Jost Dülffer: Europa im Ost-West-Konflikt 1945-1991 (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte; Bd. 18), München: Oldenbourg 2004, XII + 304 S., 2 Karten, ISBN 978-3-486-49105-0, EUR 24,80
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Mit Europa im Ost-West-Konflikt 1945-1990 hat Jost Dülffer nach fünfundzwanzig Jahren einen Nachfolgeband zu Andreas Hillgrubers Europa in der Weltpolitik der Nachkriegszeit 1945-1963 in der Oldenbourg-Reihe "Grundriß der Geschichte" vorgelegt. Schon die im Titel angegebene Zeitspanne deutet an, dass es sich dabei keineswegs nur um eine aktualisierte Neuauflage handelt. Dülffer hat den Band nicht nur bis zum Ende des Kalten Krieges fortgeführt, sondern ihn teilweise neu konzipiert und Themen aufgegriffen (zum Beispiel die Dekolonisierung), die in Hillgrubers Ausgaben noch keinen Niederschlag gefunden hatten.
Dülffers Band erfüllt die hohen Ansprüche der Reihe aus dem Oldenbourg-Verlag mit einem knappen historischen Abriss des Kalten Krieges, der europäischen Integration und des Prozesses der Dekolonisierung. Er weist auf die unterschiedliche Quellenlage in den am Konflikt beteiligten Ländern hin, referiert kompetent die Forschungslage und -kontroversen zu den Themen und identifiziert Forschungsdesiderata.
Innerhalb der üblichen Grundriß-Dreiteilung in Darstellung, Forschungsüberblick und Quellen-/Literaturlage kombiniert Dülffer eine weitgehend chronologische mit einer thematischen Gliederung. Die Einteilung des Konflikts zwischen "Ost" und "West" in drei Phasen erklärt der Autor mit seiner Ablehnung des überkommenen Begriffs vom Kalten Krieg, der ihm zu statisch erscheint, da er "die fortlaufenden strukturellen Bedingungen" betone und damit den Blick auf die "situative[n] Aspekte und Wandel in dieser Zeit" verstelle (5). Dülffers Identifizierung von "drei Kalten Kriegen" folgt allerdings im Wesentlichen der üblichen Periodisierung: von der Berlin-Blockade zum Korea-Krieg 1948-1953, der zweiten Berlin-Krise in Kombination mit der Kuba-Krise von 1958 bis 1962 und dem "dritten Kalten Krieg" um die Nachrüstung von 1979 bis 1982/83. In einem separaten Kapitel behandelt er zudem die Phase der Entspannung, die er von 1962 bis 1975 ansetzt. (Natürlich lässt sich darüber streiten, ob nicht auch diese Periodisierung zu schematisch ist, ob nicht der "dritte Kalte Krieg" tatsächlich mit den Stellvertreterkriegen in der "Dritten Welt" - siehe Vietnam - mitten im Entspannungsprozess der Sechzigerjahre begann und diesen beförderte. Sicherlich kann man ähnlich argumentieren, dass die dritte Konfliktphase zumindest mit der neuen Welle von Stellvertreterkonflikten in Lateinamerika und Afrika Mitte der Siebzigerjahre begann.)
Die Kapitel außerhalb dieser chronologischen Übersicht beschäftigen sich mit der Integration West-Europas, der Schaffung des Ostblocks und mit den Beziehungen Europas zur außereuropäischen Welt - womit an dieser Stelle vor allen Dingen die Dekolonisierung und die Beziehungen Europas zu den entstandenen Staaten gemeint sind. Diese Kapitel - zusammen mit eingestreuten Hinweisen auf kulturhistorische Fragen (Kulturtransfer und "Amerikanisierung" Europas, 76 f., oder ein Exkurs zur europäischen Erinnerungskultur, 159 f.) - sind die innovativsten und "unkonventionellsten" im Vergleich zu Hillgrubers Grundriß-Band. Sie machen deutlich, wie stark sich das Forschungsinteresse in den letzten fünfundzwanzig Jahren verändert und erweitert hat.
Im Rahmen der Dekolonisierung konzentriert sich Dülffer auf die Unterschiede im Ablösungsprozess von den jeweiligen Metropolen und auf die Folgen für die europäische Außenpolitik. Dabei geht er so weit, die Beziehungen Westeuropas zu den ehemaligen Kolonien als "Anfänge für gemeinsame EG-Außenbeziehungen" zu bezeichnen (71). Zusätzlich dazu diskutiert er in Unterkapiteln Entwicklungshilfe und Migration - Themen, die auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht an Brisanz verloren haben.
Die Fülle der Themen, die Dülffer anreißt, ist aber auch der größte Schwachpunkt des Bandes, denn natürlich lassen sich nicht alle Fragen gleichermaßen tief gehend erörtern. Während die Kapitel zum Kalten Krieg, vor allem das erste Forschungskapitel zum Thema (II.B), besonders gut gelungen sind und die - zugegebenermaßen - zentrale Rolle des geteilten Deutschlands im Konflikt proportional fast zu ausführlich geraten ist, hätte man sich in Bezug auf den zweiten großen Komplex des Bandes - Europa - ein wenig mehr erhofft. Die Integration des westeuropäischen Teils wird knapp in einem Kapitel abgehandelt, und auch im Forschungsüberblick dazu werden jenseits der verschiedenen Grundeinstellungen der jeweiligen Autoren zur europäischen Einigung kaum Kontroversen diskutiert. Allerdings weist dieser Umstand auch auf die Tatsache hin, wie wenig Historiker bisher wirklich "europäisch" gearbeitet haben. Auffallend ist in diesem Zusammenhang auch, wie viele Sammelbände und wie wenig monografische Werke in diesem Kapitel (II.D.) zitiert werden müssen.
