Latvijas Vēsturnieku komisijas raksti. Symposium of the Commission of the Historians of Latvia, Riga: Latvijas vēstures institūta apgāds, Vols. 1-15, 2000-2005
Valters Nollendorfs / Erwin Oberländer (eds.): The Hidden and Forbidden History of Latvia under Soviet and Nazi Occupations 1940-1991. Selected Research of the Commission of the Historians of Latvia (= Latvijas Vēsturnieku komisjas raksti - Symposium of the Commission of the Historians of Latvia; Vol. 14), Riga: Latvijas vēstures institūta apgāds 2005, 383 S., ISBN 978-9984-601-92-2
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Wie in Estland und Litauen hat die zeithistorische Forschung auch in Lettland dank neuer institutioneller Strukturen in den letzten Jahren einen kräftigen Aufschwung erlebt. Das ist in diesem Fall nicht zuletzt das Verdienst einer im November 1998 vom lettischen Staatspräsidenten eingesetzten 25-köpfigen internationalen Historikerkommission, die seither in vier Unterkommissionen zentrale Probleme der neuesten lettischen Geschichte aufarbeitet, dazu seit Juni 1999 in dichter Folge internationale Symposien ausrichtet und deren Ergebnisse erfreulich zügig publiziert. Der Gesamtindex der inzwischen vorliegenden 15 Tagungsbände weist 278 Einzelbeiträge aus der Feder von 116 lettischen, russischen, amerikanischen, deutschen, tschechischen, finnischen und polnischen Autoren aus. [1] Er gibt zugleich einen guten Überblick über die von der Kommission geförderten bzw. behandelten Themenfelder: 127 der 278 Beiträge sind der deutschen Besatzungszeit während des Zweiten Weltkriegs gewidmet, wobei die Hälfte dieser Beiträge (63) auf die Behandlung der Judenverfolgung und des Holocausts in Lettland entfällt (nur ein weiterer Aufsatz behandelt das gleiche Thema für Litauen); ein beachtlicher Teil der übrigen Beiträge hat unterschiedliche Formen lettischer Kooperation oder Kollaboration mit dem deutschen Besatzungsregime, vor allem im Rahmen der verschiedenen Schutz-, Polizei- und Waffen-SS-Einheiten, zum Gegenstand.
Den zweiten großen Schwerpunkt der Tagungsbände bilden die beiden sowjetischen Okkupationen, denen insgesamt 117 Beiträge gewidmet sind, von denen wiederum 45 die erste sowjetische Besatzung der Jahre 1940-1941 und 59 die Phase der Sowjetisierung in der Zeit von 1944 bis 1959 behandeln - wobei die Deportationen und Repressalien, denen die einheimische lettische Bevölkerung durch sowjetische Sicherheitsorgane ausgesetzt war, eindeutig im Vordergrund stehen. Die Entwicklungen der späteren Sowjetzeit bleiben dagegen vergleichsweise unberücksichtigt, und Fragen von Kooperation und Dissens, 'perestrojka' und Transformation werden noch kaum erörtert. Auffallend wenige Beiträge sind methodisch-theoretischen Aspekten und vergleichenden Fragestellungen gewidmet; die mit ähnlichen Besatzungs- und Sowjetisierungsproblemen konfrontierten Nachbarländer tauchen nur selten als Vergleichsobjekte oder eigenständige Untersuchungsgegenstände auf. Auch der explizite Vergleich der deutschen und sowjetischen Besatzungssituationen begegnet nur in einem guten Dutzend Beiträgen.
