Debra Hamel: Der Fall Neaira. Die wahre Geschichte einer Hetäre im antiken Griechenland. Aus dem Englischen von Kai Brodersen, Darmstadt: Primus Verlag 2004, 224 S., 17 Abb., 2 Karten, ISBN 978-3-89678-255-7, EUR 24,90
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Neben Aspasia, der Gefährtin des Perikles, ist Neaira die berühmteste griechische Hetäre. Die im Corpus der demosthenischen Gerichtsreden überlieferte Rede "Gegen Neaira" (Pseudo-Demosthenes 59) schildert detailliert den Lebensweg der Kurtisane und vermittelt mit ihren vielen Exkursen und Ausschmückungen ein lebendiges Bild Athens im 4. Jahrhundert vor Christus.
In dem hier anzuzeigenden Buch erzählt Hamel die Lebensgeschichte der Neaira in brillantem Stil und in ausgewogener Form nach. Fachliche Kenntnisse werden nicht vorausgesetzt. In drei großen, chronologisch angelegten Kapiteln verfolgt Hamel Neairas Lebensweg von ihrer Kindheit als Sklavin in einem Bordell bis zum Prozess, der Neaira zurück in die Sklaverei zu zwingen drohte. Für den weiteren Lebensweg fehlen jegliche Quellen.
Lange Zeit ist Neairas Leben als skandalträchtige Karriere einer Prostituierten nacherzählt worden. Trotz des etwas reißerischen Titels ist Hamels Darstellung viel ehrlicher. Apollodoros, neben einem gewissen Theomnestos der zweite Ankläger im Verfahren, hat zwar Neaira vor Gericht gezogen, doch eigentlich gilt der Angriff Stephanos, mit dem Neaira zusammenlebt. Apollodoros spricht offen aus, dass er Neaira aus Rache angeklagt habe, aus Rache an Stephanos, mit dem er eine persönliche und politische Fehde austrägt. Durch die Schmutzkampagne geraten auch Neaira und die Tochter Phano unter die Räder.
Schritt für Schritt zeichnet Hamel den Weg der Neaira nach: Von ihrer Herrin Nikarete zusammen mit anderen Mädchen für den Dienst als Prostituierte und Hetäre bereits in jungen Jahren ausgebildet, wird sie - immer noch eine Sklavin - an zwei Liebhaber verkauft, die sie exklusiv für sich beanspruchen wollen. Als sie zu heiraten beschließen, bieten sie Neaira den Freikauf an. Da sie aber die geforderte Summe nicht allein aufbringen kann, gerät sie in die Fänge eines Atheners namens Phrynion, vor dessen übler Behandlung sie nach Megara entflieht. Schließlich nimmt sich Stephanos ihrer an. Er bietet ihr Schutz, und sie kehrt nach Athen zurück. Für eine längere Zeit kann Neaira als Lebensgefährtin des Stephanos ein relativ gesichertes und ruhiges Leben führen. Unter der amourösen Vorgeschichte von Neairas Leben hat in den folgenden Jahren allerdings Phano zu leiden. Nach der böswilligen Darstellung der Anklage ist sie eine Tochter der Hure Neaira, tatsächlich wohl Stephanos' Tochter aus einer ersten Ehe. Zweimal verheiratet Stephanos die Tochter Phano, zweimal wird sie von ihrem Ehemann zurückgeschickt, unter dem Vorwand, sie sei die Tochter einer stadtbekannten Hetäre. Stephanos geht dabei die Mitgift von immerhin 30 Minen verloren, aber er wagt es nicht, vor Gericht für die rechtmäßige Geburt Phanos einzutreten. Zu stark sind die Schatten, die Neairas Vorgeschichte auf das Haus des Stephanos werfen. Schließlich steht Stephanos in einem politischen Konflikt Apollodoros gegenüber. Er versucht, Apollodoros durch eine Anklage wegen angeblicher Tötung einer Sklavin politisch kalt zu stellen. Dann strengt er gegen ihn eine Klage an, Apollodoros habe vor dem Volk einen gesetzwidrigen Antrag gestellt. Apollodoros wird zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Nun schlägt dieser mit der Klage gegen Neaira zurück. In der Rede zieht er alle Register, weist auf Neairas Herkunft aus Sklaverei und Prostitution hin und schildert in den buntesten Farben und mit allen schmutzigen Details ihre sexuellen Ausschweifungen. Stephanos wirft er vor, skrupellos und ohne Achtung vor dem attischen Recht die Kinder dieser Hure Neaira in die athenische Bürgerschaft eingeführt zu haben; arglosen, aber ehrlichen Mitbürgern habe er die von Neaira in allen sexuellen Künsten unterwiesene Phano als angebliche Tochter eines athenischen Bürgers in die Ehe gegeben. Die Anklage im Verfahren gegen Neaira lautet, sie würde als Fremde mit einem Athener in einer Ehe zusammenleben und hätte gemeinsam mit Stephanos versucht, ihre Kinder als Kinder aus einer rechtmäßigen Ehe auszugeben, und sie in die athenische Bürgerschaft eingeschleust.
