Bernd Roeck: Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit. Von der Renaissance zur Revolution, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, 375 S., 66 Abb., ISBN 978-3-525-36732-2, EUR 29,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Bernd Roeck (Hg.): Stadtbilder der Neuzeit. Die europäische Stadtansicht von den Anfängen bis zum Photo, Ostfildern: Thorbecke 2006
Bernd Roeck: Ketzer, Künstler und Dämonen. Die Welten des Goldschmieds David Altenstetter. Eine Geschichte aus der Renaissance, München: C.H.Beck 2009
Markwart Herzog / Rolf Kießling / Bernd Roeck (Hgg.): Himmel auf Erden oder Teufelsbauwurm? Wirtschaftliche und soziale Grundlagen des süddeutschen Klosterbarock, Konstanz: UVK 2002
So allmählich scheint der Iconic turn auch die Geschichtswissenschaft zu erreichen. Hatte Arthur Imhof noch gemeint, der Historiker brauche die 'Bilder' nur einfach 'anzuschauen' (1991), und fand gleichzeitig die von Brigitte Tolkemitt und Rainer Wohlfeil propagierte Historische Bildkunde (HZ-Sonderheft) im Fach nur ein schwaches Echo, so traf ein Jahrzehnt später Peter Burkes eher flüchtiges Eyewitnessing (2001) so genau den internationalen Trend, dass es sogleich ins Deutsche übersetzt wurde (Augenzeugenschaft, 2003). Diese Ansätze werden nun von dem Zürcher Frühneuzeithistoriker Bernd Roeck, einem namhaften Grenzgänger zwischen Fach- und Kunsthistorie (vgl. u. a. Kunstpatronage in der Frühen Neuzeit, 1999), übertroffen: sowohl, was die kunstwissenschaftliche Kompetenz und die Fülle des zusammengetragenen Materials betrifft, als auch hinsichtlich der facettenreichen Problemstellung. Im Herbst 2004 erschienen, zielt seine vorliegende "Einführung in Probleme des Umgangs mit Kunstwerken als Geschichtsquellen" auf "die Erschließung eines interdisziplinären Feldes" (7). Nach einer tour d'horizon der kulturhistorischen Grundpositionen seit Winckelmann und Herder über weniger bekannte Autoren wie M. Thausing und C. Schnase bis hin zu Baxandall und Bourdieu, wobei natürlich weder die Ikonologie noch die Psychohistorie fehlen, arbeitet Bernd Roeck im Hauptteil seiner neuen Monografie den geschichtlichen Wirklichkeitsgehalt von Kunstwerken heraus, um anschließend deren Funktionen und Wirkungen "in der Welt" zu skizzieren und danach mit einem Essay über die geschichtliche 'Realität' der Kunstwerke selbst zu schließen.
Kein Zweifel: hier schreibt ein profunder Kenner vor allem der italienischen Renaissance und der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, dem die Kunst dieser Kulturen aus eigener Anschauung ebenso vertraut ist wie die ästhetische Debatte von Leon Battista Alberti bis zu Roger de Piles. Zugleich umsichtig aus der weit verstreuten Forschungsliteratur schöpfend, beschreibt er prägnant nicht nur die Säkularisierungstendenzen in der Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts oder die "Sprache der Dinge" in holländischen Genrebildern, nicht nur die Konstruktivität alter Stadtansichten oder die politische Kunstpatronage und die neuzeitliche Erweiterung des Kunstmarktes, sondern im Anschluss an neuere kulturhistorische Fragestellungen betrachtet er die Bildwerke und ihre Details auch als Zeugnisse für mentale Vorgänge wie den "Prozeß der Zivilisation" oder die Aufwertung der Sinnlichkeit und der Intimität, als vernachlässigte Quellen der Ereignis-, der Geschlechter- und der Familiengeschichte.
Doch trotz einer Fülle origineller Beobachtungen und glücklicher Formulierungen beweist Das historische Auge von Bernd Roeck meines Erachtens nicht überall denselben Scharfblick. Chronologisch reicht es nur ansatzweise ins 18. Jahrhundert und nicht wirklich, wie der Untertitel ankündigt, bis zur Revolution von 1789, sondern erwähnt in äußerster Kürze gerade nur Boullée, Ledoux und David (250 f.). Geografisch vernachlässigt es den englischen und den französischen Kulturraum. Und gattungsmäßig unterschätzt es - zu Gunsten der Hochkunst - das Potenzial insbesondere der historisch-politischen Druckgrafik, aber auch der Volkskunst, indem es beispielsweise kuriosen Wachsvoti (277 f.) mehr Aufmerksamkeit widmet als den viel häufigeren Votivbildern (kurz erwähnt 187) oder Bilderbogenserien mit Kaufmannsrufen und mit ihnen die einschlägigen Pionierstudien etwa von Bernard Cousin (1983) und Vincent Milliot (1995).
