Jörg Baberowski: Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München: DVA 2003, 882 S., ISBN 978-3-421-05622-1, EUR 59,90
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Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München: DVA 2003, 288 S., ISBN 978-3-421-05486-9, EUR 24,90
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Norman M. Naimark: Stalin und der Genozid, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2010
Alexander Vatlin: Tatort Kunzewo. Opfer und Täter des Stalinschen Terrors 1937/38, Berlin: BasisDruck Verlag GmbH 2003
Sarah Davies / James Harris (eds.): Stalin. A New History, Cambridge: Cambridge University Press 2005
Marc Jansen / Petrov Nikita: Stalin's Loyal Executioner. People's Commissar Nikolai Ezhov, 1895-1940, Stanford, CA: Hoover Institution Press 2002
Rolf Binner / Bernd Bonwetsch / Marc Junge: Massenmord und Lagerhaft. Die andere Geschichte des Großen Terrors, Berlin: Akademie Verlag 2009
Wolfram Wette / Detlef Vogel (Hgg.): Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und "Kriegsverrat". Unter Mitarbeit von Ricarda Berthold und Helmut Kramer. Mit einem Vorwort von Manfred Messerschmidt, Berlin: Aufbau-Verlag 2007
Władysław Bartoszewski: Mein Auschwitz. Übersetzt von Sandra Ewers und Agnieszka Grzybkowska, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015
Richard Overy: Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Rußland. Aus dem Englischen von Udo Rennert und Karl Heinz Siber, München: DVA 2005
Mit gleich zwei Büchern auf einmal, einem "Ziegelstein" von Habilitationsschrift und einer an ein breiteres Publikum gerichteten Überblicksdarstellung, ist Jörg Baberowski, Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität, angetreten, das geläufige Verständnis des Stalinismus umzukrempeln. "Alle bisherigen Versuche, die Essenz des Stalinismus zu bestimmen, sahen von den gesellschaftlichen und kulturellen Umständen ab, unter denen die Gewaltexzesse ihre Form gewannen", schreibt er (Roter Terror, 8). Das ist zwar angesichts von mehr als einem Jahrzehnt kulturalistisch inspirierter Stalinismusforschung [1] deutlich überzogen, nichtsdestoweniger sind dem Autor Originalität und Pioniergeist nicht abzusprechen. Baberowskis in seiner Hauptstudie "Der Feind ist überall" entwickelte und in der Überblicksdarstellung "Der Rote Terror" verallgemeinerte neue Perspektive auf den Stalinismus ist nicht nur eine explizit kulturhistorische, sie rückt auch bewusst die Peripherie ins Zentrum der Betrachtung - allerdings nicht, wie der Titel der Buchfassung seiner Habilitationsschrift unterstellt, den gesamten Kaukasus, sondern ausschließlich das transkaukasische Azerbajdžan. Dessen verwickelte Geschichte sei exemplarisch für das russisch/sowjetische Vielvölkerreich mit seiner Vielfalt an Ethnien, Sprachen und Kulturen: "Alle Elemente, die dem Zarenreich und der Sowjetunion Spannung verliehen, waren hier vereint." (Der Feind, 17) Bei der Analyse steht eine Trias von Theoretikern Pate: Von Foucault entlehnt Baberowski den Gedanken, dass Macht nicht nur etwas Äußerliches sei, sondern nur dort ihre Wirkung entfalte, wo sie in der Lebenspraxis des Alltags wirke und weitervermittelt werde. Hans Georg Gadamer hat nicht nur das hermeneutische Verständnis des Verfassers stark beeinflusst, sondern mit einem Zitat aus seinem Hauptwerk "Wahrheit und Methode" auch das Motto des Buches gestiftet, in dem die Gleichwertigkeit oder gar Überlegenheit von Tradition und Bewahrung gegenüber einem traditionsvergessenen Vernunftanspruch postuliert wird. Zygmunt Baumans kritische Analyse der Moderne lässt sich daran gut anschließen. "Der moderne Traum einer einheitlichen, harmonischen Ordnung der Gesellschaft und die gleichermaßen moderne Überzeugung, dass die Auferlegung einer solchen Ordnung auf die widerstrebende Realität ein fortschrittlicher Zug sei, eine Förderung der allgemeinen Interessen, der aus dem gleichen Grunde alle 'Übergangskosten' legitimiere, kann hinter jedem Fall modernen Genozids gefunden werden" - dieser Gedanke Baumans [2] ist leitend für Baberowskis Analyse bolschewistisch/stalinistischer Gewalt.
