Claudia Opitz (Hg.): Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozeß. Nobert Elias' Werk in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, 264 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-15004-4, EUR 29,90
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Ist das Hauptwerk von Norbert Elias, also "Die höfische Gesellschaft" und der "Prozeß der Zivilisation", heute nur noch von wissenschaftshistorischem Interesse? Oder kommen Fachrichtungen, die sich unter dem Begriff Kulturwissenschaft gemeinsamen Fragestellungen verpflichtet fühlen, auch heute nicht darum herum, sich mit Elias' Arbeiten auseinanderzusetzen? Im von Claudia Opitz herausgegebenen Sammelband beziehen elf Autorinnen und Autoren verschiedener Fachrichtungen, darunter Geschichte, Kunstgeschichte, Romanistik und Soziologie, zu dieser Frage Stellung. Dabei steht Elias' Untersuchung über "Die höfische Gesellschaft" im Mittelpunkt.
Die ersten beiden Beiträge betrachten Elias wissenschaftsgeschichtlich. Reinhard Blomert leitet Elias' Interesse an der höfischen Kultur aus dessen Wahrnehmung der Weimarer Republik ab. Der zunehmende Antisemitismus, das Gefühl der Rechtsunsicherheit und steigende soziale und politische Spannungen, die sich immer wieder gewaltsam zu entladen drohten, haben Elias' Interesse für die "gute Gesellschaft" (35) geweckt. Die Ursachen für die Affektkontrolle, den zunehmenden Gewaltverzicht und die Verfeinerung der Sitten in der Aristokratie, deren Verhaltenskodex sich anschließend in der Gesamtgesellschaft habe durchsetzen können, wurden für Elias zu zentralen Fragen. In Frankreich und im Ideal des "honnête homme" sah Elias daher ein gesellschaftliches Vorbild, das sich positiv gegen seine Wahrnehmung der deutschen Gegenwartsgesellschaft abhob.
Claudia Opitz zeigt auf, welche Autoren für Elias Studie "Die höfische Gesellschaft" maßgeblich waren und welche Quellen er für diese Untersuchung heranzog. Neben Thorstein Veblens "Theory of the Leisure Class" war es vor allem Max Webers Herrschaftssoziologie, mit der sich Elias auseinandersetzte. Insbesondere Webers Konzept der charismatischen Herrschaft verdankt Elias wertvolle Einsichten - auch wenn die Übertragung dieses Herrschaftstypus auf die Regierung Ludwigs XIV. Webers Auffassung schwerlich entsprochen haben dürfte. Die Abgrenzung von Weber zeigt sich bei Elias auch in dessen Kritik am Konzept der "patrimonialen Herrschaft". Hier habe Weber die Welt des Hofes aus dem Blick verloren und nur die vormoderne Verwaltung begrifflich erfasst, so Elias' eigentümliches Urteil.
Eine Reihe weiterer Beiträge vergleicht Elias' Bild der höfischen Gesellschaft mit dem aktuell vorherrschenden Erkenntnisstand. Da Elias seine Untersuchung bereits 1933 in Frankfurt als Habilitationsschrift eingereicht hat und diese Textfassung im Wesentlichen auch in den späteren Buchausgaben beibehalten wurde, verwundert es kaum, dass manche Interpretationen nicht mehr dem heutigen Stand der Forschung entsprechen. Gleichwohl sind manche kritischen Beobachtungen von Interesse. Birgit Franke und Barbara Welzel stellen fest, dass Elias für den Bereich der höfischen Kunst wenig Interesse aufbrachte und die Kunstgeschichte seiner Zeit (zum Beispiel Aby Warburg) nicht zur Kenntnis nahm. Ronald G. Asch formuliert einige Zweifel an der These von der "Verhöflichung der Krieger", insbesondere an der Bereitschaft des höfischen Adels zum Gewaltverzicht. Insbesondere das Duell bot dem Adel eine standesspezifische Form ritualisierter Gewalt und war zugleich ein typisches Phänomen der Hofgesellschaft. Darüber hinaus zeigt er auf, dass die Grundbedingungen, die Elias seinem Hofmodell zu Grunde legte, nämlich die These von der politischen Entmachtung des Adels und dessen weitgehender Abhängigkeit vom regierenden Monarchen, sich in dieser rigiden Form nicht aufrechterhalten lassen. Renate Kroll moniert schließlich, dass Elias die Frauen am Hof sowie deren Handlungsspielräume in seiner Deutung des französischen Hofes weitgehend ignoriert habe. Wolfgang Schmale überprüft die mögliche Stimmigkeit von Elias knappen Bemerkungen zum gewaltsamen Ende des Ancien Régimes. Dabei zeigt er auf, dass Elias dem Phänomen der Gewalt für die politischen Umwälzungen der ersten Jahre der Französischen Revolution einen zu großen Stellenwert einräumt, ja die Abfolge der Ereignisse und deren institutionelle Verortung überhaupt wenig in den Blick nimmt.
