Rüdiger Wenzke (Hg.): Staatsfeinde in Uniform? Widerständiges Verhalten und politische Verfolgung in der NVA, Berlin: Ch. Links Verlag 2005, 642 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-86153-361-0, EUR 29,90
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Rüdiger Wenzke (Hg.): "Damit hatten wir die Inititative verloren". Zur Rolle der bewaffneten Kräfte in der DDR 1989/90, Berlin: Ch. Links Verlag 2014
Widerstand, Opposition und unangepasstes Verhalten in der DDR sind seit 1990 unter den verschiedensten Gesichtspunkten von der Forschung aufgegriffen worden. Die Streitkräfte der DDR standen dabei, wenn man einmal von den Bausoldaten absieht, nicht im Zentrum des Interesses. Daher ist es zu begrüßen, dass sich drei Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamts in dem vorliegenden Band eingehend "mit den Phänomenen widerständigen, nicht normgerechten, politisch abweichenden Verhaltens von Angehörigen der 'sozialistischen Arbeiter- und Bauernarmee' der DDR" befassen (7). Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen waren Tatbestände, die als politische Vergehen galten, sowie Verhaltensweisen, die disziplinarische Maßnahmen oder Parteistrafen nach sich zogen. Daher basiert das Buch vor allem auf den dazu einschlägigen Aktenbeständen des Bundesarchivs-Militärarchivs, auf den Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sowie auf der Überlieferung des Zentralen Parteiarchivs der SED. Ergänzend wurden oppositionelle Selbstzeugnisse herangezogen.
Auf die Einleitung von Rüdiger Wenzke, die den Rahmen absteckt und den Gegenstand in die Militär- und die Oppositionsgeschichte der DDR einordnet, folgen die Ausführungen von Torsten Diedrich zum widerständigen Verhalten in der "Truppe" in den Jahren 1948 bis 1968. Rüdiger Wenzke widmet sich im Anschluss daran Protesten und Verweigerungsmustern zwischen 1968 und 1989, während Hans Ehlert die NVA "im Strudel des gesellschaftlichen Umbruchs" 1989/90 untersucht. 40 Dokumente und zehn Faksimiles runden den Band ab. Alle Beiträge behandeln auch den Auf- und Ausbau des Repressionsapparats innerhalb der NVA. Vorgestellt werden im Einzelnen die Entwicklung des Disziplinarrechts, die Möglichkeit der Repression durch den Parteiapparat, das Wirken der speziell für die Streitkräfte zuständigen Hauptabteilung I des MfS, die Militärjustiz und der Militärstrafvollzug.
Besondere Aufmerksamkeit widmen die Autoren den Krisenjahren des Ostblocks. Für den Volksaufstand von 1953 konstatiert Diedrich Gehorsamsverweigerung in mehr als 100 nachweisbaren Fällen. Gleichwohl sei "widerständiges Verhalten" in der Kasernierten Volkspolizei (KVP) kein Massenphänomen gewesen. Wie er an anderer Stelle dargelegt hat, war die Truppe loyaler als von der Führung angenommen. 1956 wurden ebenfalls nur relativ wenige "politische Vorkommnisse" in der NVA registriert; die Zahl der Unerlaubten Entfernungen von der Truppe war im vierten Quartal 1956 um mehr als die Hälfte niedriger als im Vergleichszeitraum von 1955 (104 f.). Während der Tage des Mauerbaus blieben politischer Nonkonformismus und abweichendes Verhalten "auf eine Reihe von Einzelfällen beschränkt" (143). Auch das Jahr 1968 sah keine besondere Häufung "politischer Kriminalität" in der NVA; gleichwohl zeigte sich damals widerständiges Verhalten "quantitativ und qualitativ weitaus ausgeprägter" als 1956, 1961 oder 1980/81 (240). Mehrere hundert Armeeangehörige sympathisierten damals offen mit den Reformern in der ČSSR und/oder lehnten den Truppeneinmarsch ab. Die Autoren suchen indes nicht nur in Krisenzeiten nach abweichendem Verhalten, sondern auch im Zusammenhang etwa mit Desertionen, mit der Einführung der Wehrpflicht 1962, mit dem Bausoldatendienst, mit rechtsextremistischen Vorfällen und mit der so genannten "EK-Bewegung" - einer Hackordnung, in der vor allem Soldaten des ersten Diensthalbjahres erheblichem Druck vonseiten der "Entlassungskandidaten" ausgesetzt waren. Für die unterschiedlichen Erscheinungsformen nonkonformen Verhaltens wird eine Fülle von Fallbeispielen präsentiert - so viele, dass bisweilen der Eindruck verwischt wird, dass es sich dabei um ein Minderheitsphänomen handelte.
Ein zentrales Problem des Bandes bildet die begriffliche Fassung des Untersuchungsgegenstandes. Die Autoren haben sich für einen sehr breiten Widerstandsbegriff entschieden, da "jede selbstgewählte normative Einengung sowie eine ausgefeilte begriffliche Typologisierung" ihre Forschungen "eher behindert als befördert" hätten (7). Als Ausgangspunkt einer ausgedehnten Sammelarbeit ist diese Entscheidung durchaus sinnvoll. Doch nach einer Sichtung des umfangreichen Materials wäre eine genauere Begriffsbestimmung notwendig gewesen, um die einzelnen Phänomene besser einordnen und bewerten zu können. Eine solche Bewertung ist alles andere als einfach, zumal abweichendes Verhalten oft einen nicht-politischen Ursprung besaß, von den Repressionsorganen aber in zahlreichen Fällen "politisiert" wurde. So war etwa das Hören von westlichen Rundfunksendungen untersagt; wenn dies doch geschah und die Hörer aufflogen, mussten sie in den Sechzigerjahren mit empfindlichen Strafen rechnen. Dies erschwert die Antwort auf die Frage, ob etwa die Bildung eines "Elvis-Presley-Musikklubs" in einer Artillerieabteilung eine widerständige Handlung darstellte.
Eine weitere Schwierigkeit, die von den Autoren letztlich nicht bewältigt werden konnte, betrifft die Quantifizierung abweichenden Verhaltens in den DDR-Streitkräften. So werden zwar Aussagen über Desertionsraten und die in den unterschiedlichen Zeiten variierende Anzahl von Parteiausschlüssen getroffen; zu einem Gesamtbild fügen sich diese Informationen jedoch nicht zusammen. Bedauerlicherweise verzichten die drei Autoren auch auf eine abschließende Bilanz, in der übergreifende Fragen hätten beantwortet werden können: Welche Umstände beförderten unangepasstes Verhalten in der NVA, wann und warum häuften sich die behandelten "Vorkommnisse", wann gingen diese zurück?
Ungeachtet dieser Einwände bleibt festzuhalten, dass der Band wertvolle Einblicke in das Innenleben der DDR-Streitkräfte bietet. Trotz der Versuche, diese von den allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen möglichst hermetisch abzuschließen, gelang dies nie vollständig. Auch die NVA war Teil der DDR-Gesellschaft, obwohl sie gleichzeitig eines der wichtigsten Herrschaftsinstrumente der Staatspartei darstellte.
Hermann Wentker