Harald Stadler / Martin Kofler / Karl C. Berger: Flucht in die Hoffnungslosigkeit. Die Kosaken in Osttirol, Innsbruck: StudienVerlag 2005, 63 S., ISBN 978-3-7065-4152-7, EUR 9,50
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Gisela Schwarze (Hg.): Die Sprache der Opfer. Briefzeugnisse aus Rußland und der Ukraine zur Zwangsarbeit als Quelle der Geschichtsschreibung, Essen: Klartext 2005
William Taubman: Khrushchev: The Man and His Era, New York: W.W. Norton & Company 2003
Georg Wurzer: Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Russland im Ersten Weltkrieg, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005
In der UdSSR ließen die immensen Belastungen von Krieg und deutschem Besatzungsregime ab 1941 innere Gegensätze und Bruchstellen der stalinistisch formierten Gesellschaft in der - hier wertfrei so genannten - Kollaboration deutlich hervortreten. Die vielfältigen Motivationen und Formen der Kollaboration sowjetischer Bürger mit Deutschland sowie die Gegenreaktionen des Stalinismus lassen sich erst seit den letzten Jahren in empirischen Forschungen erschließen. Dabei wird der Blick für die unterschiedlichen Motive der vermeintlichen "Verräter", die vom bloßen Überlebenswillen bis hin zum tief eingebrannten Hass auf den Bolschewismus reichten, geschärft. Zugleich wird deutlich, dass Stalins Sowjetunion undifferenziert und erbarmungslos mit den "Staatsfeinden" aller Couleur abrechnete. [1] Dies galt besonders für die Angehörigen der so genannten "bewaffneten Kollaboration mit dem Feind". Auch hier hat die Forschung sowohl das breite Spektrum von Freiwilligen, Gepressten, Hilfswilligen, Verzweifelten und Überlebenskünstlern als auch die harsche, ideologisch aufgeladene Vergeltung der UdSSR nachgezeichnet. Diese traf in gleitenden Abstufungen Rotarmisten, die - letztlich aufgrund des Unvermögens der Armeeführung - in deutsche Gefangenschaft geraten waren, ebenso wie freie Stalin-Gegner, die sich der Wehrmacht aus anti-bolschewistischer Überzeugung zur Verfügung stellten. [2]
Zur letzteren Gruppe gehörten auch Verbände der Kosaken aus der südlichen Sowjetunion (von Don, Kuban und Terek), die ab 1943/1944 dem deutschen Rückzug folgten. Ein Teil nahm als XV. Kosaken-Kavallerie-Korps unter Generalmajor Helmuth von Pannwitz unter anderem an deutschen "Partisanenaktionen" in Jugoslawien teil. Von Pannwitz zog sich mit seinen Truppen bis Anfang 1945 bis nach Österreich zurück und kapitulierte in Kärnten vor den Briten. Kämpfende Angehörige des so genannten "Lagers" (stan'), das gemäß alter Tradition auch die Familienangehörigen umfasste, wurden dagegen in Italien zur Partisanenbekämpfung eingesetzt. Gegen Kriegsende zog das "Lager" aus Italien ins österreichische Osttirol, um sich hier ebenfalls britischen Truppen zu ergeben.
Zu diesem Zeitpunkt konnten die Kosaken von den Vereinbarungen der Großen Drei in Jalta noch nichts wissen: Die UdSSR hatte durchgesetzt, dass Sowjetbürger, die von den Westmächten befreit oder gefangen genommen wurden, an die UdSSR auszuliefern waren. Mit Blick auf die Kosakenverbände formulierte der spätere Premierminister Harold Macmillan, der als Kabinettsvertreter bei Feldmarschall Harold Alexander weilte, in seinem Tagebuch den britischen Standpunkt: "Sie auszuliefern, heißt, sie zu Sklaverei, Folter und möglicherweise zum Tod zu verdammen. Dies zu verweigern, würde die Russen sehr vor den Kopf stoßen und nebenbei die Vereinbarung von Jalta brechen. Wir haben beschlossen, sie auszuliefern." (19) Die britische Entscheidung galt für Kampfverbände wie für Familienangehörige gleichermaßen. Zudem spielte es hier keine Rolle, dass sich unter den Kosaken auch Veteranen des Bürgerkriegs befanden wie etwa General Andrej Škuro, der bereits 1920 aus Russland emigriert war. Nachdem die britischen Armeestellen eine freiwillige Waffenabgabe der Kosaken erreicht hatten, wurden diese ab Ende Mai 1945 mit List und nackter Gewalt an der Demarkationslinie in Judenburg der Roten Armee übergeben: Das NKVD meldete am 15. Juni 1945 die Übernahme von gut 42.000 russischen "Vlasov-Leuten". Darunter befanden sich rund 25.000 Angehörige des "Lagers" in Osttirol (15-19). Das Gros der unfreiwilligen Repatrianten wurde offenbar in Zwangsarbeitslager verschickt, die Überlebenden wurden Ende der 1940er-Jahre östlich des Urals zwangsweise angesiedelt. Bereits 1947 waren hohe Generäle in einem Geheimverfahren zum Tode verurteilt und hingerichtet worden (19). [3]
Die vorliegende Broschüre ist als "Zwischenergebnis" bisheriger Arbeiten (11) der Begleitband zu einer entsprechenden Ausstellung in der Osttiroler Tammerburg. Sie nähert sich dem Thema aus ungewohnter Perspektive an. Im Mittelpunkt steht nicht die politische Geschichte der Auslieferungen - diese wird in zwei einführenden Beiträgen skizziert. Der Schwerpunkt liegt vielmehr auf der Alltags- und Kulturgeschichte der Kosaken in Osttirol, auf Fragen des Lagerlebens, auf Kulturkontakten, osttiroler Wahrnehmungen und volkskundlichen sowie archäologischen Überlieferungen. Entstanden ist damit ein interessantes Beispiel für die so oft vergeblich eingeforderte interdisziplinäre Forschung, von der auch die Gesellschafts- und Zeitgeschichte profitieren kann.
