Eva M. Thury / Margaret K. Devinney (eds.): Introduction to Mythology. Contemporary Approaches to Classical and Worlds Myths, Oxford: Oxford University Press 2005, xiv + 722 S., ISBN 978-0-19-515889-2, GBP 34,50
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Eva M. Thurys und Margaret K. Devinneys Introduction to Mythology ist ein anglo-amerikanisches 'textbook' für das Grundstudium - und zwar ein exzellentes Exemplar dieser Gattung. Für die Lehre an deutschen Universitäten - sei es in der Anthropologie, den Altertumswissenschaften oder der Literaturwissenschaft - ist das Buch jedoch ungeeignet. Die contemporary approaches des Untertitels sind so stark auf spezifisch US-amerikanische Zeitgeschichte und Gegenwartsmythen ausgerichtet, dass das Buch sein Ziel, nämlich die Erleichterung eines zunächst identifikatorischen Zugangs zu classical and world myths über Analogien zur eigenen Lebenswirklichkeit, im deutschen Kontext verfehlen würde. Wäre dies nicht der Fall, so würde man wohl dennoch dieser Publikation in Deutschland aus einem anderen Grund mit Ressentiments begegnen und diese und Publikationen seiner Art - meines Erachtens zu Unrecht - auch schlicht nicht nutzen wollen. In ihrer Form der Ansprache nämlich und der Annahme der Voraussetzungslosigkeit machen 'textbooks' dem Mythos (!) des umfassend vorgebildeten und allein von seiner wissenschaftlichen Neugier angetriebenen Humboldtschen Idealstudenten - an dessen Existenz wir, aller gegenteiliger Indizien zum Trotz, gerne weiterhin glauben würden - den Garaus.
Introduction to Mythology stellt auf über 700 Seiten und in 41 Kapiteln Mythen sowie Kontexte, in denen Mythen oder der Begriff des Mythos relevant werden, vor. Wie üblich für 'textbooks' synthetisiert die Einführung keine Inhalte von Mythen oder wissenschaftliche Interpretationen, sondern stellt umfangreich Primärtexte und Sekundärtexte zur Verfügung, ordnet sie ausführlich ein, kommentiert und erklärt. Die ersten beiden Kapitel, die, wie Thury and Devinney in ihrem Vorwort betonen, "von allen gelesen werden sollten" (ix), explizieren am Beispiel von Ilias und Odyssee den Mythosbegriff, mit dem das Buch arbeitet. Sie zeigen auf, welche Bedeutung das Studium von Mythen sowohl für eine Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen aber auch für das Weltverständnis des modernen Individuums hat oder haben kann.
Der erste große thematische Teil ist den mythischen Erzählungen selbst gewidmet. Er ist gegliedert in Schöpfungs- bzw. Zerstörungsmythen und Mythen, in deren Zentrum Helden und "tricksters", also Halunken und Grenzgänger stehen. Wie der Untertitel der Einführung verspricht, wird hier mit Texten und Textauszügen aus der griechischen und römischen Antike, der Bibel, der Edda oder dem Gilgamesch-Epos das Feld der klassischen Mythen sehr umfangreich abgedeckt, aber gleichfalls Mythen aus afrikanischen, nordamerikanischen und asiatischen Kulturen Platz eingeräumt. Außerdem führen Thury and Devinney in drei Kapiteln in Theorien über den Helden im Mythos sowie die strukturalistische Mythos-Analyse von Levi-Strauss ein.
Im dritten Teil werden der Mythos als Konzept und spezielle Mythen in den Kontext der Ritual-, Traum- und Märchenforschung gestellt, sowie die Konstruktion dreier "moderner amerikanischer Mythen" - des Daniel Boone-Mythos und der TV-Serien Star Trek und The X-Files - analysiert. Den Abschluss bilden drei Kapitel zur literarischen Mythosrezeption mit Schwerpunkten auf anglo-amerikanischer Lyrik, indigener amerikanischer Literatur und spezifisch "moderner" Adaptionen im 20. Jahrhundert.
Die "Einführung" ist didaktisch hervorragend aufgebaut und ermöglicht flexibles Arbeiten und diverse Selektionsmöglichkeiten für den Unterricht wie das Selbststudium. Jedem Kapitel ist unter dem Titel "What to expect..." eine knappe Kapitelvorschau vorangestellt, die für die zentralen Fragestellungen des jeweiligen Kapitels sensibilisiert. Es folgt eine Einführung der Autorinnen, dann ein langer Auszug oder Auszüge aus einem oder mehreren Primärtexten und abschließend Beiträge aus der Forschungsliteratur, die wiederum von den Autorinnen sehr luzide in die Forschungsgeschichte oder den theoretischen Kontext eingeordnet werden. Dank typographischer Absetzung der verschiedenen Texttypen lässt sich ein Überblick über Aspekte einzelner Kapitel sehr gut gewinnen; bereits bearbeitete Kapitel können von Studierenden so effizient wiederholt werden. Mit Bedacht ausgewählte Bibliographien von etwa acht bis zehn Titeln, die den studentischen Leser nicht durch Masse erschlagen, aber doch einen vertieften Überblick bieten und verschiedene Phasen sowie den aktuellen Stand der Forschung widerspiegeln, runden jedes Kapitel ab.
