Kai Bremer: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert (= Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext; Bd. 104), Tübingen: Niemeyer 2005, X + 329 S., ISBN 978-3-484-36604-6, EUR 82,00
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Jeder, der sich mit einem beliebigen Aspekt der Konfessions- und Konfliktgeschichte des 16. Jahrhunderts befasst, sieht sich einer großen Zahl bibliografisch und forschungsmäßig nur unzureichend aufgearbeiteter und meist eintönig zu lesender Druckschriften gegenüber: der Kontroverspolemik. In Flugschriften und Traktaten, 'gründlichen Berichten' und 'Widerlegungen' tritt dem Leser eine Fülle von Texten entgegen, die insgesamt den Eindruck eines überaus streitsüchtigen Zeitalters ergeben. Entsprechend hat die ältere Forschung für diese Art von Literatur konstatiert, sie könne kaum mehr als "pathologisches Interesse" beanspruchen. [1] Dies kann angesichts der überragenden Bedeutung der Kontroverspolemik für die Zeitgenossen offensichtlich nicht das letzte Wort sein. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat, gerade im Kontext der Konfessionalisierung, einzelne Kontroversen punktuell untersucht und in tagespolitische Kontexte gestellt. Der Versuch einer typologischen Gesamtdarstellung der Kontroverspolemik des konfessionellen Zeitalters aber fehlt, was wohl mit der Menge des Materials zusammenhängt.
Kai Bremer unternimmt mit seiner Göttinger germanistischen Dissertation den Versuch, systematische Grundlinien der Kontroverspolemik aufzuzeigen. Auch er kommt zu dem Schluss, dass die konfessionellen Streitschriften in aller Regel "langatmig, penetrant, rechthaberisch und affektiert" sind: "Doch ist das keine historische Bewertung" (297). Bremer untersucht stattdessen, mit welchen Argumentationsmustern die Texte arbeiten, für wen sie geschrieben sind und wie sie sich in die Literaturlandschaft des 16. Jahrhunderts einfügen. Bremer verfolgt damit "nicht weniger als die Weiterentwicklung des Anschlusses der Germanistik an die Forschungen zur Konfessionalisierung" (22). Diesen Anspruch kann Bremer insgesamt einlösen; auch wenn er als Literaturwissenschaftler auf der Dignität des Einzeltextes beharrt, darf deshalb ein Historiker vielleicht zu seinem Buch Stellung nehmen.
Bremer befasst sich mit volkssprachlichen "Religionsstreitigkeiten" - er benutzt v.a. diesen zeitgenössischen Ausdruck - "im 16. Jahrhundert", nimmt also Abstand von literaturhistorischen Epochenkonstruktionen. Dies ist insofern gerechtfertigt, als die konfessionspolemische Gebrauchsliteratur weitgehend außerliterarischen Prozessen zugeordnet ist und durch das gesamte Jahrhundert den in der Frühreformation ausgebildeten Mustern folgte.
Neben einer Einleitung und einem Ausblick ins 17. Jahrhundert umfasst die Untersuchung drei Teile. Der erste Teil ist wiederum in zwei Großabschnitte gegliedert, dessen Erster eine systematische Charakterisierung des Gesamtphänomens versucht, während der Zweite der Analyse vier exemplarischer Streitigkeiten gewidmet ist. Teil II befasst sich, wiederum eher systematisch und synthetisierend, mit Intentionen und Wirkungen der Religionspolemik. In Teil III unternimmt Bremer schließlich den Versuch, die Reichweite religionspolemischer Argumentationen in anderen literarischen Gattungen auszuloten. Die systematischen Ergebnisse von Bremers Untersuchungen werden jedem, der sich in Zukunft mit Schriften dieser Art befasst, große Dienste leisten. Da dem Rezensenten aber die Aufteilung der systematischen Passagen nicht völlig einleuchtet, sollen zuerst kurz die Beispielkontroversen nachgezeichnet werden, bevor auf die eher systematischen Teile eingegangen wird.
