Karel C. Berkhoff: Harvest of Despair. Life and Death in Ukraine Under Nazi Rule, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2004, XIII + 463 S., 22 fig., ISBN 978-0-674-01313-1, GBP 19,95
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Über die Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg zu schreiben ist zweifellos ein schwieriges Unterfangen, ein schwierigeres vielleicht als über die meisten anderen Länder Europas. Denn die Ukraine war nicht nur Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen unterschiedlicher Untergrundgruppen (Organisation Ukrainischer Nationalisten OUN, Ukrainische Aufstandsarmee UPA, aber auch der Sowjetpartisanen und der polnischen Armia Krajowa). Sie war zudem erst knapp zwei Jahre vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion infolge des Hitler-Stalin-Paktes aus dem bis dato unter polnischer Herrschaft stehenden westlichen Landesteil und der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik zu einem einheitlichen Territorium zusammengefügt worden.
Der niederländische Historiker Karel Berkhoff stellt sich dieser Aufgabe und macht bereits mit dem Titel des vorliegenden Buches, der deutliche Anleihen an den Klassiker über die große Hungersnot in der Ukraine nimmt [1], deutlich, dass er die Katastrophe der deutschen Besatzung in der Ukraine nicht losgelöst von der sowjetischen Vorgeschichte sieht, sondern eingebettet in eine Kontinuität totalitärer Herrschaftserfahrung. In der Tat verweist der dem Buch zugrunde liegende Narrativ immer wieder auf die Schrecken des Stalinismus, seine Auswirkungen auf die ukrainische Gesellschaft und die Bedeutung, die er für das Verhalten der Bevölkerung gegenüber den deutschen Besatzern hatte. Und die Bevölkerung ist es, die im Mittelpunkt des Buches steht. Während die Politik des Vernichtungskrieges und der nationalsozialistischen Okkupation nur in geraffter Form dargestellt wird, lässt der Autor vor der Folie dieser Ereignisse immer wieder die Leidtragenden zu Wort kommen. Gestützt nicht nur auf reichhaltiges deutsch-, polnisch-, russisch- und ukrainischsprachiges Archivmaterial, sondern auch auf Memoiren und in Zeitzeugeninterviews selbst gesammelten Erinnerungen, entsteht ein anschauliches Bild des täglichen Lebens der Besatzungs- und Kriegsgesellschaft. Zu deren Verständnis verweist Berkhoff ein ums andere Mal auf die traumatischen Erfahrungen der Vorkriegszeit, namentlich auf die große Hungersnot 1932/33 und den Großen Terror, wodurch er überzeugend die anfängliche, beinahe allgemeine Freude über den deutschen Einmarsch ebenso erklären kann wie auch die Tatsache, dass sich vielfach sogar harsche Maßnahmen der Besatzer in den Augen der Bevölkerung noch vergleichsweise milde ausnahmen. Letzteres lag jedoch nicht daran, dass die Deutschen sich besonders wohlwollend gegenüber der Bevölkerung gezeigt hätten, sondern daran, dass ihre mangelnde Landeskenntnis den Einheimischen mehr Möglichkeiten gab, sich durch das Unterlaufen der Besatzungspolitik Verbesserungen zu verschaffen, als dies unter den landeskundigen Sowjets der Fall gewesen war.