Hamels Buch erhebt nicht den Anspruch, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu präsentieren. Die anschauliche Schilderung einer uns fremden Welt steht im Vordergrund - und das ist der Autorin vorbildlich gelungen. In einzelnen Episoden werden die vielen Windungen und Wendungen im ereignisreichen Leben Neairas und Phanos nacherzählt. In Exkursen, die mit Zitaten aus anderen einschlägigen Gerichtsreden angereichert sind, erläutert Hamel mit guter Sachkenntnis all die Details, die einem Leser ohne Vorwissen unverständlich bleiben könnten: die Grundlinien des athenischen Erb- und Familienrechts, die Adoption als Strategie, um ein Aussterben der häuslichen Linie zu verhindern, die Verpflichtung reicher Athener, persönliche und finanzielle Leistungen für die Stadt zu erbringen, die Expansion des Makedonen Philipps II. und die Zerstörung Olynths im Jahre 348 vor Christus, den Streit um finanzielle Transaktionen, mit denen Überschüsse in den Militärfonds übertragen werden sollten. Hamel zeigt die Möglichkeiten auf, aus der Rede gegen Neaira grundlegende Bedingungen der griechischen Gesellschaft zu beschreiben, die Lebenswelt von Hetären und Prostituierten, Kauf und Freilassung von Sklaven, Ehebruch mit seinen rechtlichen und sozialen Folgen, die Trennung geschlechtsspezifischer Umgangsbereiche. All dies ist mit großer Leichtigkeit erläutert, zuletzt schließlich der Ablauf des Verfahrens und das Funktionieren athenischer Geschworenengerichte.
Auch wenn Hamel keine neue Interpretation bieten will, so verfolgt sie doch eine klare Linie. Mit einem guten Gespür für plausible Rekonstruktionen weist sie immer wieder darauf hin, wo die Anklage nur eine Schmutzkampagne führt, wo Apollodoros fehlende Glieder in der Indizienketten überspielen muss, indem er geschickt Unterstellungen und irrelevante Beschreibungen präsentiert. Vieles spricht für Hamels Sichtweise, dass Phano tatsächlich eine Tochter des Stephanos war und dass sich in diesem Prozess rächte, dass Stephanos vorher das Risiko gescheut hatte, die Rechtmäßigkeit seiner Kinder durchzufechten. Mehrfach hätten - so Hamel - taktische Gründe zu außergerichtlichen Einigungen geführt. So erhält der Leser einen tiefen Einblick in die Kniffe und Tricks, die Verzerrungen und gezielten Ehrverletzungen, die die Redner vor Gericht den Geschworenen präsentierten.
Hamels Buch orientiert sich in vielen Einzelfragen an den Kommentaren von Kapparis und Carey. [1] Darüber hinaus sind wichtige neuere Publikationen zum griechischen Recht, zur Sozial- und Familiengeschichte einbezogen, allerdings ausnahmslos englischsprachige. Die Anmerkungen sind knapp gehalten. Eine chronologische Übersicht am Ende bietet eine schnelle Orientierung zum Lebensweg der Neaira und zur Vorgeschichte des Prozesses sowie zu den im Prozess genannten politischen Ereignissen. Einem breiten Publikum und Studierenden sei dieses Buch zum Lesen empfohlen - schon allein wegen des Lesevergnügens. Da fast gleichzeitig eine deutsche Übersetzung der Rede erschienen ist - wie auch dieses Buch übersetzt von Kai Brodersen [2] -, ist zu hoffen, dass die Rede "Gegen Neaira" auch im deutschsprachigen Raum wieder mehr Beachtung findet.
Anmerkungen:
[1] Chris Carey: Apollodoros against Neaira [Demosthenes 59], Warminster 1992; Konstantinos Kapparis: Apollodoros "Against Neaira" [D. 59], Berlin 1999.
[2] Kai Brodersen: Frauen vor Gericht: Antiphon, Gegen die Stiefmutter, und Apollodoros, Gegen Neaira (Demosthenes 59), Darmstadt 2004.
Winfried Schmitz