Von daher lässt sich auch die eigenwillige chronologische Positionierung seiner Untersuchung verstehen: Sie endet mit dem Großen Terror von 1937/38, lässt also den größeren Teil der Monopolherrschaft Stalins vom Ende der 1920er-Jahre bis zu seinem Tod 1953 außer acht, während sich andererseits mehr als die Hälfte des Buches mit der Zeit vor dieser Periode beschäftigt. Damit sollen weit zurückreichende Kontinuitäten aufgezeigt werden, und zwar nicht nur die vom Bolschewismus Lenin'scher Prägung zum Stalinismus. Baberowski zieht die Kontinuitätslinie vielmehr bis zur zaristischen Kolonisation im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Der Stalinismus stellt sich damit als ein besonders gewalttätiger Akt in einem Drama dar, das sich bereits seit dem Zusammenprall zaristischer Modernisierer mit der traditionell-islamischen Gesellschaft der turkstämmigen Azeris zu entfalten begann. Selbst in der Hauptstadt Baku am Schwarzen Meer, wo seit den 1880er-Jahren die Erdölförderung boomte, hielten die muslimischen Arbeiter am Althergebrachten fest und hatte die islamische Geistlichkeit mehr Einfluss als die Aktivisten der sozialistischen Parteien. Baberowski verweist hier auf das patriarchalische Fürsorgenetz der muslimischen Gesellschaft, das Klassengegensätze überbrückt habe: "Es gab eine Klassengesellschaft von Russen und Armeniern [die in Baku stark vertreten waren] und eine klassenlose, ethnisch homogene Gesellschaft der Muslime."
Das Zitat ist kennzeichnend für seine Sichtweise: Baberowski erzählt die Geschichte Aserbaidžans als eine Abfolge permanenter und sich schließlich zum Großen Terror steigernder Attacken von Modernisierern zaristischer wie bolschewistischer Provenienz auf die in sich geschlossene und nach ihren eigenen Gesetzen wohl geordnete muslimische Gesellschaft. Nicht um eine Geschichte von Klassenkämpfen geht es also, sondern um nationale, ethnische, kulturelle Konflikte, an denen in der multinationalen Region in der Tat kein Mangel herrschte. So mündete etwa die Revolution von 1905 in Azerbajdžan in pogromartige Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Armeniern. Den Stalinismus betrachtet Baberowski als eine kulturrevolutionäre Kraft, die nach immer wieder vergeblichen Versuchen, die eigene Macht im Foucault'schen Sinne zur Geltung zu bringen, die überlieferten Strukturen der muslimischen Gesellschaft schließlich mit brachialer Gewalt zerschlug. Von diesem Blickwinkel aus entwickelt er eine faktenreiche und streckenweise farbige Darstellung, die auf einem breiten Quellenfundus vor allem aus Archiven in Petersburg, Moskau und Baku beruht. Wie schon in seiner Dissertation, in der er sich mit der zaristischen Justizreform befasste [3] und an die er mit seiner Azerbajdžan-Studie thematisch und gedanklich in vieler Hinsicht anknüpft, demonstriert er seinen scharfen Blick für die Widersprüchlichkeiten und Widersinnigkeit der Prozesse autoritärer Modernisierung und die Fähigkeit traditionaler Gesellschaften, unerwünschte Reform- und Revolutionierungsversuche zu unterlaufen oder einfach an sich abperlen zu lassen. Man kann aus all dem eine Menge über ein weithin unbekanntes Terrain der sowjetischen Geschichte lernen, Baberowskis "azerbajdžanisches Modell" des Stalinismus hat indes zu viele offene Flanken um überzeugend zu wirken.
