Arnd Bauerkämper: Die Sozialgeschichte der DDR (= Enzyklopädie deutscher Geschichte; Bd. 76), München: Oldenbourg 2005, X + 148 S., ISBN 978-3-486-57637-5, EUR 19,80
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Mit der nunmehr erschienenen Darstellung des Berliner Historikers Arnd Bauerkämper zur Sozialgeschichte der DDR schließt der Münchner Oldenbourg Verlag seine auf den früheren SED-Staat bezogenen sektoralen Forschungsüberblicke im Rahmen seiner "Enzyklopädie deutscher Geschichte" ab. Das Werk gliedert sich in die in der "EdG" verbindlichen Teile: Einem kurzen "enzyklopädischen Überblick" über das Thema (1-43) schließt sich die Darstellung der "Grundprobleme und Tendenzen der Forschung" (45-109) an, bevor ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis (hier: 315 Titel) den Band beschließt, der wie üblich über knappe Personen- und Sachregister zusätzlich erschlossen werden kann.
Um sein Themenfeld abzustecken, spricht Bauerkämper eingangs von "Gesellschaftsgeschichte des zweiten deutschen Staates", macht jedoch deutlich, dass es ihm nicht um das umfassende Wehler'sche Modell von "Gesellschaftsgeschichte" (Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur) geht. Stattdessen konzentriert er sich ganz "auf soziale Strukturen und Prozesse" (IX). Trotz dieser Beschränkung scheinen die ausgesparten Subsysteme in Bauerkämpers "Sozialgeschichte" immer wieder auf. Sein Überblick über "die Herausbildung der staatssozialistischen Gesellschaft" beginnt geradezu mit "Politik", was treffend auf die schwer zu überschätzende Rolle politischer Interventionen für gesellschaftlichen Wandel - zumal in der frühen DDR - verweist (1). Auch die Darstellung der sozialen Schichten dieser DDR-Gesellschaft - Arbeiter, landwirtschaftlich Tätige, "Intelligenz" und "Restbürgertum" sowie das Heer der "Funktionäre" (27-43) - ist ohne Einbeziehung von Politik- und Wirtschaftsgeschichte nicht denkbar, was Stichworte wie etwa "Bodenreform", Kollektivierung der Landwirtschaft, "Volkseigene Betriebe" oder "Kaderpolitik" unmittelbar verdeutlichen. Selbst der Kultur - zumindest der "Alltagskultur" in Engführung auf Freizeit und Konsum (18 ff.) - werden einige Zeilen gewidmet. Der Einfluss traditioneller, aber auch neuer "sozialistischer" Hochkultur auf die Entwicklung sozialer Beziehungen bleibt freilich ungeklärt, die Einbeziehung der Ersteren in die Erörterungen über die "Beharrungskraft bildungsbürgerlicher Milieus" (36) sucht man vergebens. Bildungspolitik und Bildungssektor werden nur an nachgeordneter Stelle unter dem Stichwort "Aufstiegsmobilität" behandelt (82 ff.). Auch Bauerkämpers Ansatz krankt insofern am Grundproblem zahlreicher sozialgeschichtlicher Arbeiten: der tendenziellen Unterschätzung des kulturellen Sektors.
In der knappen Überblicksdarstellung zur DDR-Sozialgeschichte vermag Bauerkämper zentrale Entwicklungen überzeugend herauszuarbeiten. Das gilt für die gesellschaftsverändernde "Politik der Sozialkonstruktion", die nach 1945 freilich auf die "weit reichenden Folgen des Zweiten Weltkrieges" (Kriegszerstörungen, Vertreibungen etc.) Rücksicht nehmen musste (2) und grundsätzlich die gesellschaftliche Entwicklung nur begrenzt zu regulieren vermochte (5). Das gilt für die langfristig wirksame Kombination politisch gewollter Verdrängung bzw. Privilegierung bestimmter sozialer Schichten als Mittel zum Zwecke sozialer Transformation (2). Das gilt für die Feststellung der unruhigen, keineswegs linearen Entwicklungsschübe dieser Transformationspolitik (3). Das gilt für die extreme Bedeutung von Erwerbsarbeit in der DDR-Gesellschaft und die damit zusammenhängende Betriebs-Zentriertheit sozialer Lebenswelten (11 ff.). Und das gilt auch für die stabilisierende Rolle von Sozialpolitik für die DDR-Gesellschaft und deren bis zuletzt ungelösten Zielkonflikt zwischen egalitärer Nivellierung und elitärer Gruppenprivilegierung (8).