Das gilt in diesem Kontext zunächst einmal auch für die "volkskundlichen" Betrachtungen der osttiroler Erinnerungskultur (28-38). Interviews und Relikte werfen ein grelles Licht auf die ambivalenten Einstellungen der einheimischen Bevölkerung gegenüber den ungebetenen Gästen und ihrem Schicksal, die sich aus tradierten Vorurteilen, unterschwelligen Auswirkungen der NS-Propaganda, aktuellen Besorgnissen und individuellen Überlegungen zusammensetzten. Dieses Konglomerat konnte zu neuen Freundschaften führen, schlug sich aber offenbar häufiger im bedenkenlosen Ausnutzen der Zwangslage der Kosaken nieder: Nach der Auslieferung der Kosaken wurden herrenlose Pferde geschlachtet, der liegen gebliebene Besitz geplündert. Zugleich nutzten Österreicher das Ereignis zur geschichtspolitischen Neujustierung von Siegern und Besiegten, indem sie Briten zu "Tätern" stilisierten. Über den Umweg der regionalen Feldforschung lassen sich somit Erkenntnisse über die österreichische Vergangenheitsbewältigung ebenso wie über das Funktionieren der "Volksgemeinschaft" finden. Vor diesem Hintergrund mag es weniger überraschen, dass sich die Autoren in ihren Gesprächen und Forschungen mit "großen Emotionen" der österreichischen Zeitzeugen konfrontiert sahen (10). Daneben hatte das Projekt mit behördlicher Ignoranz - oder verdeckten Widerständen? - zu kämpfen. Damit belegt die Projektgeschichte selbst die im Vorwort formulierte Notwendigkeit, das österreichische Gedenkjahr 2005, das sich am Kriegsende und dem Abschluss des Staatsvertrags orientiert, um die Aufarbeitung anderer Aspekte zu erweitern.
Die Bedeutung "neuzeitarchäologischer" Funde und Befunde für die Erforschung der Alltagsgeschichte der Kosaken sowie der Aneignung und Veränderung der fremden Kultur durch die einheimische Bevölkerung liegt auf der Hand und wird in einem letzten Beitrag zusätzlich mit zahlreichen Abbildungen untermauert. Den Band beschließen Auszüge aus dem Tagebuch eines Kosaken für die Zeit vom 22. Juni 1941 bis zum 2. Januar 1945. Der Autor, der mitunter in der dritten Person über sich schreibt, eröffnet in seinen knappen Mitteilungen Einblicke in die kosakische Wahrnehmung von Krieg und Besatzung und bereichert in zeithistorischer Perspektive die bereits angesprochenen Diskussionen um Ziele und Mittel der Kollaboration.
Angesichts der anregenden Erkenntnisse ist zu hoffen, dass die ausstehenden Arbeiten - Befragungen von Kosaken, weitere Grabungen und eine konsequente historische Einordnung - noch geleistet werden können.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa: Kooperation und Verbrechen. Formen der "Kollaboration" im östlichen Europa 1939-1945, Göttingen 2003. Instruktiv der Abriss von E. F. Krin'ko: Kollaboracionizm v SSSR v gody Velikoj Otečestvennoj vojny i ego izučenie v rossijskoj istoriografii, in: Voprosy istorii, 11 (2004), 153-164.
[2] Zur Repatriierungspolitik: Ulrike Goeken-Haidl: Der Weg zurück. Die Repatriierung sowjetischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener während und nach dem Zweiten Weltkrieg, Diss. Freiburg/Br. 2003 (Druck in Vorbereitung); Pavel Poljan: Žertvy dvuch diktatur. Žizn', trud, uniženie i smert' sovetskich voennoplennych i ostarbajterov na čužbine i na rodine, 2. Auflage Moskau 2002. Zu Vlasov-Armee u. a. Formationen: K. M. Aleksandrov: Protiv Stalina. Vlasovcy i vostočnye dobrovol'cy vo Vtoroj mirovoj vojne. Sbornik statej i materialov, Sankt-Peterburg 2003, dazu die älteren Werke von Joachim Hoffmann.
[3] Vgl. insgesamt weiter Nikolai Tolstoy: Die Verratenen von Jalta. Englands Schuld vor der Geschichte, Berlin 1987. Zum späteren Beleidigungsprozess des ehemaligen britischen Brigadegeneral, Lord Aldington, gegen Tolstoy Ian Mitchell: The cost of a reputation: Aldington versus Tolstoy, Edinburgh 1998.
Andreas Hilger