David Gugerli / Barbara Orland (Hgg.): Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit (= Interferenzen. Studien zur Kulturgeschichte der Technik; 2), Zürich: Chronos Verlag 2002, 277 S., ISBN 978-3-0340-0551-7, EUR 25,90
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David Gugerli / Daniel Speich: Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich: Chronos Verlag 2002
Barbara Orland (Hg.): Artifizielle Körper - Lebendige Technik. Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive, Zürich: Chronos Verlag 2005
Schon seit einigen Jahren werden in den Kulturwissenschaften, ebenso wie in der Wissenschafts- und Technikgeschichte, Bilder dahingehend diskutiert, inwieweit sie an der Formierung, Strukturierung und Produktion von Wissen beteiligt sind. Damit werden Bilder nicht mehr als einfache Wiedergabe eines Sachverhaltes angesehen, auch wenn sie im wissenschaftlich-technischen Kontext entstanden sind. Diese Diskussion - von Gottfried mit dem Schlagwort "iconic turn" besetzt - bemüht sich damit um die kritische Analyse einer tief sitzenden Bildgläubigkeit.
Das hier vorgestellte Buch zielt auf den Kern dieser Diskussion ab, indem es auf "normale Bilder" fokussiert. Damit sind Bilder gemeint, die unseren Erwartungen entsprechen und als "wahr" gelten und bei denen die Glaubwürdigkeit und damit Gläubigkeit besonders hoch ist. Es stehen technische Bilder im Mittelpunkt, deren Herstellungsverfahren unsichtbar geworden sind, obwohl sie apparativ produziert wurden. Genau an dieser Stelle sei nach Meinung der Herausgeber, David Gugerli und Barbara Orland, mit der historischen Analyse anzusetzen: Die Verfahren müssten wieder an die Oberfläche gebracht und in den Blickpunkt der Untersuchung gerückt werden. Unter Einbeziehung der Aufgaben der Visualisierungstechniken soll die Herstellung der Überzeugungskraft der Bilder Gegenstand der Beiträge sein. Die Frage aus der Einleitung Gugerlis und Orlands, "wie Bilder ihre technisch gestützte und kulturell sanktionierte Evidenz erhalten" (12), wird damit zum Nukleus für die gesamte Textsammlung. Sie geht auf einen Workshop zurück, der im Herbst 2000 von den Herausgebern gemeinsam mit Herbert Mehrtens veranstaltet wurde.
Das Buch ist in drei Teile untergliedert. Insgesamt elf Autoren beschäftigen sich im ersten Teil mit der Repräsentation von Räumen, im zweiten mit Kurven und der Darstellung von Werten sowie im dritten mit Bildern des menschlichen Körpers.
Im ersten Teil gelingt es allen Autoren, plausibel zu machen, dass sie sich "normalen Bildern" widmen. So zeigt Sabine Höhler in ihrem Beitrag zur Kartierung von ozeanografischen Tiefenmessungen, dass die Visualisierungen in Form von Tiefenprofilierung und -konturierung auch bei einem Wandel der Messtechniken - von mechanischen zu akustischen Lotungen - stabil geblieben sind. Aus ihrer Beobachtung dieser Kontinuität schließt Höhler darauf, dass die Bilder normal geworden seien. Damit entzieht sie sich der zentralen Fragestellung, wie diese Normalität erzeugt wurde. Dies gelingt Daniel Speich bei seiner Analyse des Züricher Alpenblicks. Indem er die technische Infrastruktur und die städtebaulichen Maßnahmen im 19. Jahrhundert aufdeckt, zeigt er die Erzeugung des heutigen als natürlich empfundenen Anblicks des Alpenpanoramas auf. Auch Angelus Eisingers Beitrag, wie Architekten mit ihren Stadtplanungen und -plänen als Baumeister der Städte und letztlich der Gesellschaft tätig sind, sowie der Aufsatz von Jens Lachmund zur Geschichte der Katierungen in der Berliner Stadtökologie fügen sich in den Themenblock zur Erfassung von Räumen durch "normale Bilder" ein.
Auch die Fallstudien des zweiten Teils zur Darstellung von Kurven und Werten bilden eine solche geschlossene inhaltliche Einheit. Zwei Fallstudien seien hervorgehoben: Jürgen Link argumentiert, dass Kurvenlandschaften und Infografiken schon durch ihre Verbreitung "normal", dazu aber auch noch "normalistisch" seien, indem in ihnen "Mittel und Resultat von Normalisierungen" (127) vereint seien. Kurvenlandschaften, die Sachverhalte wie Wirtschaftsdaten wiedergeben, würden in Zeitungen mit Portraits von Personen zusammengebracht. Damit impliziere die Kurve gleichzeitig auf das Wohlbefinden dieser Personen. Diese Verbindung erscheint normal, da an eine Bildtradition angeknüpft wird, wie sie durch die Fieberkurve schon im 19. Jahrhundert gegeben war. Die Kontextualisierung eben solcher Fieberkurven gelingt Volker Hess in seinem Beitrag außerordentlich überzeugend. Er entkräftet die nahe liegende Vermutung, dass diese Form von Temperaturmessung in der Anlehnung an meteorologische Messungen geschehen sei. Vielmehr zeigt er die Verwandtschaft zu physiologischen Kurvenschreibern aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Hess berücksichtigt neben der Aufzeichnungstechnik auch die Haltung der Mediziner zum Körper des Patienten; während die Kurve heute normal erscheint, war sie damals ein Prototyp der messenden Diagnoseverfahren und ein Produkt der klinischen Praxis ihrer Zeit.