Zum einen überstrapaziert er den Begriff der Moderne und überdehnt Kontinuitäten. Er präsentiert einen Stalinismus ohne Marxismus-Leninismus. Obstinat werden "Zivilisierung und Homogenisierung der Lebenswelten", "Verwandlung der Differenz in Eindeutigkeit" zu dessen ideologischer Triebkraft erklärt. Die politische Programmatik der Bolschewiki verschwindet vollständig hinter kulturalistischen Nebelschwaden. Ob man dem Phänomen des Stalinismus wirklich näher kommt, wenn man von dessen scholastischer Komponente absieht, die sich in einem dichten Netz von Schulungsinstitutionen, Millionen von Seiten bedruckten Papiers und der gnadenlosen Verfolgung selbst schüchterner Häretiker niederschlug, darf bezweifelt werden. Diese Ausklammerung ist indes die Voraussetzung für die Feststellung einer fundamentalen Kontinuität von der zaristischen zur bolschewistischen Herrschaftspraxis. Doch nähren innere Widersprüche in Baberowskis Werk die Skepsis über die Tragfähigkeit dieses weitgespannten historischen Bogens. Die zaristische Ordnung im östlichen Transkaukasien sei im Gedächtnis der Untertanen 1917 nur als eine "Ordnung kolonialistischer Anmaßung" erschienen (Der Feind, 184), heißt es einerseits, während andererseits die Loyalität der transkaukasischen Muslims zum Zarenreich im Ersten Weltkrieg und das Ausbleiben einer breiten Kollaboration mit dem Osmanischen Reich mit dem Hinweis darauf erklärt wird, dass sie die relative Rechtssicherheit im russischen Reich der völligen Willkür vorzogen, der die Untertanen des Sultans unterworfen waren (93 f.). Die "Kriminalisierung der Traditionen der Einheimischen" wie etwa Blutrache oder Scharia-Gerichtsbarkeit nahm man dafür offenbar in Kauf. Im Zweiten Weltkrieg, den Baberowski leider nicht mehr behandelt, konnte sich die sowjetische Führung der Loyalität der muslimischen Bevölkerung des Kaukasus bekanntlich keineswegs so sicher sein. Das ist zumindest ein Indiz dafür, dass die zivilisatorischen Missionen von Zarismus und Stalinismus von den Adressaten wohl recht unterschiedlich erfahren und bewertet wurden.