Im Rahmen seiner Einschätzung der DDR-Sozialpolitik tendiert Bauerkämper freilich dazu, bestimmte Phasen einer längeren und differenzierteren Entwicklung unzulässig zu verallgemeinern. Es ist ja richtig: "Mit ihrer Sozialpolitik mussten die Machthaber nicht nur ihr politisches Legitimitätsdefizit ausgleichen, sondern auch die mangelnde Effizienz [...] der sozialistischen Zentralplanwirtschaft kompensieren" (6). Doch rechtfertigt diese Diagnose kaum die undifferenzierte Übernahme der umstrittenen Deutung des SED-Staates als "Fürsorgediktatur" (Konrad H. Jarausch), die eher auf die Ära Honecker zutreffen könnte, während die Ära Ulbricht doch wohl eher als "Aufbaudiktatur" oder "Transformationsdiktatur" zu bezeichnen wäre. Nachweislich falsch ist die Behauptung, die Altersversorgung habe in der DDR-Sozialpolitik "einen wichtigen Stellenwert" gehabt (7), wo doch gerade dieses sozialpolitische Handlungsfeld chronisch unterfinanziert blieb und DDR-Rentner folglich zu lebenslanger Erwerbsarbeit zwang, wollten sie nicht unter die Armutsgrenze abrutschen.
Gut strukturiert und oft erhellend ist die Skizze zu "Freizeit, Alltagskultur und Konsum" (18-27) - man denke an die Hinweise auf soziale Differenzierung durch "Reisestile" (19) oder die konstitutive Rolle von "Aushandlungsprozessen" zwischen Parteistaat und Bevölkerung in der Konsumpolitik (22). Doch wenn apodiktisch erklärt wird, "eine Freizeitkultur" sei "in der DDR erst in den späten fünfziger Jahren" entstanden, weil erst dann "die drückende Not der Nachkriegszeit überwunden" worden sei und "zunehmend Geld, Zeit und Waren für Freizeitaktivitäten zur Verfügung" gestanden hätten (19), ist diese Sicht allzu schematisch. Zieht man die Breitenwirkung von Leihbibliotheken, Sportaktivitäten und Kinoveranstaltungen schon zu Beginn der Fünfzigerjahre in Betracht, dürfte eher von einem Wandel der Freizeitkultur durch verstärkte Kommerzialisierung und neue Medialisierung die Rede sein. Allzu blass bleibt der zutreffende Hinweis auf das DDR-Selbstverständnis als "Kulturgesellschaft" (25), dessen Validität nicht allein quantitativ gemessen werden sollte, sondern durch ergänzende typologische Unterscheidung zwischen hochkultureller Traditionspflege, ambivalenter Volkskunst-Förderung und sozialistisch-proletarischen Experimenten besser zu fassen gewesen wäre.
Weithin ausgezeichnete Überblicke vermitteln die Passagen zu den wichtigsten sozialen Schichten der DDR-Gesellschaft, die Bauerkämper in den Großgruppen der Arbeiter, der landwirtschaftlich Beschäftigten sowie der "Intelligenz", des "Restbürgertums" und der "Funktionäre" erblickt. Treffend wird gezeigt, dass die ideologisch zur "führenden Klasse" überhöhte Arbeiterschaft in der DDR ihren früheren Zusammenhalt und ihre "Konturen" durch Wachstum und soziale Durchmischung völlig verlor (30). Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass in der ländlichen Gesellschaft der DDR nicht die "Bodenreform" von 1945 oder die "Kollektivierung" bis 1960, sondern erst die Bildung großräumiger Kooperationsbetriebe ab 1966/67 jene starren sozialen Hierarchien zerbrechen ließ, die bis dahin zumindest in altbäuerlich geprägten Regionen stabil geblieben waren (33). Überzeugend werden länger bestehende Spielräume bürgerlicher Alt-Eliten mit deren zunehmender Durchmischung mit einer neuen, aus sozialen Aufsteigern bestehenden DDR-"Intelligenz" kontrastiert. Elitenwechsel und Eliten-Neubildung bestimmten erst recht die Sozialgeschichte der Funktionäre in der DDR. Hier (40-43) erfährt man einiges über Kaderpolitik, Elitenwechsel und Sozialstruktur der SED-Führung, doch über vorhandene Ansätze einer Sozialgeschichte des breiten Funktionärskorps der SED und anderer DDR-Parteien findet man erstaunlicherweise nichts, obwohl z. B. die SED-Entwicklung ab 1950 zu einer Angestelltenpartei mit zahlreichen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern mehr als erwähnenswert schiene. Überdies wäre der durch vorrangige Betrachtung etwas überbetonte politische Aspekt (Kaderpolitik) mit dem säkularen Trend gesellschaftlichen Wachstums einer breiten Angestelltenschicht zu koppeln. Die strikt arbeitsgesellschaftliche Anbindung der ausgewählten sozialen Gruppen wirft aber auch grundsätzliche Fragen auf. Um nicht einfach das ganz ähnlich gezimmerte SED-Selbstbild von der DDR-Gesellschaft zu reproduzieren, wären auch weniger "passende" Schichten wie die Nichterwerbstätigen - ein Teil der Rentner und der Frauen - und noch stärker marginalisierte oder gar stigmatisierte Randgruppen wie Behinderte und "Asoziale" einzubeziehen gewesen.
