Bettina Braun / Frank Göttmann / Michael Ströhmer: Geistliche Staaten im Nordwesten des Alten Reiches. Forschungen zum Problem frühmoderner Staatlichkeit (= Paderborner Beiträge zur Geschichte; Bd. 13), Köln: SH-Verlag 2003, 304 S., ISBN 978-3-89498-140-2, EUR 22,00
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Bettina Braun: Princeps et episcopus. Studien zur Funktion und zum Selbstverständnis der nordwestdeutschen Fürstbischöfe nach dem Westfälischen Frieden, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013
Jan Turinski: Leichenpredigten und Trauerzeremoniell der geistlichen Kurfürsten. Studien zum Bischofsideal und zur Sepulkralkultur in der Germania Sacra zwischen Westfälischem Frieden und Säkularisation , Münster: Aschendorff 2023
Dietmar Schiersner / Hedwig Röckelein (Hgg.): Weltliche Herrschaft in geistlicher Hand. Die Germania Sacra im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin: De Gruyter 2018
Bettina Braun / Jan Kusber / Matthias Schnettger (Hgg.): Weibliche Herrschaft im 18. Jahrhundert. Maria Theresia und Katharina die Große, Bielefeld: transcript 2020
Bettina Braun / Katrin Keller / Matthias Schnettger (Hgg.): Nur die Frau des Kaisers? Kaiserinnen in der Frühen Neuzeit, Wien: Böhlau 2016
Die allenthalben mit großem Aufwand begangene Erinnerung an die Säkularisation von 1802/03 ist schon wieder Vergangenheit. Nach den obligaten Ausstellungskatalogen und -begleitbüchern erscheinen nun nach und nach die anlassbezogenen Tagungsbände, aber längst gilt es neuen Jubiläen entgegen zu eilen, und die geistlichen Staaten des Alten Reiches, deren Geschichte und Untergang in einer - traditionsgemäß - kontroversen Diskussion vorübergehend größere Aufmerksamkeit gefunden hatten, drohen im Getriebe der Aktualitäten neuerlich "unterzugehen".
Umso mehr ist das Forschungsvorhaben zu begrüßen, das sich auf Initiative Frank Göttmanns am Historischen Seminar der Universität Paderborn wohl noch auf längere Sicht um die empirische Aufarbeitung und vorurteilsfreie Bewertung geistlicher Staatlichkeit primär im nordwestdeutschen Raum bemühen will. Das anzuzeigende Buch, hervorgegangen aus einer Tagung im Spätjahr 2002, präsentiert in zwölf Beiträgen von elf Autoren erste Erträge des Projekts, dessen Mitarbeiter als Habilitanden, Doktoranden und Magistranden auf allen Ebenen akademischer Qualifikation angesiedelt sind.
Dem Unternehmen liegt die für manchen Leser möglicherweise provokative Hypothese zugrunde, der frühneuzeitliche, "frühmoderne" geistliche Staat repräsentiere ein alternatives, nichtmachtstaatliches und insoweit sehr wohl "zukunftsfähiges" Herrschafts- und Ordnungsmodell, in dessen Tradition sich nicht zuletzt der moderne Rechts- und Sozialstaat stellen lasse (55 f.). Über eine sachlich weite, räumlich und zeitlich jedoch begrenzte Vorgehensweise, die selbstredend auch die ideellen und immateriellen Grundlagen geistlicher Herrschaft in Betracht zieht, soll die Eigentümlichkeit des geistlichen Staatswesens in der frühen Neuzeit herausgearbeitet und obendrein ein Beitrag zur Struktur und Entwicklung von Staatlichkeit im Alten Reich überhaupt geleistet werden (16 f., 54 f.).