Dies erstaunt umso mehr, als sich gerade aus kulturhistorischer Sicht die gesellschaftliche Wirkung eines Kunstwerks nicht zuletzt nach seiner sozialen Reichweite bemisst. Doch anstatt etwa zwischen Gemälden einer Fürstengalerie und im Druck vervielfältigten Bildflugblättern entsprechend zu unterscheiden, stellt Roeck alle Genres stillschweigend auf dieselbe Ebene, ja gegen druckgraphische Flugblätter erhebt er sogar "das Veto der Quellen": nicht nur, weil sie auf Grund der Zensur und aus Profitstreben in der Frühen Neuzeit nur "außerordentlich selten" Sozialkritik geübt hätten, sondern auch, weil ihre Auflagenhöhen und Preise "fast nie überliefert" seien und positive Quellenbefunde zum Publikum "so gut wie völlig" fehlten (282). Solche Behauptungen stimmen zwar weder mit der lückenhaften Zensur im Alten Reich und den Spottblättern eines Romeyn de Hooghe noch mit den profitablen Sozialsatiren eines William Hogarth (zu ihm kurz 243) und den in 1500 bis 3000 Exemplaren aufgelegten Propagandastichen des Comité de salut public (1794/94) überein; sie mögen aber eine Reihe empfindlicher Darstellungslücken erklären. Zum einen lässt Bernd Roeck sich auf die politisch besonders wichtigen Holzschnitte der Reformationszeit vergleichsweise wenig ein (129 f.) und übergeht den von Wolfgang Harms, Michael Schilling und John Roger Paas edierten Fundus deutscher illustrierter Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Zum anderen verkennt er die Bedeutung der wieder entdeckten Reproduktionsgraphik für die Verbreitung einprägsamer Bildformen und -motive und erwähnt auch die massenhaften Karikaturen der Französischen Revolution mit keinem Wort. Einschlägige Forschungen zu letzteren, u. a. von Klaus Herding und Christoph Danelzik-Brüggemann, erscheinen wohl in Roecks umfangreicher Bibliografie, werden von ihm aber nicht verarbeitet.
Abgesehen von solchen Wahrnehmungslücken des Historischen Auges stellt sich die grundsätzlichere Frage nach seiner 'Sehweise' insgesamt. Dem Verfasser kommt es darauf an, "Kunstwerke als einen Quellenbestand neben anderen für die Suche nach Spuren vergangener Mentalitäten und Emotionen, sozialen Verhaltens und politischer Strategien, untergegangener Lebenswelten zu nehmen - also nicht, was Aufgabe der Kunstgeschichte wäre, das Kunstwerk aus den rekonstruierten Milieus zu 'erklären'. [...] Selbst im phantasievollsten Arrangement geben die Künstler also realistische Einzelheiten ihrer Lebenswelten wieder, unabhängig von intendierten symbolischen Bezügen. Darin liegt eine Chance der historischen Analyse." (161). Dieser realien- und quellenkundliche Ansatz ist natürlich berechtigt. Er bedingt allerdings eine Perspektive, die Kunstwerke nicht als ganze (10), sondern selektiv nach historiografischen Prämissen betrachtet. Die Folge ist eine enumerative Darstellungsweise, die aus einer Vielzahl von Werken einzelne Aspekte - etwa zur These vom Vordringen der frühmodernen Intimität - isoliert und zu Belegsammlungen gruppiert, aber nur eine kleine Auswahl der aufgezählten Bildzeugnisse expliziert und abbildet. So entsteht fast der Eindruck einer Art Vorlesung, die bei ihrer Veröffentlichung ohne viele der ursprünglich gezeigten Bilder und ohne die erklärenden Nebenbemerkungen des Vortragenden auskommen muss. Etwas umfassendere Werk-Interpretationen wie die zum emblematischen Hintersinn von Jan Steens "Tischgebet" (151-53) bilden eher die Ausnahme. Sind aber bildgeschichtlich interessierte Historiker nicht ganz besonders auf solche exemplarischen Deutungen angewiesen, und ist es nicht gerade der Eigensinn des jeweiligen Kunstwerks als ganzen, der genuine, aus anderen "Quellen" so nicht erschließbare historische Informationen bereithält? So gesehen ist es zu bedauern, dass Bernd Roeck "die Wirklichkeit der Kunst" im Schlusskapitel des Buches zwar kurz abhandelt (291-97), sich in der Hauptsache aber kaum auf sie einlässt.
Rolf Reichardt