Michael Erbe: Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1785-1830 (= Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen; Bd. 5), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004, XVI + 441 S., ISBN 978-3-506-73725-0, EUR 88,00
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Als 1997 der Pilotband des "Handbuchs der Geschichte der Internationalen Beziehungen" über den Zeitraum zwischen 1700 und 1785 aus der Feder von Heinz Duchhardt erschien, war wohl weder für die Herausgeber noch für die Leser absehbar, dass dieses wichtige Publikationsvorhaben sich nur sehr langsam realisieren lassen würde. [1] Zwei Jahre später wurde bereits der Band von Winfried Baumgart über die Internationale Beziehungen von 1830 bis 1878 ausgeliefert, aber bis zur Veröffentlichung des Bandes von Michael Erbe sollten dann noch fünf weitere Jahre vergehen. [2] Nun liegen zumindest die Darstellungen für das 18. und den Großteil des 19. Jahrhunderts geschlossen vor. Um das erklärte Ziel der Herausgeber Heinz Duchhardt und Franz Knipping zu erreichen, "die Gesamtheit der Internationalen Beziehungen der Neuzeit systematisch zu durchleuchten" (XIII), müssten auch die übrigen sechs vorgesehenen Bände möglichst bald herauskommen. Erst dann wird sich auch erweisen, wie tragfähig die vorgegebene Gliederung in einen systematischen und einen chronologischen Darstellungsteil ist, die dem Handbuch inhaltliche Geschlossenheit sichern soll. Während Duchhardt und Baumgart dieses Grundschema noch ohne große Schwierigkeiten anwenden konnten, ist dies Michael Erbe für die Zeit zwischen 1785 und 1830 erkennbar schwer gefallen.
Der eigentlich den Strukturen vorbehaltene Teil des Buches (15-278) ist weitaus umfangreicher als der ereignisgeschichtliche Abschnitt (279-391), nicht zuletzt deshalb, weil er in erheblichem Umfang selbst Handlungsverläufe internationaler Politik schildert. Ein erster, gut 70 Seiten umfassender Abschnitt behandelt primär ideengeschichtliche Aspekte und die administrativen, militärischen und finanzpolitischen Rahmenbedingungen der Außenpolitik im Europa des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Das zentrale Kapitel des ersten Teils mit annähernd zweihundert Seiten ist den "Akteuren" gewidmet, also den Staaten und Reichen um 1800. Die machtpolitisch stärksten Staaten des späten 18. Jahrhunderts, Großbritannien und Frankreich, werden ebenso vorgestellt wie beispielsweise die napoleonischen Neuschöpfungen Westphalen und Berg, das mehrfach geteilte Polen oder das Osmanische Reich. Weil die Umbrüche in der Staatenwelt besonders heftig ausfielen, nicht nur Grenzen in rascher Folge verschoben wurden, sondern Akteure von der Bildfläche verschwanden oder neue Staaten entstanden, sieht Erbe sich häufig gezwungen, den politischen Ereignissen, die für die Entwicklung einzelner Staaten wichtig wurden, breiten Raum zu geben. Das führt unvermeidlich zu Wiederholungen und trägt dazu bei, dass einige Unterkapitel den Rahmen sprengen. So sind mehr als zehn Seiten über die Territorien der Wittelsbacher - bei insgesamt knapp vierhundert Textseiten - einfach zu viel.
Prekärer ist allerdings der Gesamteffekt: Allein der Aufbau der Darstellung führt dazu, dass sich leicht der Eindruck einer Aneinanderreihung von durchaus informativen Skizzen zur Außenpolitik einzelner Staaten einstellt. Im Hinblick auf die Aufgabenstellung eines Handbuchs ist das an sich nicht verwerflich, und gerade die Unterkapitel über das Osmanische Reich und Persien, Indien und China bieten wertvolle Anstöße zur Beschäftigung mit der außereuropäischen Dimension internationaler Politik. Die besondere Architektur des Bandes erschwert aber zugleich den Blick auf größere Zusammenhänge und auf die Veränderungen der Funktionsweise des internationalen Systems. Fast an keiner Stelle wird direkt zur viel diskutierten These Paul W. Schroeders vom "systemischen Wandel" in der internationalen Politik 1814/15 Stellung bezogen. [3] Nur ganz am Ende seiner Darstellung lässt Erbe seine Skepsis gegenüber Schroeders Vorstellungen anklingen, wenn er vor allem Kriegsmüdigkeit, Staatsschulden sowie die territoriale Konsolidierung und Expansion der Siegermächte für die relative Stabilität der Friedensordnung verantwortlich macht und weniger die "Einsicht in die Notwendigkeit eines friedlichen Miteinanders" (393). Erbe steht hier offensichtlich eher den Traditionen des "Realismus" in den Internationalen Beziehungen nahe. Das könnte erklären, warum er den Verschiebungen in der territorialen Zusammensetzung der Staatenwelt so viel Platz einräumt. Auch seine Einschätzung des Heiligen Römischen Reichs als "Gleichgewichtssystem von Territorien unterschiedlichster Größe" deutet in diese Richtung (123).