Zumindest der Rezensent wäre auch daran interessiert gewesen, mehr über die Standpunkte kleinerer westeuropäischer Staaten sowohl zum Kalten Krieg als auch zur Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften zu erfahren. Hier aber konzentriert sich Dülffer stark auf die Großen Vier - die USA, die Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien -, wenn es um den Kalten Krieg geht, und auf Frankreich, Großbritannien und die Bundesrepublik in Bezug auf die europäische Integration.
In ähnlicher Weise erstaunt, dass der Autor zwar relativ detailliert den Prozess der Dekolonisierung behandelt, dass er ihn aber kaum an den Kalten Krieg koppelt (für eine Ausnahme 87 f.). Der hervorragende Forschungsüberblick zum Thema (II.F.), den Dülffer zusammen mit Marc Frey erarbeitet hat, macht zwar deutlich, welche methodisch innovativen Impulse von der Forschung zur Dekolonisierung ausgehen, und wie unterschiedlich der Ablösungsprozess von den Metropolen verlaufen ist. Dennoch geht hier die Bindung an eines der Hauptthemen des Buches, den Ost-West-Konflikt, verloren. Dabei fanden gerade in der "Dritten Welt", in Korea, Vietnam oder Lateinamerika und Afrika, die herausragenden Stellvertreterkriege der Ära statt. Selbst wenn es Dülffer nur darauf ankam, die Beziehungen Europas zu den (ehemaligen) Kolonien darzustellen, so dachten eben auch die europäischen Regierungen stark in Kategorien des Kalten Krieges. Deshalb machten einige unter ihnen ebenso wie die USA lange ihre Entwicklungshilfe von der Frage abhängig, welche ehemalige Kolonie sich an welche Supermacht anlehnte oder, wie im Fall der Bundesrepublik, mit welchem der beiden Deutschlands sie diplomatische Beziehungen pflegte. Mit dieser Auslassung geht auch eine Dimension des Ost-West-Konflikts verloren, in der die "Dritte Welt" nicht nur als Spielball der Supermächte erscheint. Gerade in den USA wird zunehmend erforscht, welchen politischen Spielraum kleinere Klientelstaaten besaßen, indem sie die rivalisierenden Supermächte gegeneinander ausspielten.
Diese inhaltlichen und formalen Einschränkungen sollten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Dülffer einen hervorragenden Band vorgelegt hat, der seinen Nutzen vor allen Dingen im Forschungs- und Quellenteil unter Beweis stellt. Besonders hilfreich ist die Darstellung der unterschiedlichen Quellenlage in den beteiligten Ländern, die nicht immer die allgemein geltende 30-Jahres-Frist einhalten, oder die - wie gerade Russland - eine sehr undurchsichtige und ständig wechselnde Veröffentlichungspraxis verfolgen. Daher ist auch sein Hinweis nur zu begrüßen, dass Quellensammlungen wie die des Cold War International History Project wegen des mangelnden Kontexts durchaus mit Vorsicht zu genießen sind (122). Ähnlich zu bewerten sind Werke wie We Now Know (1997) von John Lewis Gaddis, die auf Grund der im ehemaligen Ostblock erhältlichen Quellen nun meinen, ein abschließendes Urteil über den Kalten Krieg fällen zu können (131). So wie der Fall der Sowjetunion die Geschichte nicht "beendet" hat, so steht auch ein endgültiges historiografisches Urteil über ihn weiter aus. Dülffer hat sehr schön herausgearbeitet, wie auch heute noch Historiker die wesentlichen Fragen des Ost-West-Konflikts, zum Beispiel den Umfang der Entspannungspolitik oder die "Schuldfrage" für den Ausbruch des Konflikts, in denselben politischen Kategorien wie zu Hochzeiten des Kalten Krieges erörtern.
Trotz seiner Warnung vor der unebenen Archivlage gibt Dülffer andererseits zu bedenken, dass in der Vergangenheit zahlreiche zeitnahe Studien erstellt worden sind, deren Ergebnisse auch heute noch nicht überholt sind, obwohl ihnen damals die Archive noch nicht zur Verfügung gestanden haben (114 f.) - eine Beobachtung, die der Rezensent auf Grund seiner eigenen Kenntnis der Akten zur Außenpolitik der Bundesrepublik nur bestätigen kann. Damit fordert der Autor implizit zu weiterer Forschung ohne allzu große Scheu vor der Archivfrist auf, und sein Band bietet viele Impulse und Ideen für neue Projekte. Gleichzeitig ist er ein hervorragender Einstieg für Studienanfänger, und es bleibt nur zu wünschen, dass auch dieser Band im Zuge der zukünftigen Forschung weitere Auflagen erleben wird.
Fabian Hilfrich