Bremer beginnt mit einer instruktiven Analyse der Kontroverse zwischen Luther und dem Dresdener Theologen Hieronymus Emser im Anschluss an Luthers Adelsschrift von 1520. Während Emser stark den Konventionen der akademischen Disputation folgte und sich mit der Volkssprache schwer tat, zog Luther bereits virtuos alle Register der Kontroverspolemik, wechselte zwischen Gattungen und überraschte seinen Gegner immer wieder. Emser versuchte eine Diskreditierung Luthers beim gelehrten Publikum, während dieser durch selektive Beantwortung von Emsers Angriffen, Abschweifungen vom Streitthema und aggressive persönliche Angriffe den Fortgang des Streites zunehmend bestimmte. Die katholischen Polemiker bedienten sich noch bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts nur ungern der deutschen Sprache; wenn sie es doch taten, hatten sie dies manchmal in Wittenberg selbst gelernt: Dies ist abzulesen an der Kontroverse um Friedrich Staphylus' "Theologia Lutheri" (1558), in der subkutan immer auch um Staphylus' Konversion gestritten wurde. Die Regeln der akademischen Theologie wurden zwar wiederholt eingefordert, jedoch immer wieder durch Grobianismen und persönliche Verdächtigungen unterlaufen. Erst die Jesuiten begannen um 1580 damit, in größerem Umfang deutschsprachige katholische Streitschriften zu verfassen. Bremer untersucht die Kontroverse um einen antilutherischen Holzschnitt, das so genannte "Prager Bild", zwischen dem Tübinger Theologen Lukas Osiander und mehreren jesuitischen Polemikern. Er arbeitet unterschiedliche offensive wie eher defensive Strategien heraus, mit denen die Jesuiten Osiander in die Zange nahmen, und stellt die Radikalisierung der Polemik (die in diesem Fall bis zum Hinrichtungsaufruf reichte), die Personalisierung des Streits und die thematische Entfernung vom Streitanlass heraus. Die argumentative Auseinandersetzung wurde flankiert von Ironie, Häme und Aggression. En passant kann Bremer zeigen, wie das kontroverstheologische Grundbuch des Kardinals Bellarmin, die "Disputationes" (1587-1593), sich zum steinbruchartig genutzten Polemikarsenal entwickelte. Gegenüber diesen drei Kontroversen zwischen lutherischen und altgläubigen Theologen steht der vierte, knapp behandelte Beispielstreit, der sich um den münsterländischen Calvinismus dreht, thematisch etwas abseits und hätte meines Erachtens entfallen können.
Bremer betont den Dialogcharakter der Streitigkeiten, die nach Textensembles statt Einzeltexten untersucht werden müssten. Religionsstreite wurden durch mindestens drei Schriften (also einen Initialtext, eine Antwort und eine Reaktion darauf) konstituiert, umfassten selten mehr als zehn Schriften und entwickelten sich in mehrmonatigen Abständen, die oft der Publikation der Messrelationen entsprachen, die von Polemikern aufmerksam studiert wurden. In der Regel wurden die Streite nicht formell beendet, sondern tröpfelten eher aus. Die Streitschriften sind im Einzelnen sehr unterschiedlichen Gattungen, wie dem theologischen Traktat oder dem Sendbrief, zuzuordnen. Ihre Wurzeln liegen v.a. in der akademischen Disputation und in der Predigt, ohne dass man eine der beiden Gattungen zum alleinigen Nukleus erklären könnte. Gerade bei großer Nähe zur Disputation mit ihrem akkuraten Abarbeiten von Thesen bestand die Gefahr literarischer Eintönigkeit, der mit der "Emotionalisierung der theologischen Streitpunkte" (194) begegnet wurde. Dass es nicht zur Ausbildung einer einheitlichen formalen Vorgabe kam, hängt mit der schwachen institutionellen Anbindung der Kontroverspolemik zusammen; im lateinischen Theologie- oder Rhetorikunterricht wurde die volkssprachliche Kontroverse nicht