Worin könnten aber zahlreiche Irrtümer und Fehlinterpretationen ihren prinzipiellen Ursprung haben? Hierauf gibt Jeroen Duindam eine interessante Antwort. Duindam sieht zahlreiche Widersprüche in Elias' Werk dadurch verursacht, dass dieser zugleich eine modernisierungstheoretische und eine "anthropologische" Perspektive einnimmt. So sucht Elias im anthropologischen Sinne die spezifische Rationalität des höfischen Verhaltens aufzuzeigen, die nicht nach heutigen Maßstäben beurteilt werden dürfe. Zugleich deutet er den Fürstenhof und das Verhaltensideal des "honnête homme" unter modernisierungstheoretischem Vorzeichen, das heißt nach den Folgen der Affektbeherrschung für Staatsbildung und Zivilisationsprozess. Duindams kritisches Fazit über Elias lautet: "He offered his keen anthropological eye on the altar of his theory of modernisation" (101). Duindams Plädoyer gilt hingegen dem umgekehrten Vorgehen.
Welche Elemente von Norbert Elias Untersuchung zur höfischen Gesellschaft sind auch für zukünftige kulturwissenschaftliche Untersuchungen unverzichtbar? Seine historischen Interpretationen haben die Erkenntnisfortschritte der letzten sechzig Jahre nicht unbeschadet überstanden. Dies ist für sich genommen nicht erwähnenswert. Im ständigen "Veralten" vorliegender Erkenntnisse aufgrund voranschreitender Forschungen und der daraus resultierenden Revision bisheriger Deutungen liegt Max Weber zufolge gerade der Sinn wissenschaftlicher Betätigung. Elias' Verdienst bleibt allemal, mit seinem Werk den Impuls für viele Untersuchungen zum Fürstenhof geliefert zu haben. Das heute blühende Forschungsfeld der Hof-Forschung wäre zumindest in Deutschland ohne Elias schwerlich denkbar.
Es bleibt die Frage, was von Elias Hofinterpretation nach wie vor Bestand haben könnte. Bereits Roger Chartier hat darauf hingewiesen, dass Elias mit seinen Begriffen "Figuration" und "Interdependenz" ein Deutungskonzept entwickelt hat, das mit seiner Prämisse, die strikte Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft zu überwinden und die gegenseitige Interdependenz zum Untersuchungsgegenstand zu machen, durchaus modern anmutet. [1] Sophie Ruppel führt das Erklärungspotenzial einer Figurationsanalyse an einem interessanten Beispiel vor. Anhand der Heiratsverhandlungen für die Pfalzgräfin Henriette Marie in den Jahren 1649 bis 1651 stellt sie dar, dass nicht das Wort des männlichen Stammhalters des Hauses zu einer von der Pfalzgräfin wenig erwünschten Heirat mit dem Prinzen Sigmund von Siebenbürgen den Ausschlag gab, sondern das ihrer Schwester Elisabeth sowie ihrer Tante Elisabeth Charlotte, Gemahlin des brandenburgischen Kurfürsten. Ein Blick auf die Machtpositionen der einzelnen Protagonisten im Beziehungsnetz des Reichsadels erhellt diesen zunächst erstaunlichen Befund. Außerdem kann sie damit auch die Bandbreite des Gestaltungsspielraums von Frauen an Fürstenhöfen letztlich angemessener beschreiben als dies Renate Kroll in ihrem Beitrag gelingt, die Frauen am Hof nur in ihrer "Abhängigkeit von den Männern" (162) darstellt, eine eigenständige Figurationsanalyse jedoch nicht leistet.
Dieses Beispiel mag als Beleg dafür dienen, dass die Elias'schen Begriffe "Figuration" und "Interdependenz" beide weiterhin dazu geeignet sind, als Analysekategorien historischer Untersuchungen zum Fürstenhof zu dienen.
Anmerkung:
[1] Roger Chartier: Gesellschaftliche Figuration und Habitus, in: ders.: Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung, Berlin 1989, 37-57, hier: 40 f.
Andreas Pečar