Zu Beginn seines Forschungsüberblicks weist Bauerkämper zu Recht auf sektorale Ungleichgewichte des aktuellen Forschungsstandes hin (47). Breiteren Raum nimmt die Diskussion vergleichender Ansätze ein, welche die DDR-Geschichte in größere Zusammenhänge einzubetten suchen - ein Thema, das für die künftige Ortsbestimmung der zeitgeschichtlichen DDR-Forschung allerhöchste Aktualität besitzt. Zunächst wird der Diktaturenvergleich zwischen NS-Staat und SED-Staat präsentiert und dabei namentlich "Jürgen Kockas Konzept der 'modernen Diktatur'" besonders "akzentuiert". Wenn Bauerkämper referiert, wie Kocka das "SED-Regime ebenso wie das 'Dritte Reich' in den autoritären, illiberalen und antidemokratischen Traditionen des 'deutschen Sonderweges' verwurzelt" sieht (51), hätte er allerdings durchaus fragen dürfen, ob sich die autoritäre - oder doch totalitäre? - Ausrichtung einer sozialistischen Diktatur (die auch wesentlich durch sowjetische Modelle mitgeprägt wurde) tatsächlich derart eng geführt erklären lässt. Sodann werden Vergleichsansätze einer deutsch-deutschen Perspektive (Vergleich oder Beziehungsgeschichte DDR-Bundesrepublik) und einer westeuropäischen Perspektive (z. B. Vergleich DDR - Frankreich) erörtert. Umso mehr erstaunt, dass eine vierte nahe liegende Perspektive - der Vergleich mit der Sowjetunion oder mit osteuropäischen Nachbarn - völlig unerwähnt bleibt.
Um die innere Dynamik der DDR-Gesellschaftsentwicklung zu skizzieren, werden grundlegende Spannungen zwischen sozialistischer "Egalitätsdoktrin" und fortbestehender oder neu geschaffener sozialer Ungleichheit überzeugend beschrieben (60 ff.). In den Blick geraten die unterschiedlichen sozialen Gruppenmobilitäten (Abstieg, Aufstieg, Aufstiegsblockaden), soziale Milieus und soziale Verhaltensweisen gegenüber der Politik, insbesondere gegenüber der "Diktatur vor Ort" (95). Beachtung finden auch die Auswirkungen massenhafter Migrationsprozesse - Vertriebenenzustrom, Republikflucht, ausländische Arbeitsmigration - auf Sozialstruktur und soziale Beziehungen der DDR. Treffend erfolgt der Hinweis auf die differenzierende Wirkung unterschiedlicher Konsumchancen, Generations- oder Geschlechtszugehörigkeiten (67 ff.). Dabei wird leider die vielschichtigere Generationenproblematik auf die Jugend verengt. Auch die Darstellung der DDR-Frauenpolitik erscheint zu einseitig-negativ, was vor allem daran liegt, dass lediglich "die Widersprüchlichkeit der politischen Eingriffe und ihre ambivalenten Wirkungen auf die gesellschaftliche Stellung und Rolle der Frauen in der DDR herausgearbeitet" werden (73), nicht jedoch die darauf sehr unterschiedlich reagierende Mikro-Politik der Frauen selbst - im Sinne des eigensinnigen Umgangs unterschiedlicher Generationen und Schichten von Betroffenen mit jenen politischen Wirkungsambivalenzen, die oft genug individuelle Spielräume entstehen ließen.
Abschließend bleibt festzuhalten: Arnd Bauerkämpers Überblick über die Sozialgeschichte der DDR bietet interessierten Neueinsteigern eine sehr brauchbare Einführung in das Thema, die mit dessen zentralen Inhalten, Forschungsdebatten und Forschungsleistungen vertraut macht. Auch erfahrenere DDR-Forscher werden dieses Buch aufgrund seiner stringenten Gliederung, seiner zumeist fundierten Argumentation und seines respektheischenden Literaturüberblicks zu schätzen wissen. Was im Einzelfall Fragen oder Widerspruch hervorrufen mag, beeinträchtigt insgesamt in keiner Weise die freimütige kollegiale Anerkennung einer bemerkenswerten Leistung.
Michael Schwartz