Viktoria Lukas: St. Maria zur Wiese. Ein Meisterwerk gotischer Baukunst in Soest, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2004, 183 S., 150 Farb-Abb., ISBN 978-3-422-06439-3, EUR 24,90
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Im Zusammenwirken der verschiedenen Künste zählt die Wiesenkirche im westfälischen Soest zu den Hauptwerken hochgotischer Baukunst in Deutschland. Das Bauwerk verbindet den zentralisierenden Grundrisstypus der westfälischen Hallenbautradition mit dem innovativen Formenkanon des vertikalisierenden gotischen Baustils. Ihre repräsentative Doppelturmfassade hebt sich imposant über den historischen Stadtkern von Soest hinaus, und inmitten eines gewachsenen Ensembles von bedeutenden mittelalterlichen Sakralbauten verkörpert die mächtige Silhouette der Marienkirche zur Wiese das erstarkende Selbstbewusstsein einer einstmals blühenden hanseatischen Bürgerschaft.
In 'St. Maria zur Wiese' überzeugt Viktoria Lukas sowohl den Laien als auch den Fachmann von der überragenden Qualität der in einer einzigartigen Synthese aus Glas und Stein erbauten dreischiffigen Hallenkirche und ihrer reichhaltigen Ausstattung. Die vorliegende Studie besticht durch die äquivalente Präsentation von breit gefächertem, wissenschaftlich fundiertem Text- und umfangreichem, hochwertigem Bildmaterial. In diesem Sinne lässt sich der Titel weder unter der Kategorie eines rein populärwissenschaftlich orientierten Kirchenführers subsumieren, noch erhebt er den Anspruch, eine detaillierte wissenschaftliche Monografie zu sein. Vielmehr stellt sich das Buch als eine neuartige und gelungene Synthese aus Monografie, Kirchenführer und Bildband dar.
Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel, denen sich ausführliche Unterkapitel anschließen. Stringent und konzentriert vermittelt die Verfasserin zunächst die Geschichte der mittelalterlichen Hansestadt Soest und präsentiert im nachfolgenden zweiten Kapitel die gründlich recherchierte Baugeschichte und die Restaurierungsmaßnahmen an der Kirchenanlage selbst. Fundierte Bauanalysen der Grund- und Wandaufrisse und gekonnt formulierte Baubeschreibungen der Innen- und Außenarchitektur ergänzen den historischen Abschnitt.
Der heutige Bau der Marienkirche zur Wiese wurde nach einer Inschrift im Hauptchor wahrscheinlich im Jahre 1313 an Stelle eines romanischen Vorgängerbaues aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts begonnen. Die architektonische und stilistische Entwicklung des aus grünem Mergelsandstein errichteten Baukörpers weist auf einen kontinuierlichen Bauablauf, der von Osten nach Westen erfolgte. Eine Inschrift am nördlichen Turmaufgang bekundet den Baubeginn der Westturmanlage durch Baumeister Johannes Verlach für das Jahr 1421 und die Fortsetzung der Bauarbeiten und deren vorläufigen Abschluss bis in die Zwanzigerjahre des 16. Jahrhunderts. Erst drei Jahrhunderte später, im Jahre 1846, wurde die Bautätigkeit an der nur behelfsmäßig abgeschlossenen Doppelturmfassade durch August Soller, Oberbaudirektor der staatlichen Denkmalpflege in Berlin, und den Arnsberger Architekten E. H. Cuno wieder aufgenommen. Anno 1875 wurde die Turmanlage schließlich nach den Vorbildern der Kölner Domfassade und des Freiburger Münsterturmes vollendet.
Das dritte Kapitel des vorliegenden Buches widmet sich ausführlich den Restaurierungs- und Umbaumaßnahmen, die zwischen den Weltkriegen und in der Nachkriegszeit an der Wiesenkirche vorgenommen wurden. Diese vor allem an der Turmfassade durchgeführten Renovierungsarbeiten wurden notwendig nicht nur wegen zahlreicher schwerer Kriegsbeschädigungen, sondern auch wegen des porösen Baumaterials des Grünsandsteins, dessen Witterungsanfälligkeit vor allem in den Jahren zwischen den Weltkriegen Anlass zu diversen Abarbeitungen, baukünstlerischen Reduzierungen und damit aus Gründen des Zeitgeschmacks auch der häufig unnötigen Entfernung zahlreicher Detailformen boten.