Im Anschluss an zwei Grundsatzbeiträge, die sich zum einen dem Projekt und seinen Zielsetzungen (Frank Göttmann), zum anderen dem Stand der Forschung (Bettina Braun / Frank Göttmann) widmen, sind die weiteren Aufsätze vier thematischen Blöcken zugeordnet: 1. Der Fürst, 2. Intermediäre Gewalten, 3. Staatstätigkeit und 4. Wirtschaft und Finanzen. Im Einzelnen werden das Spannungsverhältnis zwischen den geistlichen und weltlichen Funktionen des Bischofs (Bettina Braun) und die künstlerischen Ausdrucksformen fürstbischöflichen Selbstverständnisses (Lutz Reinking) thematisiert, darüber hinaus die Rolle von Domkapiteln (Gesine Dronsz), Ritterschaften (Andreas Müller) und bürgerlichen Eliten (Roland Linde), Jurisdiktion (Michael Ströhmer), Seelsorge (Mareike Menne) und Frömmigkeit (Joachim Rüffer) sowie schließlich die landständische Partizipation (Hartmut Borgschulze) und das städtische Finanzwesen unter geistlicher Herrschaft (Andreas Neuwöhner). Der Schwerpunkt liegt auf dem Hochstift Paderborn, jedoch finden darüber hinaus auch das Erzstift Köln sowie die Hochstifte Münster, Osnabrück und Hildesheim Berücksichtigung. Das chronologische Spektrum reicht von der Mitte des 16. bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts. Wie in vielen anderen Sammelbänden sind die einzelnen Beiträge von durchaus unterschiedlichem Gewicht, aber doch durchweg informativ und großenteils auch weiterführend. (Unbeschadet norddeutscher Traditionen, nach denen der "Probst" oder die "Pröbstin" in spezifischen Kontexten mit b geschrieben werden, sollte im Allgemeinen - mit Rücksicht auf die Herkunft des Begriffs von praepositus - die Schreibweise mit p beibehalten werden, vgl. 9, aber 27).
Im aktuellen Diskurs über die Bewertung der geistlichen Staaten ist dieses Buch der Richtung zuzuordnen, die eher einem positiven Urteil zuneigt und die vielfach behauptete Rückständigkeit und Fortschrittsfeindlichkeit des geistlichen Herrschaftssystems nicht ohne weiteres akzeptiert. Allerdings wird "das vormals runde Bild" vom "ordinierten Schlendrian" deshalb nicht kurzerhand durch ein vollständig neues, gewendetes ersetzt (217). Zu Recht verlangt man, die Einseitigkeiten, Vorurteile und Defizite, mit denen die Erforschung geistlicher Herrschaft von jeher belastet war, im Vergleich mit weltlichen Herrschaften entsprechender Größe zu überwinden und nicht immer nur an den vermeintlichen "Normalfällen" Preußen und Österreich Maß zu nehmen. Dieser Forderung wird man sich umso lieber anschließen, als von einer derart erweiterten Perspektive letztlich nicht allein die Sicht auf die geistlichen Staaten profitieren wird, sondern die Sicht auf das "Dritte Deutschland" - auf das Spezifische an der deutschen Geschichte - überhaupt.
Indes mag der von den Herausgebern erhobene Anspruch dahingestellt bleiben, eine Betrachtung der geistlichen Staaten Nordwestdeutschlands könne Ergebnisse von größerer Allgemeingültigkeit hervorbringen als die Erforschung der Erz- und Hochstifte oder Prälatenherrschaften Oberdeutschlands (19 ff.). Schließlich sind beträchtliche Größenunterschiede hier wie dort zu verzeichnen, und Osnabrück und Hildesheim mit ihren konstitutionellen und konfessionellen Besonderheiten können ja gerade nicht als typische Krummstabländer gelten. Weiterführen wird aber gewiss die solide, multiperspektivische Grundlagenarbeit mit langem Atem, wie sie hier in Angriff genommen wurde und wie sie sinnvollerweise nur in regionaler Beschränkung zu leisten ist. Entscheidend bleibt freilich am Ende der überregionale Vergleich im Rahmen der ganzen Germania Sacra, zu dem wir alle aufgerufen bleiben.
Kurt Andermann