und Anne van Neck, Karl Heinz Bloch, Lesley A. Hall, Karl Braun und Michael Stolberg, um nur die wichtigsten Autoren zu nennen.
Lutz Sauerteig