Leider fehlt hier wie auch bei anderen Themen eine explizite Auseinandersetzung mit Forschungspositionen. Das entspricht wohl dem Grundkonzept des Handbuchs, schränkt aber den Nutzen des Bandes für die Leser ein. Die Literaturhinweise zu den einzelnen Unterkapiteln können dafür keinen Ersatz bieten. Anders als Baumgart dies in seinem Band getan hat, verzichtet Erbe auch auf eine systematische Darstellung der "Grundtatsachen und Grundkräfte" internationaler Politik, also der "forces profondes", auf deren Bedeutung für die Geschichte der internationalen Beziehungen Pierre Renouvin und Jean-Baptiste Duroselle hingewiesen haben. [4] Unter den "Mitteln der Außenpolitik" werden manche dieser "Grundkräfte" kurz angesprochen, aber das kann nicht genügen. Unerklärlich ist beispielsweise, warum der öffentlichen Meinung als Faktor zwischenstaatlicher Politik kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird. Zwar stellt Erbe einige Protagonisten der Friedensdiskussion in der Publizistik um 1800 vor, aber die Möglichkeiten und Grenzen politischer Propaganda werden nur ganz kursorisch erwähnt (42 f.). Das ist umso erstaunlicher, als der Band mit einer ganzen Reihe von zeitgenössischen politischen Karikaturen illustriert ist.
Als Überblick über die Entwicklung der Staatenwelt und über zentrale Ereignisse der internationalen Politik ist der Band dennoch zweifellos geeignet. Insgesamt 18 Karten erleichtern die Orientierung und tragen mit den zahlreichen Abbildungen zur leserfreundlichen Gestaltung des Werkes bei. Das Quellen- und Literaturverzeichnis ermöglicht weitere Recherchen. Trotz der unbestreitbaren Vorzüge des Bandes stellt sich allerdings die Frage, ob die Konzeption des Handbuchs nicht doch etwas modifiziert werden sollte. Mehr Flexibilität im Hinblick auf das Gliederungsschema käme vermutlich manchen Autoren entgegen, und die ausdrückliche Erwähnung von Forschungskontroversen wäre mit Sicherheit ein Gewinn für die Leser. Die Sorge, dass damit der Inhalt des Handbuchs zu schnell veralten könnte, ist letztlich unbegründet, denn auch ein groß angelegtes Publikations-Projekt soll und kann selbstverständlich nicht anderes als den Wissenstand und die Fragestellungen seiner Entstehungszeit wiedergeben. Wichtiger als solche Modifikationen im Detail erscheint jedoch, dass die noch ausstehenden Bände des Handbuchs rasch erscheinen, damit endlich eine umfassende Darstellung internationaler Politik in der Neuzeit vorliegt. Die Geschichte der Internationalen Beziehungen stößt wieder auf stärkeres Interesse, und es ist höchste Zeit für einen soliden Gesamtüberblick über dieses Themenfeld.
Anmerkungen:
[1] Heinz Duchhardt: Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700-1785 (= Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen; 4), Paderborn u.a. 1997.
[2] Winfried Baumgart: Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830-1878 (= Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen; 6), Paderborn u.a. 1999.
[3] Paul W. Schroeder: The Transformation of European Politics, 1763-1848, Oxford 1994; ders.: Did the Vienna Settlement Rest on a Balance of Power?, in: American Historical Review 97 (1992), 683-706.
[4] Winfried Baumgart: Europäisches Konzert, 3-111 (s. Anm. 2); Pierre Renouvin / Jean-Baptiste Duroselle: Introduction à l'histoire des relations internationales, 4. Auflage, Paris 1991.
Günther Kronenbitter