Melanie Ilic / Jeremy Smith (eds.): Soviet State and Society Under Nikita Khrushchev (= BASEES/RoutledgeCurzon Series on Russian and East European Studies; Vol. 57), London / New York: Routledge 2009, XVIII + 216 S., ISBN 978-0-415-47649-2, GBP 80,00
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Nach Chruščevs Tod entwarf der Künstler Ernst Neizvestnyj ein Grabmal, das die Licht- und Schattenseiten des ehemaligen Ersten Sekretärs zum Ausdruck bringen sollte. Öffentlichkeit und Forschung überwanden die Mauer des Schweigens, die Chruščevs Nachfolger errichtet hatten, erst wieder mit Perestrojka und mit dem Zerfall der UdSSR. Die jüngere Forschung hat sich dem ambivalenten Charakter Chruščevs sowie der zwiespältigen Bilanz seiner Karriere mit differenzierten Analysen angenähert und konnten sich dabei auf eine wesentlich erweiterte Quellenbasis stützen. [1] Schon diese Darstellungen haben gezeigt, dass Chruščevs Widersprüchlichkeit und sein politisch-ideologisches Programm nur ausschnittsweise erfasst werden, wenn der Fokus auf die begrenzte Entstalinisierung sowie den Kalten Krieg gerichtet wird. Der von Melanie Ilic und Jeremy Smith herausgegebene Sammelband beleuchtet daher weitere innen- und gesellschaftspolitische Aspekte der Ära Chruščev. Ein Folgeband, der den oberen Machtzirkel im Kreml und seine Wirtschaftspolitik in den Blick nimmt, ist für 2010 angekündigt. [2]
Die zehn Kapitel decken eine große Bandbreite von Themen ab, natürlich ohne dass damit Vollständigkeit angestrebt werden könnte. Nach einer fundierten Einleitung (Melanie Ilic) widmet sich der erste Beitrag der Entstehung und Rezeption des dritten Parteiprogramms von 1961. Das Programm trug bekanntermaßen die Handschrift Chruščevs. Seine Anweisungen enthüllten beispielhaft die Sprunghaftigkeit sowie den ideologisch begründeten Optimismus des Parteichefs. So warnte Chruščev zwar davor, Punkte in das Programm aufzunehmen, die die Partei nicht realisieren könnte, da sonst das gesamte Programm diskreditiert würde. Zugleich aber war es Chruščev selbst, der eine Passage einfügte, die versprach, die USA in der Pro-Kopf-Produktion bis 1970 zu überholen (10). Der Darstellung der programmatischen Hauptideen folgen im Buch Fallstudien über die Wohnungs-, Bildungs-, Familien- und Frauenpolitik bis 1964. Ein aufschlussreicher Beitrag von Pia Koivunen widmet sich dem Jugendfestival von 1957 in Moskau, ein anderer der Rolle der Gewerkschaften in Chruščevs Reformentwürfen. Die letzten drei Kapitel unterstreichen, dass das poststalinistische Regime auf die repressive Absicherung seiner Macht nicht verzichten wollte und konnte. Die Jahre 1957/58 markierten den Höhepunkt der poststalinistischen, politisch motivierten Verhaftungen, obwohl die politische Dissidenz das Gesamtsystem keineswegs grundsätzlich in Frage stellte (Julie Elkner; Robert Hornsby). Die blutige Niederschlagung des Aufstands von Novočerkassk (1962) (Joshua Andy) bildete einen weiteren negativen Höhepunkt der Regierung Chruščev. Auch hier richtete sich die Unzufriedenheit der Arbeiter gegen den Kreml'-Chef und gegen konkrete Einzelmaßnahmen und nicht gegen die sowjetische Ordnung als solche. Eine umfangreiche Auswahlbibliographie schließt den Band ab.