Dem jeweiligen Fließtext sind äußerst umfangreiche Marginalia beigefügt, die Stichworte aus dem Text aufnehmen und erläutern, Definitionen von Fremdwörtern, Figuren und Konzepten bereitstellen oder extensiv auf Parallelen und Unterschiede zu anderen Mythen verweisen, die im Buch vorgestellt werden. Darüber hinaus veranschaulichen Karten, Illustrationen und tabellarische Übersichten die diskutierten Inhalte. In ihrem Vorwort bieten die Autorinnen verschiedene Alternativen zur klassischen Deckel-zu-Deckel-Lektüre des Buches an. Diese alternativen "Leserouten" ermöglichen es, das Studium zum Beispiel auf afrikanische oder klassische Mythen oder auch einen rein theoretischen Zugang zum Phänomen Mythos zu konzentrieren, wobei das Buch tatsächlich so aufgebaut ist, dass beim Überspringen von Kapiteln keine Informationslücken entstehen.
Die Autorinnen, wie insbesondere die Erläuterungen in den Marginalia aber auch der eher umgangssprachliche Stil zeigen, gehen bei ihren Adressaten von keinerlei Vorwissen über Inhalte von mythischen Erzählungen - sei es die Bibel oder Ragnarok - oder über die Mythosforschung aus. Obwohl daher einige der Kapitel für den fortgeschrittenen Leser zunächst eine fast unerträglich naive Perspektive einnehmen, gelingt es den Autorinnen durch geduldiges Erläutern, Ausführlichkeit und zahlreiche Querverweise einen sehr differenzierten Blick auf die Funktionen von Mythen in verschiedenen Epochen und für verschiedene Rezipienten zu entwickeln. Während die Autorinnen beispielsweise eine Parallele zwischen den daheim gebliebenen Familien des Odysseus und der amerikanischen Soldaten im Vietnam- und Irakkrieg ziehen, um die Relevanz klassisch-mythologischer Themen für amerikanische Studenten emotional plausibel zu machen, so wird dieser Zugang sofort durch Hinweise auf die grundsätzliche Alterität der antiken griechischen Gesellschaft relativiert und so der Gefahr widerstanden, kulturelle Unterschiede einzuebnen und die Funktionen von Mythen in unterschiedlichen Kontexten zu simplifizieren (12-14).
Im amerikanischen Kontext wird dieses Lehrbuch den Studierenden ein umfangreiches Faktenwissen vermitteln und sie zu einem reflektierten Nachdenken über den Mythos hinführen. Im deutschen Kontext jedoch werden, wie bereits erwähnt, die Zugänge, die das Buch über die amerikanische Alltagswirklichkeit sucht, eher befremdlich wirken - von der sprachlichen Hürde einmal ganz abgesehen.
Dennoch verdient ein Buch wie Introduction to Mythology als exzellenter Vertreter seiner Art die Aufmerksamkeit der Lehrenden an deutschen Universitäten. Lehrbücher, die umfangreiche Quellen sowie umfangreiche Sekundärliteratur kombiniert bereit- und somit zur Diskussion stellen, die das Interesse der Studierenden am Stoff aufrecht erhalten, weil sie weder in Ignoranz oder Arroganz zu viel voraussetzen oder die Studierenden für dumm verkaufen, und die das Hantieren mit individuell und oft dilettantisch zusammengestellten Kopiervorlagen und Skripten überflüssig machen würden, sind bei uns Mangelware. Dass jeder Lehrende an deutschen Universitäten das Rad der Lehre neu erfinden muss, dass er abgesehen von synthetischen Einführungen in Themen bei der Auswahl von Texten meist auf sich allein gestellt bleibt und kaum auf publizierte Lehrbücher zurückgreifen kann, führt meines Erachtens nur in den allerwenigstens Fällen zu didaktischer Exzellenz. An Thurys und Devinneys Einführung können Lehrende und Forschende vielleicht nichts über den Mythos lernen, das sie nicht schon wüssten - aber sehr viel darüber, welche Art von Büchern sie schreiben müssten, um die Lehre an deutschen Universitäten für Lehrende wie Studierende gleichermaßen zu verbessern.
Birte Christ