Im Anschluss daran stellt die Autorin in den zwei umfangreichen letzten Kapiteln die wertvolle Ausstattung des Kircheninneren vor. Hier werden insbesondere die qualitativ hochwertigen und überregional bedeutenden Glasfenster der Wiesenkirche detailliert beschrieben, stilistisch von der mittelalterlichen Bildkunst der westfälischen und niederrheinischen Kunstlandschaft hergeleitet und ihr komplexes ikonografisches Programm liturgisch fundiert. Die in einem Zeitkorridor von sechshundert Jahren datierenden Glasfenster, deren Hauptchorfenster den größten erhaltenen Zyklus mittelalterlicher Glasmalerei in Westfalen darstellen, werden ferner vergleichend gegenübergestellt und im Sinne einer baukünstlerischen Inszenierung des gotischen Raumideals in Korrelation mit der umgebenden Architektur gesetzt. Die souverän dargebotenen Bildbeschreibungen der Verfasserin werden von hochwertigen, großenteils ganzseitigen Farbabbildungen begleitet, die stimmig auf den ihnen auch textlich zugeordneten Seiten angebracht sind, sodass ein direkter Vergleich zwischen Text- und Bildgattung erfolgen kann und unnötiges Blättern vermieden wird.
Auch der außergewöhnliche Figurenzyklus monumentaler Chorstatuen, die auf der Höhe der transparenten Glasfensterfiguren virtuos in die diaphane Komposition des Chorhauptes integriert worden sind, zählt zum wertvollen Ausstattungsschatz der Wiesenkirche. Das komplexe Bildprogramm der stilistisch nicht einheitlich ausgeführten Chorskulpturen erschließt sich vor allem im Zusammenhang mit der Glasmalerei und verweist auf die Vereinheitlichung aller Gattungen zum gotischen Idealtypus eines kostbaren schreinartigen Gehäuses als architektonische Formulierung des himmlischen Jerusalem.
Als erwähnenswerte Ausstattungsgegenstände der Wiesenkirche fungieren neben dem genannten architekturimmanenten Inventar auch kunstvolle und gut erhaltene Wandmalereien aus drei Jahrhunderten und zahlreiche künstlerisch hervorragend gefertigte Altäre und bedeutende Tafelgemälde maßgeblicher westfälischer Künstler in der Nachfolge des Conrad von Soest, Albrecht Altdorfer oder der alten niederländischen Meister wie Rogier van der Weyden oder Dirk Bouts. Auch die deskriptiven Darstellungen der Gemälde werden von erstrangigen, großenteils ganzseitigen Farbabbildungen begleitet, die der Qualität des Inventars allen Nachdruck verleihen. Den Ausführungen über Altäre und Tafelbilder lässt die Verfasserin Kurzbeschreibungen weiterer Kunstwerke in der Wiesenkirche folgen. Ergänzt wird das umfangreiche Register der Ausstattungsobjekte durch die Präsentation des binderlosen Dachwerks. Den fortlaufenden Text begleiten regelmäßig eingefügte Informationstafeln, die weitere Sachfragen, Problembereiche und auch Zeitströmungen vertieft behandeln. So erhält der Leser etwa in dem Kapitel über die Vollendung der Kirche im 19. Jahrhundert interessante und übersichtliche Informationen über das Nationaldenkmal und die Denkmalbewahrung in Deutschland; das Kapitel über die Kunstwerke aus der Wiesenkirche beinhaltet einen Bericht über die Entwicklung des Tafelbildes, und den Textabschnitt über Altäre und Tafelgemälde ergänzt ein informativer Einschub über den mitteldeutschen Maler Conrad von Soest.
Mit 'St. Maria zur Wiese' liegt ein prägnanter, umfassender und exemplarischer Kunstband auf neuestem Stand vor, der das Bauwerk und sein umfangreiches Inventar diszipliniert und systematisch präsentiert. Als wissenschaftlich fundierte, reich bebilderte Studie der Wiesenkirche und ihrer Ausstattung stellt das Werk einen neuartigen und Erfolg versprechenden Publikationsansatz dar, der sowohl dem kunsthistorischen Laien als auch dem architekturgeschichtlichen Fachmann informative, gut verständlich formulierte Darstellungen gewährt und interessante Einblicke in architektonische Detailfragen und kunstlandschaftliche Zuordnungen der Bau- und Bildkunst bietet.
Den präzisen, professionell ausgeführten Baubeschreibungen der Soester Wiesenkirche stehen zwar zuweilen etwas zäh und additiv aneinander gefügte Bild- und Objektbeschreibungen gegenüber, die die anfängliche Dynamik und anschauliche Sprachführung der Verfasserin gelegentlich etwas vermissen lassen; wünschenswert wäre neben der Einfügung einer Übersichtstafel über Lage und Anordnung der einzelnen Glasfenster ebenfalls ein kurzes Nachwort, in dem die Qualität der Wiesenkirche und ihres Inventars noch einmal abschließend gewürdigt wird. Insgesamt handelt es sich bei 'St. Maria zur Wiese' jedoch um eine geglückte Synthese aus gelungener Analyse, übersichtlicher Präsentation, hervorragenden Abbildungen und interessanten Texteinschüben, die auch einen allgemeinen Überblick und damit die bessere Einordnung der Wiesenkirche in den kunsthistorischen Kontext erlauben.
Ulrike Gentz