Daniela Schanes: Serbien im Ersten Weltkrieg. Feind- und Kriegsdarstellungen in österreichisch-ungarischen, deutschen und serbischen Selbstzeugnissen (= Neue Forschungen zur ostmittel- und südosteuropäischen Geschichte / New Researches on East Central and South East European History / Recherches nouvelles sur l'histoire de l'Europe centrale et orientale; Bd. 3), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2011, 390 S., 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-631-61844-8, EUR 62,80
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Paul Miller-Melamed: Misfire. The Sarajevo Assassination and the Winding Road to World War I, Oxford: Oxford University Press 2022
Der Balkanraum gehört zu den Schauplätzen des Ersten Weltkriegs, die die Forschung eher vernachlässigt hat. Trotz der Studien von Andrej Mitrović und Jonathan E. Gumz liegen in deutscher, englischer oder französischer Sprache nur wenige Arbeiten vor, die sich schwerpunktmäßig mit Serbien im Ersten Weltkrieg befassen. Die vorliegende Untersuchung ist deshalb eine willkommene Ergänzung des bisher recht dürftigen Angebots an Monographien zu diesem Thema.
Schanes setzt sich zum Ziel, die Darstellung des Gegners und die Sicht auf den Krieg zwischen den Mittelmächten und Serbien aus Selbstzeugnissen der Zeitgenossen herauszuarbeiten. Zentrale Bedeutung haben in diesem Kontext Ego-Dokumente des militärischen Führungspersonals der Habsburgermonarchie, Serbiens und Deutschlands. Der von Schanes weitaus am stärksten genutzte Quellenbestand sind Nachlässe und Memoiren österreichisch-ungarischer Offiziere. Aus der Fülle an Nachlässen von Offizieren der k. u. k. Armee mit Weltkriegserfahrung, die im Österreichischen Staatsarchiv in Wien aufbewahrt werden, hat Schanes zunächst 45 Fälle eingesehen und davon 33 ausgewertet. In diesen Nachlässen erweisen sich Kriegstagebücher und unpublizierte autobiographische Texte als besonders nützlich für die Suche nach Perzeptionsmustern. Zusammen mit den nach 1918 veröffentlichten Darstellungen aus der Feder hochrangiger Militärs der untergegangenen Habsburgermonarchie ergeben Funde aus den Nachlässen ein gut abgesichertes Bild der Wahrnehmung Serbiens, des Landes, seiner Armee und seiner Bewohner. Für die Analyse der Selbst- und Feinbilder auf serbische Seite ist offenkundig keine vergleichbar reichhaltige Quellenbasis vorhanden. Die Zahl der gedruckten Memoiren, die dafür zur Verfügung stehen, ist vergleichsweise gering. Dementsprechend überwiegt in der Studie bei weitem die Sicht österreichisch-ungarischer Offiziere.
Nach einführenden Bemerkungen zum Forschungsstand, zur Quellengrundlage und zur Stereotypenforschung sowie zum serbischen Selbstbild wendet sich Schanes im Hauptteil einer weitgehend ereignisgeschichtlich gegliederten Darstellung der Wahrnehmung des Serbien-Krieges, seiner Vorgeschichte, seines Verlaufs und der Besatzung des Landes bis zur Rückeroberung zu. Die Einschätzung des potentiellen militärischen Gegners in der Vorkriegszeit und ein kurzer Blick auf die Feldherren beider Seiten bereiten auf die Untersuchung der Kriegszeit vor. Hier wird der Bogen von den Reaktionen auf die Nachricht vom Attentat in Sarajevo bis zur Eroberung Serbiens und schließlich auch Montenegros geschlagen. Der Besatzungszeit, die schon bei Mitrović und Gumz behandelt wurde und über die seit 1928 in Hugo Kerchnawes Beitrag zur Carnegie Series eine facetteneiche Darstellung eines Akteurs der Okkupationspolitik vorliegt, ist ein umfangreiches Kapitel gewidmet. Es endet mit einem Blick auf die Rückeroberung des Landes im Herbst 1918.
Das letzte Kapitel vor der Schlussbetrachtung befasst sich unter der Überschrift "Nachhall" mit der Kriegsschulddebatte und der retrospektiven Beurteilung der militärischen Führer, der Besonderheiten des serbischen Krieges und der Stereotypen, die bei der Einschätzung der Balkanvölker und insbesondere der Serben durch österreichisch-ungarische Offiziere nach 1918 sichtbar werden. Die Befunde werden in diesem Abschnitt eher systematisch gegliedert, endet doch der chronologisch aufgebaute Teil mit den Ereignissen des letzten Kriegsjahres. Allerdings ist dieser Abschnitt sehr knapp gehalten.
Dennoch: Es ist gerade dieser Abschnitt am Ende der Studie, der klar macht, wie sehr das im Hauptteil vorherrschend angewendete Prinzip der ereignisgeschichtlichen Strukturierung einer genaueren Analyse des Quellenkorpus im Weg steht. Die Texte der österreichisch-ungarischen Offiziere, die unter den herangezogenen Quellen so eindeutig dominieren, werden zur Veranschaulichung der Ereignisgeschichte zitiert, aber nur selten genauer auf ihre sprachliche Gestalt oder gar auf Argumentationsstrukturen hin untersucht. Obwohl in der Einleitung auf Ansätze der Stereotypenforschung eingegangen wird, fehlt im Hauptteil eine Umsetzung der eingangs angesprochenen Zugriffsmöglichkeiten. Was die nicht selten ausführlich zitierten Wahrnehmungen des Krieges und des Feindes bedeutsam machen könnte, bleibt daher eher unklar. Ein scharfes Bild der Perzeptionsmuster kann so nicht entstehen.
Es bleibt jedoch festzuhalten, dass Schanes mit dieser Monographie interessantes Quellenmaterial zugänglich gemacht und damit eine sehr erwünschte Ergänzung der Literatur zum Serbien-Krieg vorgelegt hat. Gerade die Hinweise auf unpublizierte Ego-Dokumente im Wiener Staatsarchiv werden dankbar aufgegriffen werden.
Günther Kronenbitter