Christian Hartmann / Johannes Hürter / Ulrike Jureit (Hgg.): Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte. Mit einem Vorwort von Jan Philipp Reemtsma und Horst Möller (= Beck'sche Reihe; 1632), München: C.H.Beck 2005, 230 S., 5 Karten, ISBN 978-3-406-52802-6, EUR 12,90
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Elizabeth Harvey / Johannes Hürter / Maiken Umbach / Andreas Wirsching (eds.): Private Life and Privacy in Nazi Germany, Cambridge: Cambridge University Press 2019
Ulrike Jureit: Erinnern als Überschritt. Reinhart Kosellecks geschichtspolitische Interventionen, Göttingen: Wallstein 2023
Johannes Hürter (Hg.): Notizen aus dem Vernichtungskrieg. Die Ostfront 1941/42 in den Aufzeichnungen des Generals Heinrici, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016
Vor zehn Jahren rief das Hamburger Institut für Sozialforschung mit der Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944" eine der schärfsten zeithistorischen Debatten der Nachkriegszeit hervor. Neben der umstrittenen Machart, die wegen Unsauberkeiten und schwerwiegender Fehler in die Kritik geriet und im Jahr 2000 letztendlich für die Schließung der Ausstellung und ihre vollständige Neukonzeption sorgte, waren es vor allem die zugespitzten Thesen, an denen sich die Diskussion entzündete.
Aber nicht nur in der Öffentlichkeit sorgte die Debatte für eine stärkere Auseinandersetzung mit dem Themenfeld der Wehrmachtsverbrechen, auch in der Wissenschaft wurden zahlreiche diesbezügliche Studien angestoßen, darunter auch ein Großprojekt des Instituts für Zeitgeschichte, einer Institution, die sich durch die deutliche Kritik ihres Direktors Horst Möller früh in Gegnerschaft zur ersten Ausstellung gestellt hatte. Deswegen mag die Entscheidung beider Institute, eine gemeinsame Konferenz aus Anlass der Beendigung der zweiten Ausstellung zu veranstalten, zwar viele überrascht haben, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass nirgendwo innerhalb Deutschlands mehr Forschung zum Thema "Wehrmachtsverbrechen" geleistet wird als in diesen beiden wissenschaftlichen Einrichtungen, erscheint dieser Gedanke keinesfalls abwegig. Die Beiträge dieser Tagung liegen nun in Form eines Sammelbandes vor, der - und das unterscheidet ihn von den meisten anderen Tagungsbänden - durch seinen niedrigen Preis für ein breites Publikum erschwinglich ist.
Eine weitere Seltenheit des Buches besteht in einer klaren Systematik bei der Zusammenstellung der Beiträge, die man bei vielen anderen Sammelbänden leider vermisst. Das vorliegende Werk gliedert sich in acht Rubriken, die nach der Untersuchung der unterschiedlichen Handlungsebenen (Wehrmachtsführung, Befehlshaber, Soldaten und Verbündete) drei Verbrechensfelder (Kooperation zwischen Wehrmacht, SS und Polizei im Holocaust, Ernährungspolitik und Einbeziehung Einheimischer in den deutschen Besatzungsapparat) in den Blick nimmt und mit einem Ausblick auf mögliche weitere Forschungsfelder schließt. Alle Rubriken enthalten jeweils zwei Aufsätze, von denen der erste einen allgemeinen Überblick über die Thematik und den Forschungsstand geben soll, während der zweite einen speziellen Aspekt oder Einzelfall aus dem jeweiligen Themenfeld untersucht. Die Auswahl überzeugt, allerdings fehlt eine systematische Beschäftigung mit der deutschen Partisanenbekämpfung. Neben der Hungerpolitik gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen und der Beteiligung der Wehrmacht an der Judenvernichtung ist die "Tötung von Zivilisten" schon früh als "dritter großer Komplex der rassistischen Vernichtungspolitik" bezeichnet worden. [1] Diese Einschätzung erfuhr in der Folgezeit sowohl Unterstützung [2] als auch heftigen Widerspruch [3]. Dass der Komplex des Partisanenkriegs eine integrale Rolle bei der Untersuchung der deutschen Verbrechen im Krieg gegen die Sowjetunion spielt, zeigt sich auch daran, dass er in zahlreichen Beiträgen des Sammelbandes an mehr oder minder prominenter Stelle auftritt, ohne jedoch jemals ausgiebig problematisiert zu werden. Wichtig wären vor allem Untersuchungen darüber, inwieweit das gewaltsame Vorgehen der Deutschen Ausfluss der Ideologie oder der militärischen Notwendigkeit war. Am stärksten findet diese Frage im Aufsatz von Krisztián Ungváry über die ungarische Armee Beachtung, in dem er zeigen