Im Grunde knüpft Baberowski an das alte Paradigma vom Stalinismus als einer Modernisierungsdiktatur an, verkehrt dabei allerdings die Vorzeichen. Das Minus steht nun vor der Moderne, das Pluszeichen wird vor die traditionelle Ordnung gesetzt, konkret vor die dörflich-islamische Gesellschaft in ihrer herkömmlichen Verfasstheit. Diese Wertung ergibt sich in erheblichem Maß aus vorempirischen Postulaten, die Baberowski nicht nur bei Gadamer, sondern auch bei Carl Schmitt entlehnt. "Was Geltung hat, ergibt sich aus der konkreten Verfasstheit des Lebens. Alle Normen und Regeln sind, solange sie gelten, in bereits bestehenden Ordnungen aufgehoben. Ein aus der Ordnung herausgehobener Normativismus, wie ihn die russischen Liberalen vertraten, ist eine Absurdität", schreibt Baberowski (Der Feind, 122). Dieser Gedanke findet sich, vom letzten Satz abgesehen, nahezu wörtlich in Carl Schmitts Abhandlung "Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens" aus dem Jahr 1934. Die damalige rechtspolitische Funktion des darin proklamierten "Konkreten Ordnungsdenkens" kann hier nicht Gegenstand der Erörterung sein. [4] Auf Azerbajdžan angewendet, führt es, jedenfalls bei Baberowski, dazu, Traditionen und herkömmlichen Institutionen überlegene Funktionalität zu attestieren. Auch hier verwickelt er sich jedoch in Widersprüche, etwa wenn er einerseits erklärt: "Die Blutrache war ein Instrument, das der Gewalt in staatenlosen Gesellschaften Grenzen zog. In dieser Funktion widersprach sie dem Herrschaftsanspruch des modernen Staates." (Der Feind, 501), um im nächsten Kapitel festzustellen: "Dem Übel der Blutrachefehden, das zur Ausweitung des Bandenwesens stets neuen Anlaß gab, begegnete die Regierung mit einer empfindlichen Verschärfung der Strafen." (636). Auch in seiner Darstellung der Auseinandersetzung der Bolschewiki mit der überkommenen Geschlechter- und Familienordnung, bezieht Baberowski einen traditionalistischen Standpunkt. "Die Verheiratung Minderjähriger, die Polygamie und die Entführung von Frauen, Traditionen, die sich auf das Recht des Islam und der lokalen Gewohnheit gründeten, galten den Bolschewiki als schlimmer Auswuchs jener Unfreiheit, unter der die Frauen des sowjetischen Orients scheinbar litten. Im Bewußtsein der Männer und Frauen, die in solchen Traditionen standen, hatte der bolschewistische Begriff der Freiheit jedoch keine Verankerung. Ihnen galt als Freiheit, was sich in Übereinstimmung mit der lokalen islamischen Kultur befand." (Der Feind, 444 f.). Zwar hätten Frauen in der Ehe selten privates Glück gefunden, aber Glück sei ohnehin ein relativer Begriff. Frauen im Stande der Ehe hätten immerhin materielle Sicherheit und körperliche Unversehrtheit genossen. Baberowski gibt viele Beispiele einer eifernden, ideologiegetränkten und oft naiven Emanzipationspolitik. Und auch seine Feststellung, im sowjetischen Orient hätte der Feminismus, anders als im europäischen Teil des Reichs, "als mächtige Waffe gegen die islamische Gesellschaftsordnung gedient", ist wohl zutreffend (448). Doch nicht Naivität und Funktionalisierung kritisiert Baberowski, sondern die Tatsache, dass die Bolschewiki überhaupt die traditionelle Geschlechterordnung antasteten. Die Frage, ob dabei möglicherweise bis zu einem gewissen Grad nicht auch berechtigte Interessen zum Ausdruck kamen, beantwortet er in dem einschlägigen Kapitel bereits vorab in Anlehnung an Gadamer: "In Wahrheit gehört die Überlieferung, in der man steht, nicht dem Menschen, sondern er gehört ihr." (442). Dieser Meinung waren offenbar auch die Männer, die Frauen verprügelten, verstümmelten oder ermordeten, weil sie sich Zwangsheiraten verweigerten, sich scheiden lassen wollten oder politisch aktiv wurden. Baberowski nennt das einen "Mechanismus erbarmungsloser Sozialkontrolle" (472) und kommentiert: "Das bolschewistische Programm scheiterte, es zerschellte an den Barrieren, mit denen sich die traditionelle Gesellschaft gegen ungebetene Einmischung zur Wehr setzte" (474). Allerdings ging es beim Kampf gegen Zwangsheiraten oder die Verheiratung Minderjähriger - Baberowski erwähnt den Fall einer Neunjährigen, die "Gattin" eines Mullah werden sollte - nicht um ein spezifisch bolschewistisches Programm. Hier traf tatsächlich die Moderne auf die traditionelle Gesellschaft. Dass diese der Herausforderung offenkundig nur mit exzessiver Gewalt begegnen konnte, ficht seine verklärende Sicht der traditionellen Ordnung nicht an.
