Jost Dülffer / Wilfried Loth (Hgg.): Dimensionen internationaler Geschichte (= Studien zur Internationalen Geschichte; Bd. 30), München: Oldenbourg 2012, VI + 432 S., ISBN 978-3-486-71260-5, EUR 59,80
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Um die Mitte der 1990er Jahre wurde die Schriftenreihe der "Studien zur Internationalen Geschichte" begründet, was nicht zuletzt mit einem erneuten starken Interesse an den internationalen Beziehungen als Reaktion auf die weltpolitischen Veränderungen zu Beginn dieses Jahrzehnts und die hierdurch ausgelöste "Wiederentdeckung des Politischen" zusammenhing. Als Band 10 erschien im Jahr 2000 ein erster Band mit konzeptionellen Aufsätzen, seinerzeit herausgegeben von Wilfried Loth und Jürgen Osterhammel ("Internationale Geschichte: Themen - Ergebnisse - Aussichten"), dem nun, als Band 30 der Reihe, ein zweiter Band gefolgt ist, dessen Autorinnen und Autoren ebenfalls darum bemüht sind, im Rahmen von insgesamt 21 "Essays" (6) neue Teilaspekte dieses Großthemas sowie Veränderungen in manchen bisherigen Fragestellungen zu benennen und kritisch zu reflektieren.
Vertreten wird dabei - das ist grundsätzlich erfreulich und uneingeschränkt zu begrüßen - ein pluralistischer Ansatz, der bereit ist, sehr verschiedene Konzepte und Fragestellungen zu integrieren. Die Herausgeber halten, so heißt es denn auch ausdrücklich und programmatisch in der Einleitung, "Forschungsansätze für ungenügend, die von einer oftmals polemischen Gegenüberstellung von 'alter' Diplomatiegeschichte und 'neuer' internationaler Geschichte ausgehend Fragen nach Regierungshandeln, Krieg und Friedenssicherung, Machtgefällen und Politik mehr oder weniger systematisch ausblenden. Hier wirkt noch die alte Rivalität um Deutungshegemonie nach, die sich auch in der Vergangenheit nicht als erkenntnisfördernd erwiesen hat. Auseinandersetzungen über Leistungen und Kosten unterschiedlicher methodischer Ansätze sind fruchtbar, die ausschließliche Orientierung am neuesten 'turn' der Kulturwissenschaften führt dagegen regelmäßig in die Irre" (6). Dem kann man in der Tat nur zustimmen.
Ein Versuch eben jener angestrebten Verbindung "klassischer" mit neuen Themen und Deutungsansätzen wird im vorliegenden Band unternommen - und dieser Versuch ist, dies darf klar gesagt werden, auch gelungen. Zu den klassischen Themen zählen Krieg, Diplomatie, Völkerrecht sowie Hegemonie und Gleichgewicht, behandelt von Jörg Echternkamp, Johannes Paulmann, Jörg Fisch und Wolfram Pyta. Echternkamp versucht, die traditionelle Unterscheidung zwischen älteren und neueren Kriegen zu überwinden; die moderne "Entgrenzung" traditionellen Kriegshandelns, wie sie etwa im Vergleich mit den Kriegen des 18. und 19. Jahrhunderts zu exemplifizieren wäre, gerät ihm dabei aber etwas aus dem Blick. Seinem Plädoyer für eine integrative, auch soziale und kulturelle Aspekte berücksichtigende Militärgeschichtsschreibung ist dagegen uneingeschränkt zuzustimmen. Paulmann beschreibt aufschlussreich die Aspekte einer neuen "globalisierten" Diplomatie, während Fisch die Problematik des Völkerrechts als "freiwilliges Recht" zwischen den jeweils existierenden Machtpotentialen der Staaten thematisiert. Und Pyta zeigt in seinem anregenden Essay auf, welche Aktualität das - scheinbar der älteren "Diplomatiegeschichte" entstammende - Gegensatzpaar Hegemonie und Gleichgewicht auch für eine zeitgemäße historische Politikanalyse noch besitzt.