eingeübt. Entsprechend diffus blieb die Orientierung der Streitschriften an rhetorischen Vorgaben. Besonders taten sich Prediger als Streitschriftenverfasser hervor, die mit der muttersprachlichen Praxis vertraut waren. Dies galt v. a. für evangelische Autoren, während die Katholiken, die Bremer verdienstvollerweise mindestens gleichrangig behandelt, die Volkssprache ausschließlich als Instrument der Popularisierung ansahen. Hier waren es v. a. die Jesuiten, seltener andere Orden, Weltkleriker oder Laien, die in Kontroversen einstiegen. Grundsätzliche inhaltliche Probleme der Streitschriften bestanden in der Gefahr, durch Widerlegung der gegnerischen Position diese erst bekannt zu machen, im Abwägen der geistlichen Vorbildrolle gegenüber der scharfen Munition der Polemik sowie in der Tendenz zur thematischen Entfernung vom eigentlichen Streitthema zu Gunsten von Verfahrensfragen: Wie sollte und durfte man streiten? Im Horizont dieser Frage verlagerte sich die Polemik häufig von theologischen auf konfessionsunspezifische moralische Fragen. Die unermüdliche Wiederholung immer derselben Argumente und das Fehlen des Bemühens, die Argumente der Gegenseite ernst zu nehmen, besaß dabei weniger eine persuasive Funktion gegenüber dem Gegner als gegenüber der eigenen Anhängerschaft. Bremer kann plausibel machen, dass die Streitschriften v. a. verfasst wurden, um schlecht ausgebildeten, vielleicht sogar lateinunkundigen Geistlichen exemplarische Argumentationsmuster an die Hand zu geben; diese didaktische Funktion führte zur überregionalen Rezeption auch unabhängig vom tagespolemischen Kontext.
Im dritten Teil geht Bremer kontroverspolemischen Elementen in anderen Literaturgattungen nach. Er konstatiert eine weit gehende Nähe zwischen Streitschriften und Konversionsberichten, die weniger individuelle Bekehrungserzählungen als theologische Traktate umfassen. Auch die Predigt steht, als eine Wurzel der Kontroverspolemik, dieser nahe, während Gattungen wie Gebet, Katechismus oder Lied, aber auch das Jesuitentheater zu Gunsten von eher binnenorientierten Haltungen von der Konfessionspolemik Abstand nahmen.
Während die systematischen und exemplarischen Abschnitte I und II überzeugende Untersuchungen zu Grundfragen der Kontroverspolemik vorlegen, scheint dem Rezensenten dieser dritte Teil weniger zwingend. Überhaupt wäre - aus Sicht des Historikers - eine Vernachlässigung einiger literaturhistorischer Details zu Gunsten der Formulierung zugespitzterer Thesen wünschenswert gewesen. Die von Bremer angedeutete Verschärfung der Auseinandersetzung zu Beginn des 17. Jahrhunderts hätte man gern anschaulicher belegt gesehen. Auch Bremers Fazit, "daß volkssprachliche Streitschriftenwechsel den Prozeß der eigentlichen Konfessionalisierung lediglich begleiteten, wenn sie ihm nicht gar nur nachgelagert sind" (219), ist nicht zwangsläufig, kann er doch zeigen, dass das Ziel der Religionsstreitigkeiten in der konsequenten Abgrenzung der Konfessionen und im Aufbau einer Fundamentalopposition bestand. Wohl wegen der Langatmigkeit der von ihm untersuchten Texte huldigt Bremer manchmal einer zu ausgeprägten Kürze - und verschenkt damit einige systematische Überlegungen. Vor dem Hintergrund dessen, was das Buch leistet und in welches bisher unzureichend kartografierte Gebiet es vorstößt, sind dies jedoch Kritteleien, die die Verdienste von Bremers Studie nicht schmälern. In deutlichem Kontrast zu seinem Gegenstand ist ihm ein kurzweiliges und weiterführendes Buch gelungen.
Anmerkung:
[1] Rudolf Kniebe: Der Schriftenstreit über die Reformation des Kurfürsten Johann Sigismund von Brandenburg seit 1613, Halle 1902, 109.
Matthias Pohlig