Die Kollektivierung der Landwirtschaft in den Jahren 1929 bis 1933, mit der gewaltsamen Entkulakisierung und den Millionen Opfern der Hungersnöte in der Ukraine, in Kasachstan und Teilen Russlands, war gewiss die tiefgreifendste gesellschaftliche Umwälzung seit Revolution und Bürgerkrieg. War sie aber "eine gewalttätige Verlängerung der Kulturrevolution" (Der Feind, 686)? Baberowski stützt diese Deutung mit dem Hinweis auf die ökonomische Widersinnigkeit der Maßnahmen (Roter Terror, 122 f.). Als Weg aus der Getreidekrise Ende der 1920er-Jahre war die Kollektivierung in der Tat alles andere als sinnvoll. Diese Krise war aus der Disparität von industrieller und landwirtschaftlicher Produktion entstanden. Da die städtischen Industrien nicht genügend Austauschgüter produzierten, verhielten sich die Bauern, die durch die Neue Ökonomische Politik (NĖP) zu selbstständigen Produzenten geworden waren, marktkonform und hielten ihre Erzeugnisse zurück. Um die Frage, wie es mit der Landwirtschaft weitergehen solle, hatte es in der Kommunistischen Partei ausgedehnte und kontroverse Diskussionen gegeben, die Baberowski weitgehend außer Acht lässt. Die Kollektivierung war dabei keineswegs von vorneherein beschlossene Sache. Vor allem Nikolaj Bucharin war für die langfristige Fortführung der NĖP eingetreten, dem Machttaktiker Stalin jedoch unterlegen. Stalin interpretierte die Getreidekrise in Klassenkategorien und politisierte sie, indem er sie als Sabotageversuch der Kulaken an der Sowjetmacht deutete. Das entsprach marxistisch-leninistischem Denken, das politische Macht nur als eine Funktion ökonomischer Verfügungsgewalt betrachtete. Diese Verfügungsgewalt für die kommunistische Herrschaft zu sichern und die letzte verbliebene "kapitalistische" Klasse zu eliminieren, darum ging es bei der Kollektivierung in erster Linie. Auch kulturrevolutionäre Aspekte, wie etwa Religionsverfolgungen spielten dabei eine gewichtige Rolle, doch waren sie nicht das primäre Motiv. Die Entkulakisierungsdirektiven, die sich an Eigentumskriterien orientierten, sprechen hier eine klare Sprache. In Azerbajdžan, das nicht zu den zentralen Getreideanbaugebieten gehörte und wo die kulturelle Differenz zwischen der bäuerlichen Gesellschaft und der herrschenden Kommunistischen Partei noch gravierender war als im europäischen Russland, mag sich das graduell anders dargestellt haben; das spricht aber vor allem gegen den paradigmatischen Anspruch, den Baberowski für seine Untersuchung der azerbajdžanischen Entwicklung im Hinblick auf die ganze stalinistische Sowjetunion erhebt.
Die Stärken und die - gravierenden - Schwächen von Baberowskis Ansatz kommen auch in seiner Geschichte des Stalinismus zur Geltung. Der Titel "Der Rote Terror" verweist bereits auf die Frühzeit der bolschewistischen Herrschaft. Der "Rote Terror" wurde offiziell im September 1918 als Reaktion auf die Attentate auf Lenin und den Petrograder Tscheka-Funktionär Urickij proklamiert und seither zu einem stehenden Begriff. Zugleich deutet der Titel auf das hin, was für Baberowski die Essenz des Stalinismus ausmacht: die permanente Anwendung von Gewalt (12). Die Stärke des Buches liegt in der Eindringlichkeit und Anschaulichkeit, mit der der Autor, den vielfach immer noch unterschätzten terroristischen Charakter der Stalin'schen Herrschaft in all ihren Phasen herausarbeitet. Dort, wo er sich auf die von ihm nicht sonderlich geschätzte "Synthetisierung des Bekannten" einlässt [5], gelingen ihm immer wieder ebenso kompakte wie anschauliche und aufschlussreiche Schilderungen.