Mit diesem Beitrag aus der Medizingeschichte ist schon der Weg zum letzten Themenkomplex des Buches, den "Körperwirklichkeiten", geebnet. Er beginnt mit einem Beitrag von Peter Geimer zur Frühzeit der Fotografie und zur Reflektion der Auffassung, es sei gleichermaßen eine Entdeckung und eine Erfindung gewesen. Hier handelt es sich um eine methodische Vertiefung des Buchthemas. Leider ist es den Herausgebern des Buches nicht gelungen, diesen Text eng an die nachfolgenden Beiträge anzubinden - die Verdeckung des medialen Charakters von Visualisierungstechniken in Fotografie und Körperbildern erscheint nicht als tragfähige Brücke. Im Weiteren beschreibt Cornelius Borck für Fritz Kahns Darstellungen des Menschen als Maschine aus den 1920er-Jahren, dass diese nicht nur metaphorisch, sondern auch neuroanatomisch argumentierten. Während er damit erfreulicherweise die Bilder in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt, bleibt Borcks Behauptung, es handele sich dabei um normale Bilder, als These im Raum stehen. Auch wenn die Bilder Teil populärer Publikationen waren, ist damit noch nicht zwangsläufig die eingangs angeführte Definition "normaler Bilder" und der Kern des Buches getroffen. Die abschließenden Artikel der beiden Herausgeber fokussieren dann wieder auf genau diese Aspekte: Barbara Orland zeigt für die Etablierung der medizinischen Magnetresonanzbildgebung in den 1980er-Jahren, wie stark technische, wissenschaftliche, institutionelle und persönliche Aspekte miteinander verwoben waren. Da sie die Entwicklung der Technik in der Kinderheilkunde beschreibt, einem Teilgebiet der Medizin, in dem der Normalfall häufig nicht zu benennen ist, ergibt sich für die Etablierung "normaler Bilder" noch eine zusätzliche Wendung. Für die virtuelle Endoskopie kann schließlich David Gugerli zeigen, dass es sowohl Anlehnungen an klassische Endoskopie auf der einen Seite sowie Science Fiction, Computerspiele und kommerziellen Kinofilm auf der anderen gab. Das Zusammenkommen dieses heterogenen Bildmaterials erlaubte nach Gugerli die "Konvergenz von historischer Bildtradition, aktuellen Assoziationsmöglichkeiten und zukünftiger Seherfahrung" (264). Damit wurden Muster bereits "normaler Bilder" aus dem cineastischen, technischen und belletristischen Bereich übernommen, um die Bilder einer neuen medizinischen Technik zu stabilisieren.
Zusammenfassend zeichnet sich die Textsammlung durch klar formulierte, vorangestellte Fragestellungen aus, die von der überwiegenden Mehrzahl der Autoren aufgegriffen werden. Dadurch erhalten auch aus anderen Zusammenhängen bekannte Fallstudien eine neue Perspektive. Die sinnvolle Untergliederung in drei Teile ermöglicht die Erschließung "normaler Bilder" aus unterschiedlichen Disziplinen, ohne dass die Beiträge durch eine zu weite Streuung unvermittelt nebeneinander stehen würden. Insgesamt ist es den Herausgebern gelungen, innerhalb des "iconic turn" über das relevante Themengebiet der visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeiten einen tiefgründigen Überblick zu geben. Das "Normale" wird hier als hinterfragbar entlarvt. Doch wäre bei einem Buch zu einem Bildthema manches Mal eine Argumentation direkt an einzelnen Bildern wünschenswert gewesen. Dieses Defizit zeigt sich teilweise schon formal in der gewählten Bebilderung: Wenn etwa David Gugerli in seinem Artikel die Anlehnung medizinischer Bilder an Bildtraditionen außermedizinischer Bereiche feststellt, enthält er dem Leser jegliches Bildbeispiel vor. Und auch das Cover des Buches zeigt ein keinesfalls für den Laien "normales Bild" aus der Gehirnforschung und steht damit im Widerspruch zum Buchtitel, der das Programm dieser unter dem Strich äußerst lesenswerten Lektüre vorgibt.
Jochen Hennig