Rezension über:

Astrid Ley: Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934-1945 (= Kultur der Medizin. Geschichte - Theorie - Ethik; Bd. 11), Frankfurt/M.: Campus 2004, 396 S., ISBN 978-3-593-37465-9, EUR 43,00
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Rezension von:
Gabriele Moser
Institut für Geschichte der Medizin, Ruprecht-Karls Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Florian Steger
Empfohlene Zitierweise:
Gabriele Moser: Rezension von: Astrid Ley: Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934-1945, Frankfurt/M.: Campus 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 1 [15.01.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/01/6079.html


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Astrid Ley: Zwangssterilisation und Ärzteschaft

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Das Thema "Zwangssterilisation im NS-Staat" war in den vergangenen Jahren meist Gegenstand der regionalen oder Stadtgeschichtsschreibung. Seit vor etwa 25 Jahren mit dem "Gesundheitstag" 1980 die breitere Aufarbeitung der Medizin und Gesundheitspolitik der nationalsozialistischen Zeit begann, entwickelte sich dieser Bereich der medizinhistorischen Zeitgeschichte stetig. Während mittlerweile die Geschichte einzelner Krankenanstalten und ihrer unterschiedlichen Trägerschaften in ihrem Umgang mit ihnen anvertrauten Pfleglingen gut dokumentiert ist, existieren nur wenige Studien, die einen systematischen Zugriff auf diesen Themenbereich vornehmen. In diese Kategorie fällt die Arbeit von Astrid Ley, die unter dem Titel "Zwangssterilisation und Ärzteschaft" das ärztliche Handeln in den Mittelpunkt der Analyse stellt.

Die aus einer Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg hervorgegangene Publikation ist in vier Hauptteile untergliedert. Die Kapitel "Gesetzliche Vorgaben für die eugenische Zwangssterilisation" (34-120) und "Richtlinien ärztlichen Handelns im Nationalsozialismus" (121-130) entfalten die institutionellen sowie die juristischen und ethischen Bedingungen, die den historischen Rahmen für das Handeln der Ärzte konstituierten. Wenn auch die Gesetzestexte und die juristische Kommentierung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" (GzVeN) vom 14. Juli 1933 in jeder Bibliothek leicht zu bekommen sind, sind diese zentralen Texte doch bisher kaum umfassend in ihrem gesellschaftlichen Kontext interpretiert worden. Die Stoßrichtung des Sterilisierungsgesetzes lag in der "Ausmerzung" von Krankheitsanlagen, was eine fundamentale Wende in der Gesundheitspolitik bedeutete, wie die Autorin zu Recht hervorhebt: "Dem Phänomen 'Krankheit' sollte also nicht mehr durch eine Verhütung von Erkrankungen, sondern durch die Verhütung kranker Menschen vorgebeugt werden, womit sich der Gegenstand präventivmedizinischer Bemühungen von der Krankheit auf den Kranken selbst verschob" (35). Dieser Perspektivwechsel diente, neben dem langfristigen Fernziel der Beseitigung von Krankheitsanlagen aus dem Genpool der Nation, zugleich der Senkung der so genannten "Fürsorgelasten", wie der Gesetzeswortlaut gleichfalls klarstellte. Eine formale Anknüpfung an rechtsstaatliche Verfahren durch die Errichtung der neuen "Erbgesundheitsgerichtsbarkeit" diente in erster Linie der Suggestion von Rechtssicherheit durch das rechtsförmige Verfahren.

Die strengen ethischen Richtlinien des Arztberufes, stets herangezogen zur Begründung einer fiskalischen Sonderstellung des Arztberufes, fanden unter den Bedingungen des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" keine Anwendung. Weder hatten die Ärzte bei der Meldung der zu Sterilisierenden das persönliche Wohlergehen dieser Nicht-Kranken im Sinn, noch fühlten sie sich an ihre gesetzlich normierte Schweigepflicht über den physischen und psychischen Zustand ihrer Klientel gebunden. Dieser Befund ist in seiner Allgemeinheit nicht neu, aber Astrid Ley geht über die Ebene der bloßen Konstatierung des Sachverhaltes hinaus, indem sie sich der Aufgabe unterzieht, die Gemengelage unterschiedlicher Motivationen bei den Akteuren herauszuarbeiten. Aus dieser Analyse können Einsichten gewonnen werden, die dazu beitragen, das Phänomen der deutschen Ärzte als mehrheitlich willige Unterstützer des Nationalsozialismus als soziales zu begreifen.

Von zentraler Bedeutung hierfür ist das vierte Kapitel (131-302), in dem das Aktenmaterial staatlicher und kommunaler Provenienz aus dem Raum Franken, das die breite empirische Basis der Arbeit von Astrid Ley darstellt, für unterschiedliche Ärztegruppen ausgewertet wird. Die praktizierende Ärzteschaft wird dabei untergliedert in die drei Gruppen niedergelassene Ärzte und Fachärzte, Fürsorgeärzte sowie klinische Psychiater, deren spezifische Berufsmerkmale und jeweilige Berufsethik vorgestellt und voneinander abgegrenzt werden.