Die grundlegende Schwäche liegt jedoch auch hier in einer Begrifflichkeit, die statt analytischer Präzision Unschärfe erzeugt. So erscheint die Doppelrevolution des Jahres 1917 als eine Revolte, "die aus dem Verlangen verbitterter und vom Krieg verrohter Menschen hervorging, sich von den Zumutungen des 'bürgerlichen' Disziplinierungsmodells zu emanzipieren" (Roter Terror, 28). Der Legitimationsverlust der zaristischen Herrschaft, die verbreitete Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsucht, der uralte Landhunger, der viele Bauernsoldaten 1917 zur Desertion bewegte, um zuhause bei der Umverteilung zur Stelle zu sein - all das und viele andere politische Faktoren, mit denen sich die Forschung seit langem herumschlägt, verschwinden bei der Berührung mit dem kulturalistischen Zauberstab spurlos. In Baberowskis Erklärung für den schließlichen Sieg der Bolschewiki spielt es denn auch keine Rolle, dass sie nicht zuletzt deshalb Unterstützung mobilisieren konnten, weil sie mit der (Zweck-)Parole "Frieden und Land" an verbreitete Sehnsüchte und Wünsche anknüpften. Er sieht den Grund hingegen darin, "daß die Bolschewiki der uferlosen Gewalt nicht nur das Wort redeten, sondern sie ins Recht setzten." (32) Gewalt sei in der Revolution zum Selbstzweck geworden und "zum einzigen Band, das die extremistische Intelligenzija und die Volkswut miteinander verknüpfte" (33). "Die Soldaten und bäuerlichen Arbeiter zog vor allem der gewalttätige Habitus bolschewistischer Revolutionäre an, die Aura des Männlichen, mit denen sich gestiefelte und in Lederjacken gehüllte Revolutionäre umgaben." (32)
Habitus, Aura und Lederjacken entdeckt Baberowski vor allem bei einem stalinistischen Funktionärstyp, der schon im Bürgerkrieg aufgetreten sei und von der Vernichtung der Feinde nicht nur gesprochen, sondern sie ins Werk gesetzt habe. Selbst für Lenin und Trotzki sei hingegen der Terror nur eine Abstraktion gewesen, "eine Auseinandersetzung, die zwischen imaginierten Klassen ausgetragen wurde. Von der Volksgewalt, die durch diesen Terror angeregt wurde, hatten sie keinen Begriff." (52 f.) Stalin hätte diese Einschätzung womöglich gefallen, Lenin, der Urheber der Oktoberrevolution, der den Bürgerkrieg zielbewusst angestrebt hatte und nicht müde wurde, Geiselerschießungen und Todesurteile zu fordern, und Trotzki, der Organisator und zeitweilig idolisierte Führer der Roten Armee, der auch die Aufständischen von Kronstadt niederkartätschen ließ, würden sich über solch ein Jungfräulichkeits-Attest indes vermutlich ziemlich gewundert haben.
