Rezension über:

Marina Warner: Fantastic Metamorphoses, Other Worlds. Ways of Telling the Self (= The Clarendon Lectures in English 2001), Oxford: Oxford University Press 2004, XV + 264 S., 38 fig., ISBN 978-0-19-926684-5, GBP 12,99
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Rezension von:
Birte Christ
Englisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Birte Christ: Rezension von: Marina Warner: Fantastic Metamorphoses, Other Worlds. Ways of Telling the Self, Oxford: Oxford University Press 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 4 [15.04.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/04/6710.html


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Marina Warner: Fantastic Metamorphoses, Other Worlds

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Fantastic Metamorphoses, Other Worlds. Ways of Telling the Self. Lang ist er, zugegeben, aber selten repräsentiert ein Titel Thema und Erkenntnisinteresse einer Untersuchung so pointiert wie dieser: Marina Warner befasst sich mit körperlichen Metamorphosen des Menschen, die in der westlichen Welt immer wieder im Zentrum fantastischer Geschichten stehen - seien diese vermittelt über Malerei, Musik, Spektakel, Geschichtsschreibung, Fotografie oder Literatur. Zur verstärkten Auseinandersetzung mit solchen Verwandlungen, so Warner, kommt es dann, wenn eine Kultur mit "anderen Welten" Kontaktzonen teilt, durch welche die Imagination erweitert wird. Geschichten von Metamorphosen sind immer Erkundungen der Befindlichkeit des Individuums; Umbrüche in der Form, in der diese Geschichten erzählt werden, reflektieren einen Wandel von Identitätskonzeptionen westlichen Denkens.

Die Studie ist in vier Kapitel mit den Titeln "Mutating", "Hatching", "Splitting" und "Doubling" gegliedert, mythopoetische Figuren für die nach Warner dominierenden Formen der Metamorphose im 16., 18., 19. respektive im 20. Jahrhundert. Eine ausführliche Einleitung und ein Epilog rahmen die Kapitel; das Buch ist mit zahlreichen Farb- und Schwarz-Weiß-Illustrationen ausgestattet.

Ihren Ausgangspunkt für die Analyse von Identitätskonzeptionen in der westlichen Kultur nimmt Warner - nicht unerwartet - bei Ovids Metamorphosen. Ovids Gedicht ist einerseits dem Glauben an die Metempsychose verpflichtet. Die immaterielle Seele, die Essenz des Individuums, ist unsterblich und wandert von Körper zu Körper. Andererseits verändert sich auch die Materie, der Körper selbst. Diese beiden Formen des Wandels - wiederkehrend in Warners vier Figuren der Metamorphose - werden zum movens der Natur als ganzer. Nach Warner zeigt Ovid so das gesamte Universum als eine Welt des "eternal flux", des "prevailing law of mutability and change" (4).

Warners Lektüre von Ovids Metamorphoseon Libri sowie ihre historische Metaphysik des Subjekts, die ihre Repräsentation jedoch in physikalischen Verwandlungen findet, erinnern an Michel Serres' Lektüre von Lukrez' De rerum natura [1] und seinen meta-physischen Materialismus des Kosmos. Serres wie Warner begreifen Fluidität und Multiplizität als ontologische Grundlage des Seins; beide sehen in diesem "Chaos" die der Welt zu Grunde liegende Konstante, die zu verschiedenen historischen Momenten mehr oder weniger stark wahrgenommen wird; beide identifizieren eine dieser ontologischen Grundlage widerstrebende Kraft - bei Warner die christliche Doktrin, bei Serres die Newton'sche Physik -, die Multiplizität und Ungeordnetes gegenüber Identität und Ordnung als falsch, als "evil" (43) oder "untruth" (39) designiert. Für Warners Untersuchung bedeutet dies, dass dem lebensbejahenden Prinzip der Metamorphose seit dem Mittelalter immer auch das Monströse, das Obszöne, das Diabolische anhaftet. In Serres' wissenschaftsphilosophischem Rahmen ist es die Entdeckung der Quantenphysik, die eine erneute Hinwendung zur Denkform der Multiplizität - in Lukrez' Traditon - anstößt, bei Warner ist es in Bezug auf Identitätskonzeptionen die Entdeckung Amerikas: "The New World [...] offered extraordinary possibilities for thinking differently"(35) - in ovidischer Tradition.

Im ersten Kapitel, "Mutating", beschreibt Warner diesen transformierenden Kontakt Europas mit Amerika. Sie entwickelt in äußerst fruchtbarer Weise Paul Gilroys und Ashis Nandys Theorien zum Kolonialismus als einer "shared culture" von "colonizers and the colonized" (21) durch ihre Anwendung weiter. [2] Ihr Gegenstand sind kulturelle Texte, die nach Peter Hulme [3] als congeners fungieren und "through which one culture interacts with and responds to another [and which] can cast light by virtue of their deeper similarities, independently of any putative influence. The object of study is the common coinage, not a numbered account" (18); methodisch ist sie so dem New Historicism verpflichtet.

Warner liest zunächst Hieronymus Boschs Triptychon Der Garten der Lüste als das Paradebeispiel eines congeners. In Europa kursieren ab Ende des 15. Jahrhunderts die Verwandlungsmythen der karibischen Taíno, die von dem Jesuitenpater Ramón Pané im Auftrag Christopher Columbus' aufgezeichnet wurden. Warner deckt als Erste die Vielzahl von Gemeinsamkeiten der Bosch'schen und der Bildlichkeit der Taíno-Mythen auf; eine dieser Gemeinsamkeiten ist die Mutation von Menschen in Früchte.