Am deutlichsten widersprach die den niedergelassenen Ärzten durch das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" zugedachte Rolle des zur Sterilisation Anzeigenden den traditionellen ärztlichen Handlungsmustern. Das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" stelle den einzelnen Arzt, so der zeitgenössische Kommentar eines ärztlichen Verbandsfunktionärs, "mitten hinein in ein ärztlich-politisches Tun" und zwinge ihn dadurch, die "Rücksicht auf den einzelnen weit hinter die Sorge für die Allgemeinheit zurückzustellen" (132). Vor dem Hintergrund dieses scharfen Rollenkonfliktes entzogen sich die niedergelassenen Ärzte weitgehend der Anzeigepflicht und zeugten damit, so Astrid Ley, "von der Möglichkeit, individuelle Handlungsfreiheiten trotz totalitärer Handlungsvorgaben zu bewahren" (133). Die Nichtmeldung von Patienten und Patientinnen nahm dabei in manchen Gegenden Frankens Ausmaße an, die die Bezeichnung 'Verweigerungshaltung' rechtfertigte, etwa wenn im Bezirk Schwabach zwei Drittel der niedergelassenen Ärzte über die gesamte Dauer des NS-Regimes keine Meldung zur Zwangssterilisierung vornahmen. Diese Tatsache ist umso erstaunlicher, als die Rate der Schwabacher Ärzte, die in NSDAP-, SA- oder SS-Gliederungen organisiert waren, bei 75 Prozent und damit sogar über dem Reichsdurchschnitt von 54 Prozent aller praktizierenden Ärzte lag (155).

Allerdings begründeten nicht nur ethische Motive oder eine etwaige persönliche Bindung an die Patienten diese Haltung, sondern auch ökonomische Fakten begünstigten die Ablehnung der Zwangsoperation durch die niedergelassenen Ärzte: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfielen rund drei Viertel des durchschnittlichen ärztlichen Jahreseinkommens auf Einnahmen aus der Behandlung versicherter Kranker.

Die Gruppe der Fürsorgeärzte fällt durch ihr Engagement bei der Erfassung der nicht in Anstalten untergebrachten Menschen für die Zwangssterilisierung auf. Dies ist ein insofern überraschender Befund, als gerade die in der Region Franken entwickelte "offene Fürsorge" für psychisch Erkrankte als Modellbeispiel einer "sozialen" Haltung gegenüber dieser Patientengruppe galt und stets als Widerpart gegen die Durchsetzung der NS-Erbgesundheitspolitik bewertet wurde. Astrid Ley stellt nun die Ambivalenz dieser Reformpsychiatrie heraus, die mittels eines erweiterten therapeutischen Interventionsarsenals die Öffnung der psychiatrischen Krankenanstalten weniger als humanitär fundiertes Reformmodell, sondern als Kosten sparende Variante der Krankenversorgung anpries. Das so genannte "Erlanger Modell" realisierte damit die Anwendung sozialhygienischer Grundsätze auf dem Gebiet der psychiatrischen Fürsorge. Ebenso wie andere Zweige der Sozialhygiene öffnete sich seit dem Ende der 1920er-Jahre auch dieser Bereich zunehmend den populär gewordenen eugenischen Ideen und damit auch der Idee der Zwangsterilisation ihrer Klientel.

Im Gegensatz zu den als den Patienteninteressen gegenüber aufgeschlossen geltenden Fürsorgeärzten waren klinische Psychiater schon in den ersten Jahren der Weimarer Republik offen für die erbpflegerische Motivation des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" eingetreten. Nach Verabschiedung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" irritiert die nun artikulierte distanzierte Haltung dieser Berufsgruppe zur Sterilisierung. Astrid Ley macht als - durchaus plausiblen - Hauptgrund die Angst vor dem Verlust des Definitionsmonopols der professionellen Experten für Geisteskrankheiten aus, deren Bedeutung für das Verfahren in gleichem Maße sank, wie die rassenpolitische Hegemonie in der gesundheits- und sozialpolitischen Gesetzgebung hervortrat. Diese Entwicklung war für die klinischen Psychiater umso demütigender, als die Disziplin sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem bisher dominierenden Grundsatz des "therapeutischen Nihilismus" bei geistig-seelischen Störungen gelöst und erste therapeutische Erfolge zu verzeichnen hatte. Die ablehnende Haltung dieser Ärztegruppe, die sich in einer schwächer ausgeprägten Anzeigepraxis manifestierte, wurzelte in der Verstimmung darüber, dass die Profession bei der Ausformulierung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" übergangen worden war.

Insgesamt, so ist über diese Arbeit zu resümieren, stellt das Buch nicht nur eine profunde Studie zum Thema Zwangssterilisation dar, sondern erweitert den Blick auf den Ärztestand im Sinn einer historischen Soziologie der Heilberufe und des Gesundheitswesens. Kritisch anzumerken ist einzig, dass das Projekt, zugleich mit der Geschichte der Sterilisierung im NS-Staat auch eine Geschichte der psychiatrischen Fürsorge, ihrer konfessionellen, kommunalen und staatlichen Einrichtungen sowie der ärztlichen Ethik seit Ende des 19. Jahrhunderts zu verfassen, die Lektüre erschwert. Obwohl die einzelnen Kapitel gut und teilweise spannend geschrieben sind, verlangt der Gesamttext Leser und Leserin stellenweise doch Durchhaltevermögen ab. Dieser einzige Wermutstropfen mindert selbstverständlich nicht den Wert dieser neuen Referenzarbeit zum Thema "Zwangssterilisation und Ärzteschaft" - vielleicht gehört diese Breite sogar zum Wesen eines Standardwerkes.

Gabriele Moser