Monika Dommann: Durchsicht, Einsicht, Vorsicht. Eine Geschichte der Röntgenstrahlen 1896-1963, Zürich: Chronos Verlag 2003, 447 S., ISBN 978-3-0340-0587-6, EUR 29,80
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Der Untertitel dieses Buches "Eine Geschichte der Röntgenstrahlen" ließe auf den ersten Blick die Frage zu, warum ausgerechnet die zahlreiche wissenschaftshistorische Literatur zur Röntgenstrahlung um noch eine Geschichte ergänzt werden müsse. Doch schnell wird bei der Lektüre des Buches klar, dass Monika Dommann mit ihrer Dissertation zum medizinisch-diagnostischen Einsatz der Röntgenstrahlung in der deutschsprachigen Schweiz von 1896 bis 1963 nicht nur eine empirische Lücke schließt, sondern über Perspektiven der bisher vorliegenden Literatur hinausgeht. Sie nutzt die lokal begrenzte Fallstudie, um aus den Blickwinkeln aktueller Wissenschaftsforschung zu zeigen, dass die drei Schlagwörter des Titels, die so selbstverständlich mit der Erfolgsgeschichte der Röntgenstrahlung verknüpft erscheinen, die Ergebnisse von Aushandlungsprozessen waren: Der Stellenwert der "Durchsicht" für die medizinische Diagnose musste erst ausgehandelt werden und führte zu einer neuen Auffassung von Mensch und Krankheit. Eine "Einsicht" stellte sich erst durch die Professionalisierung der Bildinterpretation ein und ergab sich nicht selbstverständlich aus den Bildern, die von Seh- und Bildtraditionen abwichen; vielmehr waren es das erst zu erwerbende Expertenwissen sowie die Zusammenstellungen und Sortierungen einer Vielzahl von Bildern, die Wissen aus ihnen extrahieren ließ. Die "Vorsicht" vor der Röntgenstrahlung war das Ergebnis einer Kontroverse, wann eine Gefahr von den Strahlen ausgehen würde und wer befugt sei, mit dieser Gefahr verantwortungsvoll umzugehen. Eine Gruppe spezialisierter Mediziner konnte von der Diskussion über die schädlichen Wirkungen profitieren, da nicht die Strahlen selbst, sondern der unsachgemäße Umgang mit ihnen als gefährlich dargestellt wurde. Mediziner erhoben erfolgreich den Anspruch auf eine Autorität bezüglich des sachgemäßen und damit ungefährlichen Umgangs und konnten ihre privilegierte Stellung weiter ausbauen.
Wissenschaftshistorisch lässt sich das Buch in die Reihe von Arbeiten einordnen, in denen die Prozesshaftigkeit wissenschaftlich-technischer Vorgänge beschrieben wird, die hinter der Herstellung von wissenschaftlichen Produkten stehen. Domman führt beispielsweise aus, dass Defekte der Instrumente in der Frühzeit fester Bestandteil ihres alltäglichen Einsatzes waren und dass die Erstellung reproduzierbarer Bilder Teil eines mühsamen Etablierungsprozesses war. Auch die Wahl von Parametern wie dem der Expositionszeit musste erst erprobt werden. Die Autorin verfolgt dazu überzeugend den Weg einzelner Akteure und führt den Stellenwert von lokalisiertem und inkorporiertem Wissen aus. Darüber hinaus reflektiert sie, in welchen Zusammenhängen auf solches tacit knowledge verwiesen, wann es entwertet wird und wann es verschwindet. Der Einbettung der Technik in die Umgebung des Krankenhauses wird Dommann beispielsweise durch die Analyse der Raumgestaltungen gerecht: Therapie und Diagnostik wurden durch räumliche und ästhetische Abgrenzungen insofern voneinander getrennt, als dass die Untersuchungsräume im Gegensatz zu den Entwicklungsräumen der Röntgenplatten hell gestaltet wurden und so die Röntgentechnik als Teil medizinischer Praxis wahrnehmbar wurde. Für das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit zeigt Domman, wie Popularisierungsprozesse auf die Laborpraxis rückwirken und dortiges Wissen transformieren konnten. Sie führt damit den aktuell verbreiteten, häufig jedoch nicht weiter konkretisierten Ansatz aus, Wissenschaft und Öffentlichkeit nicht als homogene, klar voneinander zu trennende Gruppen zu betrachten, sondern als heterogen und miteinander verflochten.
Deutlich wird die wissenschaftssoziologische Ausrichtung des Buches, wenn Dommann überzeugend zeigt, wie mittels der Technik ganz unterschiedliche Interessen verfolgt wurden und wie die Einführung dieser Röntgentechnik in der medizinischen Diagnostik neue Hierarchien strukturierte. Grenzziehungen zwischen Medizinern und Physikern, zwischen männlichen Radiografen und weiblichem Hilfspersonal sowie zwischen Medizinern und Radiologen wurden gezogen. Ärzte besaßen ausgeprägte Privilegien, die es zu verteidigen und auszubauen galt, beispielsweise im Verlauf der Etablierung von Versicherungen, für die Ärzte als Sachverständige auftraten. Mit den Expertinnen der Bildauswertung bildete sich eine neue soziale Gruppe in den Krankenhäusern heraus, die zu deren Professionalisierung beitrugen.
Die Ausführungen, dass die Deutung der Röntgenbilder aufgrund ihrer Uneindeutigkeit von solchen Expertinnen durchgeführt werden musste, sind Teil der bildwissenschaftlichen Auseinandersetzungen Monika Dommanns. Da die Röntgenbilder mit Seh- und Abbildungsgewohnheiten brachen, wurden sie zunächst zur Bestätigung von bestehenden Befunden herangezogen, später allerdings als Grundlage von Handzeichnungen eingesetzt, die dann zur Diagnose verwendet wurden. Während in der medizinischen Praxis solche Transformationsprozesse zum Standard wurden, wurden Röntgenbilder auch als Kommunikationsmedien genutzt, die durch verschiedene Gruppen unterschiedlich rezipiert wurden. Diese Bildspezifik nutzt Dommann zu dem wichtigen Hinweis, dass Röntgenbilder gerade dadurch, dass sie unterdeterminiert und unterschiedlichen Lektüren zugänglich sind, als starke Kommunikationsmedien fungieren. Die resultierende Wirkung einer veränderten Körper- und Krankheitswahrnehmung war mit der Einführung der Technik nicht intendiert, zeigt aber die Wirkmächtigkeit von Bildern. Monika Dommann versteht es, die Spezifik des Bildlichen zu berücksichtigen und damit zum Kern des pictorial turn vorzudringen.
Dieser Überblick zeigt schon die Vielzahl von Konzepten, welche Monika Dommann in ihrem Buch bemüht, um die Entwicklung der Röntgentechnik in der medizinischen Diagnostik zu reflektieren. Dabei wechseln die Perspektiven mitunter in recht schneller Abfolge, ohne dass der Schwerpunkt auf dem Verhältnis der verschiedenen Konzepte zueinander liegen würde. Auch durch die Vielzahl von Personen, Orten und Etappen bietet Monika Dommann einen Detailreichtum an, der teilweise nur lose verbunden scheint. Andererseits sind dies Merkmale eines umfangreich recherchierten Buches, das viele neue Aspekte der Röntgenforschung aufzeigt, Denkanstöße liefert und sich als Verknüpfung wissenschafts- beziehungsweise medizinhistorischer, wissenschaftssoziologischer und bildwissenschaftlicher Fragen an Leser aus verschiedenen Gebieten der Wissenschaftsforschung richtet.
Jochen Hennig