Die Toten der Taíno nämlich erwachen nachts und verwandeln sich in Früchte; in dieser Erscheinungsform mischen und paaren sie sich bis zum Anbruch des neuen Tages mit den Lebenden. Das mittlere Panel des Gartens der Lüste zeigt vor allem "weird acts with fruit", die Warner nicht zu Unrecht als "fruitarians' bacchanal" (44) beschreibt: Menschen essen gemeinsam übergroße Beeren, spielen mit ihnen, entschlüpfen aus ihnen, verstecken sich paarweise darin, tragen sie anstatt eines Kopfes. Das Gemälde, so die bisherige Forschung, stellt moralisierend die Fruchtmetamorphosen als Deformation und Schande dar; die Beerenfrüchte müssen in der christlichen Tradition als Insignien der Todsünde Wollust gedeutet werden. Der Garten spiegelt aber genauso karibische Bilder von lustbetonter Wandelbarkeit des menschlichen Körpers: Das Individuum als unschuldiges, vitales, sexuelles Wesen jenseits christlicher Dogmen wird denkbar. Diese erweiterte Dimension geht verloren, solange das Bild nicht als congener von Mythen aus der Neuen Welt verstanden wird.

In den folgenden drei Kapiteln stellt Warner auf gleiche Weise faszinierende Verbindungen zwischen einer kaum zu überschauenden Zahl kultureller Texte her. In "Hatching" zeigt Warner die Schnittstellen von Maria Merians revolutionären Erkenntnissen zur Schmetterlingsmetamorphose - gewonnen bei einem Forschungsaufenthalt in der niederländischen Kolonie Surinam um 1700 - mit Leda-Verarbeitungen von Palumba bis Yeats sowie mit Kafkas Die Verwandlung und Nabokovs Lolita auf. Mit Merians Darstellung des "Schlüpfens" von Insekten aus den Eiern und Hüllen völlig anders gearteter Wesen beginnt die Vorstellung einer geradlinigen, teleologischen Persönlichkeitsentwicklung des Individuums zu schwinden.

Im Kapitel "Splitting" verfolgt Warner die Geschichte des Zombies. Ursprünglich eine Gottheit brasilianischer Ureinwohner, gewann die Figur des Zombie über Coleridges Rezeption von Richard Southeys History of Brazil Bedeutung für Europa und ermöglichte Reflektionen über Entfremdung, innere Leere und moralische Unzulänglichkeiten des Individuums. Warner untersucht Schauer-Spektakel mit kolonialen Motiven in London, Formen des Aladin-Stoffes, Texte von Zora Neale Hurston und Jean Rhys' Wild Sargasso Sea.

"Doubling", das letzte Kapitel, ist Vorstellungen gedoppelter Identitäten von Shakespeare über Shelley, Stevenson und Hyde bis Lewis Carroll gewidmet, die sich gleichfalls aus dem kolonialen Kontakt sowie aus der Erfindung der Fotografie speisen. Das Double verkörpert nach Warner gleichzeitig Ängste und Wünsche des Individuums im 20. Jahrundert: Einerseits Entfremdung und Kontrollverlust, andererseits Entgrenzung und die Freiheit des "self-fashioning". Die Technik des Klonens, Geschichten über Doppelidentitäten bei postmodernen Autoren wie Pullmann, Rushdie oder Atwood sowie die erneute Aufarbeitung der ovidischen Sagen durch Heaney, Hughes, A.S. Byatt oder Anne Carson, so Warner in ihrem Epilog, machen die anhaltende Bedeutung der Figur der Metamorphose in der westlichen Kultur deutlich.

Fantastic Metamorphoses untersucht detailliert und argumentativ überzeugend die Bedeutung des Kolonialismus für den Wandel westlicher Vorstellungen von Identität und leistet damit einen so originellen wie wegweisenden Beitrag in den Bereichen der Postcolonial Studies und der westlichen Mentalitätengeschichte. Es gelingt Warner damit gleichfalls, die Rezeptionsgeschichte der ovidischen Metamorphosen neu zu perspektivieren und Umbrüche und Entdeckungen in den Naturwissenschaften mit Veränderungen von Identitätskonzepten in Relation zu setzen.

Die einzige Schwäche des Textes besteht darin, dass der panoramische Blick über eine beeindruckende und faszinierende Fülle von Beispielen zuweilen - vor allem im zweiten Kapitel - Argumentation und Thesen so weit in den Hintergrund drängt, dass er zum Selbstzweck zu werden droht. Eine Peinlichkeit - nicht für Warner, aber für das Lektorat von Oxford University Press - sind die Rechtschreibfehler in den deutschen Zitaten aus Kafkas "Die Vervandlung" (sic! 113).

Fantastic Metamorphoses ist, davon abgesehen, eine wunderbar anregende intellektuelle Reise durch Kunst, Literatur und Naturwissenschaft. Man wünschte sich, dass alle Kulturwissenschaftler und Kulturwissenschaftlerinnen einen solchen multi-disziplinären Horizont und Fähigkeiten zur Einordnung besäßen - und besonders, dass alle so gut schreiben könnten.


Anmerkungen:

[1] Michel Serres: La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce: fleuves et turbulences, Paris 1977.

[2] Paul Gilroy: The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness, London 1993; Ashis Nandy: The Intimate Enemy: Loss and Recovery of Self under Colonialism, New Delhi 1983.

[3] Peter Hulme: Colonial Encounters: Europe and the Native Caribbean 1492-1797, London 1986.

Birte Christ