Die analytischen Grundfragen der Herausgeber halten die Sammlung trotz ihrer thematischen Vielfalt gut zusammen. Die verschiedenen Untersuchungen loten das Verhältnis zwischen Chruščev'scher Macht- und Reformpolitik auf der einen und den betroffenen Bürgern und gesellschaftlichen Institutionen auf der anderen Seite aus. Gefragt wird nach Handlungsspielräumen einer Gesellschaft unter den Bedingungen des Poststalinismus, der auf Massenterror verzichtete und auf Massenmobilisierung und -mitwirkung in einem hoch ideologisierten Rahmen setzen wollte. Die Autoren weisen zu Recht darauf hin, dass viele Projektideen oder Lösungsansätze der späten 1950er und frühen 1960er Jahre ihren Ursprung in der Stalinherrschaft hatten. Diese verdeckten Kontinuitäten bieten einen wichtigen Maßstab für die Gesamtbewertung der Entstalinisierung. Sie weisen zugleich auf die epochenübergreifende Relevanz gesellschaftlicher Grundprobleme im ganzen sowjetischen System hin. Auf der anderen Seite lassen sich Kommunikationskanäle zwischen Staat und Gesellschaft und die entsprechenden Institutionen nicht auf eine eindeutige, exklusive Funktion oder Wirkungsweise reduzieren. "Frauenräte", Gewerkschaften oder Hausverwaltungen beispielsweise gewährleisteten Kontrolle und Anleitung von oben. Gleichzeitig bündelten sie Forderungen von unten und verliehen ihnen so mehr Durchschlagskraft. Sie boten staatlich legitimierte und kontrollierte neue Räume und öffentliche Foren, die eben auch zur Verfolgung von individuellen oder Gruppeninteressen genutzt werden konnten. Umgekehrt führte die neue Mobilisierung der Bevölkerung nicht zwangsläufig zu einem Mehr an Partizipation, sondern dehnte immer auch die Möglichkeiten des Überwachungsstaats aus (34).
Vor diesem Hintergrund gilt den systemrelevanten Funktionseliten und -kadern ein besonderes Interesse. Für die Bildungsreform von 1958 zeichnet Laurent Coumel den nachhaltigen Widerstand der Wissenschaft nach, die das weit gehende Reformprojekt Chruščevs dauerhaft unterlief. Die Armee bildete bis zum Anfang der 1960er Jahre, folgt man der bereits erwähnten Darstellung von Joshua Andy, ein starkes Selbstbewusstsein heraus. Der Kreml brauchte im Kalten Krieg eine schlagkräftige und moderne Streitmacht. Die entsprechende Aufwertung und Spezialisierung trug dazu bei, dass sich die Armeekader im Extremfall nicht mehr umstandslos für die Bekämpfung innerer Unruhen instrumentalisieren ließen. Der Beitrag spricht schließlich einen weiteren Aspekt an, der den Band ebenfalls wie ein roter Faden durchzieht: Aktuelle Forschungen zu einer Periode, die mittlerweile über 40 Jahre zurück liegt, leiden immer noch an unverständlichen Zugangsbeschränkungen russischer Archive.
Wie in Gemeinschaftsunternehmen üblich, so variiert auch in diesem Sammelband nicht nur die Quellendichte der Beiträge, sondern auch ihre analytische Schärfe. Die Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung etwa ließ sich offenbar nur anhand veröffentlichter Quellen rekonstruieren und bleibt vornehmlich deskriptiv. Neben den bereits erwähnten Autoren gelingt es vor allem Mark B. Smith in seinem Beitrag über die Wohnungsproblematik, das Spannungsfeld von Politik, gesellschaftlichen Eigeninteressen, von Ideologie und Expertentum auszumessen. Insgesamt unterstreichen die Beiträge den ambivalenten Charakter der Ära Chruščev und zeigen Wege auf, ihm in der Forschung weiter gerecht zu werden. Der exorbitante Preis des Buches steht einer angemessenen Verbreitung dieser Anregungen leider im Weg und stellt letztlich die Grundidee wissenschaftlichen Publizierens in Frage.
Anmerkungen:
[1] Besonders William Taubman: Khrushchev. The man and his era, New York 2003; Aleksandr Fursenko / Timothy Naftali: Khrushchev's Cold War. The Inside Story of an American Adversary, New York 2006.
[2] Jeremy Smith/Melanie Ilic (eds.): Khrushchev in the Kremlin: Policy and Government in the Soviet Union, 1953-1964, London 2010.
Andreas Hilger