kann, dass die an der Ostfront eingesetzten Verbände sich weder bezüglich der Judenvernichtung noch der Partisanenbekämpfung deutlich von ihren deutschen Verbündeten unterschieden. Ungváry wertet dies als Zeichen für die vorrangige Bedeutung der situativen Radikalisierung gegenüber der Ideologie. Für diese These, die für die Wehrmacht in ähnlicher Form auch von Johannes Hürter in seinem Beitrag über die Generalität und von Christian Hartmann in seinen Untersuchungen über die Beteiligung von Wehrmachtsangehörigen an Kriegs- und NS-Verbrechen vertreten wird, wäre es jedoch notwendig, auch die Gegenseite in den Blick zu nehmen. Solange man das Verhalten der deutschen Truppen in der UdSSR ohne ausreichende Berücksichtigung der Roten Armee und der sowjetischen Partisanen untersucht, wird man als Historiker große Schwierigkeiten bei der Einschätzung der deutschen Motive haben. Denn wie will man beurteilen, ob sich die Wehrmacht einer tatsächlichen organisierten und militärisch effektiven Widerstandsbewegung oder harmlosen Bauern gegenübersah, ohne die sowjetischen Akten zu kennen? Ohne eine solche Kenntnis wird jedoch auch schwerlich einzuschätzen sein, ob es sich bei dem deutschen Vorgehen um eine aus der militärischen Situation entstandene Reaktion auf Anschläge der Partisanen handelte oder es in erster Linie ideologisch motiviert war. Vor solchen, bisher noch weitgehend ausstehenden Untersuchungen [4] ist es übereilt zu behaupten, der Kampf gegen die Partisanen "sei zum Instrument des Terrors gegen die Zivilbevölkerung" geworden, wie Klaus Latzel dies in seinem Beitrag (176) unterstellt.
Die übrigen Felder der Wehrmachtsverbrechen werden dagegen sowohl in den Überblicksartikeln als auch in den Einzelstudien überzeugend dargestellt und eingeordnet. Besonders eindrucksvoll sind dabei neben der schon erwähnten Untersuchung Ungvárys die von Christoph Dieckmann über den Einsatz litauischer Schutzmannschaften zur Judenvernichtung und der Beitrag von Timm C. Richter, der am Beispiel der 6. Armee zeigt, auf welche Weise Divisionskommandeure und Armeebefehlshaber ihren Handlungsspielraum zur Abmilderung oder Verschärfung bestehender Befehle nutzten.
Bedauerlich ist der geringe Raum, der den einzelnen Aufsätzen zur Verfügung steht, an mancher Stelle hätte der Rezensent gerne Genaueres erfahren. So bietet der Band auch eher einen Überblick über momentan untersuchte Fragestellungen denn ausführliche Untersuchungsergebnisse. Einige der Ergebnisse sind zudem weitgehend bekannt, wie die Ausführungen Christian Gerlachs zur Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen, die auch durch die vergleichende Perspektive wenig neue Erkenntnisse verbreitet. Gleiches gilt für die Darstellung Dietrich Eichholtz' zu den wirtschaftlichen Aspekten des Krieges gegen die Sowjetunion.
Insgesamt bietet der Band einen interessanten Überblick über einige der wichtigsten Forschungsfelder zum Thema Wehrmachtsverbrechen, zeigt aber auch die zahlreichen noch bestehenden Defizite und Desiderate auf. Den Herausgebern ist deswegen zuzustimmen, wenn sie in ihrem Vorwort den Untertitel des Buches "Bilanz einer Debatte" indirekt zurückweisen und stattdessen von einer "Zwischenbilanz" (23) sprechen.
Anmerkungen:
[1] Peter Longerich: Der Rußlandfeldzug als rassistischer Vernichtungsfeldzug, in: Hans-Heinrich Nolte (Hg.): "Der Mensch gegen den Menschen". Überlegungen und Forschungen zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941, Hannover 1992, 78-94, hier 91.
[2] Siehe z. B. Hannes Heer: Die Logik des Vernichtungskrieges, in: ders. / Klaus Naumann (Hg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, Hamburg 1995, 104-138; Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944, Hamburg 1999.
[3] Siehe z. B. Klaus Jochen Arnold: Die Wehrmacht und die Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten der Sowjetunion. Kriegführung und Radikalisierung im "Unternehmen Barbarossa", Berlin 2005.
[4] Als Beispiele für die wenigen Ausnahmen siehe Truman Anderson: Incident at Baranivka: German Reprisals and the Soviet Partisan Movement in Ukraine, October-December 1941, in: The Journal of Modern History 71 (1999), 585-623. Alexander Hill: The War Behind the Eastern Front: The Soviet Partisan Movement in North-West Russia, 1941-1944, London 2005.
Alexander Brakel