Unscharf bleibt auch die Analyse der Dynamik der Gewalt des Stalinismus. Nach dem Großen Terror habe er sich neue Feinde gesucht, meint Baberowski. Am Konzept, menschliche Kollektive zu stigmatisieren und zu bestrafen, habe man festgehalten. Nichtsdestoweniger wurde der Terror nach 1938 eingeschränkt. Der Stalinismus zeigte sich hier fähiger zur Selbststeuerung als der Nationalsozialismus, der sein Gewaltpotenzial exponentiell bis zur schließlichen Selbstzerstörung entfaltete. Baberowski geht über solche Unterschiede hinweg. Er neigt zu einer starken Parallelisierung der beiden totalitären Regime. "Was über die Ursachen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gesagt werden kann, gilt auch für das sowjetische Experiment, Eindeutigkeit herzustellen und Feinde zu vernichten, die solcher Eindeutigkeit im Wege standen", heißt es bilanzierend in "Der Feind ist überall" (830). Im "Roten Terror" spricht Baberowski davon, die Bolschewiki hätten den Feindbegriff ethnisiert und biologisiert. (212) Beides ist allerdings nicht dasselbe, und während die Xenophobie und der russische Nationalismus des stalinistischen Regimes in jüngster Zeit immer stärker ins Blickfeld der Forschung gerückt sind, fehlt für ein Analogon zur nationalsozialistischen Rassentheorie jeglicher Beleg.
Ähnliches gilt für den deutsch-sowjetischen Krieg, über den Baberowski schreibt: "Der deutsch-sowjetische Krieg war ein Krieg, wie er Nationalsozialisten und Kommunisten gefiel, er war ein Krieg, in dem Feinde nicht besiegt, sondern ausgerottet wurden." (217) Tatsächlich hatte es allerdings zunächst dem nationalsozialistischen Deutschland gefallen, die Sowjetunion zu überfallen. Den Unterschied zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg sollte man nicht leichtfertig verwischen. Und trotz aller Grausamkeiten, die von der Roten Armee verübt wurden, trotz Massenvergewaltigungen, Verschleppungen und Speziallagern - einen Vernichtungskrieg à la Hitler mit Ausrottungskommandos, Planungen, die das Verhungern von Millionen vorsahen und am Ende in eine Strategie der verbrannten Erde mündeten, führte die Sowjetunion gegen Deutschland nicht. Baberowski weist durchaus darauf hin, dass der nationalsozialistische Terror den stalinistischen in den Schatten gestellt habe; der Stalinismus habe überleben können, weil er in der Lage gewesen sei, sich der Bevölkerung als kleineres Übel zu präsentieren und Unterstützung zu mobilisieren (225). Erstaunlich, dass sich der Autor angesichts dieses doch recht bedeutsamen Faktums nicht die Frage stellt, wie eine solche Differenz mit der Formel von der "Herstellung von Eindeutigkeit und Vernichtung von Feinden" analytisch zu begreifen sein soll. Die Frage, warum die stalinistische Sowjetunion im Gegensatz zum nationalsozialistischen Deutschland für die Westmächte koalitionsfähig wurde und was das für die Entwicklung des Krieges bedeutete, taucht schon deshalb nicht auf, weil die Außenpolitik in Baberowskis Darstellung des Stalinismus überhaupt nicht vorkommt. Darin, dass es ohne Stalin keinen Stalinismus gegeben hätte, ist sich Baberowski mit dem Mainstream der Forschung einig. Die Frage, warum ausgerechnet dieser ursprünglich zweitrangige Funktionär eine solch beherrschende und bedeutsame Rolle errang, findet in seiner Darstellung allerdings keine Erklärung. Sie entzieht sich offenbar einem kulturhistorischen Zugriff, dessen Möglichkeiten, vor allem aber dessen Grenzen in Baberowskis beiden Büchern signifikant demonstriert werden.
Anmerkungen:
[1] Vgl. als Überblick Sheila Fitzpatrick (ed.): Stalinism. New Directions. London and New York 2000.
[2] Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg 1992, 351.
[3] Jörg Baberowski: Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich. Frankfurt a.M. 1996.
[4] Vgl. dazu: Bernd Rüthers: Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich. München 1988, 59-76.
[5] Jörg Baberowski: Erzählte Revolution. Orlando Figes und die "Tragödie eines Volkes", in: Neue Politische Literatur 44 (1999), 481-495, hier: 493.
Jürgen Zarusky