Den "neuen" Themen und Fragestellungen sind die meisten der übrigen Beiträge des Bandes gewidmet, von denen vor allem die am Beispiel des Kalten Krieges exemplifizierte Bedeutung von "Angst und Vertrauensbildung", hier von Wilfried Loth thematisiert, hervorzuheben ist. Das sind zwei Kategorien, mit deren Hilfe man etwa ebenfalls zentrale Aspekte der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs erklären könnte; gerade daher ist dieser Essay besonders wichtig und anregend. Die übrigen Beiträge behandeln zumeist Themen und Probleme der jüngeren und jüngsten Zeitgeschichte, darunter das Völkerstrafrecht und die Völkerstrafrechtspolitik (Eckart Conze), internationale Institutionen (Matthias Schulz), transnationale soziale Bewegungen (Holger Nehring), Umwelt (Ursula Lehmkuhl) und Migration (Jochen Oltmer), die Globalisierung (Niels P. Petersson) und die Entwicklungspolitik (Marc Frey), die europäische Integration (Kiran Klaus Patel) sowie die "Soziale Demokratie" als einem transnationalen Ordnungsmodell im nun auch schon seit mehr als einem Jahrzehnt vergangenen 20. Jahrhundert (Anselm Doering-Manteuffel).
Erwähnt sei in diesem Zusammenhang noch besonders die perspektivenreiche Studie von Friedrich Kießling zur Bedeutung von "Öffentlichkeit" und "Weltöffentlichkeit" als Thema der internationalen Geschichte, die es spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eben auch mit "internationalen Medienereignissen" zu tun hat; gleichwohl warnt er vor überspannten Erwartungen und Einschätzungen und weist sehr zu Recht auf die "Fragilität" grenzüberschreitender "Öffentlichkeiten" hin. Einen bisher wenig beachteten, im Detail aber hochinteressanten Aspekt nimmt Simone Derix mit ihrem Beitrag über "Transnationale Familien" in den Blick, die nicht nur in der Frühen Neuzeit, sondern auch später (in Politik, Diplomatie und Wirtschaft) eine Rolle gespielt haben, die es näher zu untersuchen gilt. Ein weiteres, ebenfalls die Epochen übergreifendes Konzept vergegenwärtigt knapp Jürgen Osterhammel in seinem äußerst anregenden und ebenfalls überaus perspektivenreichen Essay über "Weltordnungskonzepte", der freilich vor einer Überschätzung dieses Konzepts als Analyseinstrument warnt, denn: "Perzeptionen und Zielvorstellungen internationaler Akteure ergeben sich selten unmittelbar aus umfassenden Weltbildern und Idealentwürfen" (427), sondern sind vielmehr fast stets realen Lagen und situationsbedingten Strategien geschuldet.
Insofern verwundert es auch ein wenig, dass die immer noch und weiterhin virulenten geopolitischen und geostrategischen Vorstellungen und Konzepte, die bis heute in der Weltpolitik wirksam sind (auch wenn das nicht immer - aus nachvollziehbaren Gründen - explizit öffentlich thematisiert wird), in dem Band fehlen, ja regelrecht ausgeblendet werden. Das hängt vermutlich immer noch mit einer historisch erklärbaren Scheu vor diesem Thema zusammen, die freilich ein deutsches Spezifikum darstellt, während Geopolitik in den angelsächsischen Ländern und ebenso in Frankreich, Russland und neuerdings auch in China zu den selbstverständlichen Instrumentarien weltpolitischen und strategischen Denkens zählt. Nicht nur für Zbigniew Brzezinski stellt Eurasien bis heute "the grand chessboard" der Weltpolitik dar, und auch die allerneuesten Staatenkonflikte, die Kriege und Bürgerkriege im Nahen und Mittleren Osten ebenso wie z. B. die gegenwärtigen Streitigkeiten um Inselgruppen in Ostasien, sind ohne geopolitische Konzeptionen, Machtstrategien und Zielperspektiven nicht wirklich zu verstehen. Vielleicht wird man dies auch in Deutschland irgendwann einmal wieder wahrnehmen und erkennen, dass die "Dimensionen internationaler Geschichte" nicht auf universalistische Wunschvorstellungen verkürzt, sondern in ihrer ganzen Vielfalt, d. h. eben auch vergangener und gegenwärtiger Konflikthaltigkeit, erkannt und reflektiert werden sollten.
Hans-Christof Kraus