Dass die deutsche Besatzungspolitik indes den Terror der Sowjets teilweise weit in den Schatten stellte, zeigt Berkhoff vor allem in den Kapiteln über die Vernichtung der ukrainischen Juden und Roma sowie über die Hungerpolitik gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen und den Großstädten, in erster Linie gegenüber Kiev, die er in ihren dramatischen Auswirkungen wiederum anschaulich aus der Sicht der Betroffenen schildert. Allerdings hätte man sich bezüglich des letzten Punktes eine genauere Analyse der deutschen Motive gewünscht, die der Autor einmal als gezielte Tötungsabsicht (90), an anderer Stelle als Mischung aus rücksichtslosem Machiavellismus (99) und zunehmender Brutalisierung (113) darstellt. Auch die Parallelisierung des jüdischen Holocaust und der Vernichtung der Roma (59) erstaunt. Zwar wurden auch zehntausende von Sinti und Roma Opfer des nationalsozialistischen Mordapparats, aber anders als gegenüber den Juden verfolgten die Deutschen bezüglich der "Zigeuner" keine einheitliche, auf deren vollständige Ausrottung gerichtete Politik. [2]
Es schließen sich Kapitel über Alltagskultur, nationale Identitäten sowie Religion und Volksfrömmigkeit an, in denen der Autor seine Hauptthese erläutert, derzufolge das Leben der Bevölkerungsmehrheit sich in anderen Kategorien abgespielt habe, als sowohl von sowjetischer als auch von deutscher Herrschaft intendiert. Demnach habe der Krieg, im Unterschied zu den bisherigen Annahmen von Historikern, keine entscheidende Veränderung im Verhalten oder in den Wertmaßstäben der Bevölkerung gebracht. Vielmehr sei es den Leuten um schlichte Überlebenstaktiken gegangen, die sie im Krieg an die extreme Situation angepasst hätten, ohne dass dies etwa ihre Einstellung zur Sowjetunion und dem sowjetischen Regime geändert hätte. Dies erklärt auch, warum nicht bereits die Hungerpolitik der Deutschen, sondern erst die Verschleppung der Zwangsarbeiter zu einem starken Anwachsen der Partisanenbewegung führte, wie der Autor im letzten Kapitel seines Buches zeigt: Während die Einwohner gegen die Hungersnot noch versuchen konnten, sich selbst durch illegales Beschaffen von Nahrung oder Flucht aufs Land zu helfen, ließen die "Sauckel-Aktionen" nicht mehr die Möglichkeit eines halbwegs normalen Lebens. Sie zwangen dazu, die normale Lebenswelt zu verlassen, in die Wälder zu gehen und sich den Partisanen anzuschließen, die bis zu diesem Zeitpunkt noch relativ schwach gewesen waren.
Ein letzter Aspekt, auf den Berkhoff in seiner Darstellung eingeht, ist der blutige Konflikt zwischen Teilen der UPA und der polnischen Bevölkerung in Wolhynien und Ostgalizien, der sich 1943 zu einer ganzen Kette von Massakern auswuchs. Die Darstellung dieses Genozids stellt einen der besten Teile der vorliegenden Studie dar, da es gelingt, nicht nur die Abläufe selbst und das Schicksal der Verfolgten darzustellen, sondern auch das gesamte Verhaltensspektrum der ukrainischen Zivilbevölkerung, das von Mordbeteiligung über verständnisvolles oder auch ablehnendes Wegschauen bis hin zu Rettungsversuchen reichte. Insbesondere letztere unterstreichen Berkhoffs These von der begrenzten Tragweite nationaler Zugehörigkeiten für das Verhalten der Bevölkerung der Ukraine.
Insgesamt hat Berkhoff ein gut lesbares und überzeugendes Buch vorgelegt, das sowohl als Einstieg in das Thema geeignet ist, aber auch dem Fachmann noch manches Neue liefert. Überzeugend sind seine Versuche, die Besatzungserfahrungen der Bevölkerung vor dem Hintergrund der sowjetischen Vorgeschichte verständlich zu machen. Dies gilt jedoch nur, wie man einschränkend sagen muss, für den östlichen, den so genannten "altsowjetischen" Teil des Landes, der bereits vor 1939 zur Ukrainischen Sowjetrepublik gehört hat. Für die vorher unter polnischer Herrschaft gewesenen Landesteile im Westen tragen sie nur zum Teil, da natürlich auch die Bewohner dieser Gegenden Erfahrungen mit dem Stalinismus hatten sammeln müssen. Man darf aber bezweifeln, ob diese nach nur anderthalb Jahren so tiefgreifend waren, wie die ihrer Landsleute aus dem Osten, zumal sie den schlimmsten Phasen, der Hungersnot und dem Großen Terror, entgangen waren. Hier wäre es notwendig gewesen, die polnische Zwischenkriegsphase zumindest miteinzubeziehen. Vielleicht wäre dadurch auch die Katastrophe der Massaker in Wolhynien und Ostgalizien besser zu erklären gewesen.
Möglicherweise hätte jedoch eine stärkere Berücksichtigung der ukrainischen Westgebiete und ihrer Vorgeschichte in der Zwischenkriegszeit Umfang und Konzeption dieses ansonsten außerordentlich gelungenen Buches gesprengt.
Anmerkungen:
[1] Robert Conquest: The Harvest of Sorrow: Soviet Collectivization and the Terror-Famine. London [u.a.] 1986.
[2] Siehe z.B. Peter Longerich: Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung. München/Zürich 1998, 571-573.
Alexander Brakel