Die Mehrzahl der Aufsätze der 15 Tagungsbände ist lettischsprachig abgefasst, aber mit guten englischen Zusammenfassungen ausgestattet, sodass sich die (im Übrigen auch mit englischem Paralleltitel und Inhaltsverzeichnis versehenen) Bände, die zudem stets einige englisch- und deutschsprachige Beiträge enthalten (dann mit lettischen Zusammenfassungen), international gut rezipieren lassen. Dennoch ist es mehr als begrüßenswert, wenn mit Band 14 nunmehr auch ein durchgehend englischsprachiger Band vorliegt, der - so die beiden Herausgeber in ihrer Einleitung - dem nichtlettischsprachigen Leser eine erste Zusammenfassung und Bilanz der wichtigsten von der Kommission bislang erarbeiteten Ergebnisse bieten soll. Dementsprechend spiegelt der Band mit seinen 20 (überwiegend zuvor bereits in lettischer Fassung publizierten) Aufsätzen die oben skizzierten Schwerpunktsetzungen. Nach einem einführenden Überblick, in dem Alfred Erich Senn (der einzige nichtlettische Beiträger des Bandes) in einem anregenden komparativen Zugriff die drei Besatzungssituationen in Estland, Lettland und Litauen skizziert, folgen vier Abschnitte, deren thematischer Zuschnitt ("Under Soviet Union 1940-1941", "Under National Socialist Germany 1941-1945", "Holocaust in Nazi-Occupied Latvia" und "Under Soviet Union 1944-1991") zugleich die Arbeitsfelder der vier Unterkommissionen der Kommission widerspiegelt.
Im ersten Abschnitt gibt Irēne Šneidere zunächst einen Überblick über die bisherige Forschung zur ersten sowjetischen Besatzung 1940-41 und hebt die zentralen Fragen hervor (Rolle der Juden, Zahl der Opfer), die seit Mitte der 1990er-Jahre unter geänderten Rahmenbedingungen neu gestellt werden. In einem zweiten Beitrag beschreibt sie sodann den Vorgang der Besatzung selbst, wobei ihr Augenmerk insbesondere der personellen Vorbereitung der 'Sowjetisierung' und ihrer Funktionsweise gilt. Rudīte Vīksne schildert die Inhaftierungen und Verurteilungen durch sowjetische Organe, denen zwischen August 1940 und Juni 1941 insgesamt ca. 3000 Personen zum Opfer fielen. Mit der Vorbereitung, der Durchführung und den Folgen der sich am 14. Juni anschließenden Deportation von über 15.000 Letten befasst sich Jānis Riekstiņš (mit englischer Wiedergabe eines der zentralen sowjetischen Dokumente zu diesem Vorgang).
Der zweite Abschnitt beginnt mit einem instruktiven Überblick über die in den 1990er-Jahren entfaltete lettische Historiografie zur deutschen Besatzung Lettlands, in dem Inesis Feldmanis Fragen nach dem regional differenzierten Beginn der Besatzungsherrschaft, dem Umfang des Besatzungsterrors sowie den Formen von Widerstand und Kollaboration als die zentralen Forschungsprobleme benennt. Wie im Sommer 1941 die Ablösung der sowjetischen durch die deutsche Besatzung konkret erfolgte, untersucht Juris Pavlovičs, wobei ihn vor allem die Erfahrungen der lettischen Kleinstädte und ländlichen Gemeinden interessieren. Kārlis Kangeris widmet sich dem heiklen, weil noch immer nicht emotionslos diskutierten Problem der lettischen Schutzmannschafts- und Polizeibataillone, deren Aufstellung in den Reihen der lettischen landeseigenen Verwaltung kontroverse Reaktionen auslöste, letztlich lettischerseits aber ebenso überwiegend befürwortet worden ist, wie die Mobilisierung zur Waffen-SS, die Inesis Feldmanis beschreibt. Feldmanis geht dabei sowohl von einem ausschließlichen Zwangscharakter dieser Mobilisierungen wie davon aus, dass die lettischen Waffen-SS-Einheiten in keiner Weise an "repressive operations" beteiligt gewesen seien. Nicht nur an dieser Stelle tritt im vorliegenden Band (wie auch an anderer Stelle der Konferenzserie) ein gewisser apologetischer Zug hervor, der zeigt, dass die lettische Forschung - wie Feldmanis u. a. im Übrigen selbst einräumen - erst am Beginn eines langen Weges steht. Als noch weitgehend unerforscht erscheinen auch die Auswirkungen der nationalsozialistischen Propaganda auf die lettische Öffentlichkeit. Wie Uldis Neiburgs aus einer ersten Analyse folgert, ist ihr insgesamt wenig Erfolg beschieden gewesen. Jedenfalls habe sie die positive Erwartungshaltung, mit der die - schlecht informierte - lettische Öffentlichkeit während der Besatzungszeit ihre Hoffnungen auf die westlichen Alliierten setzte, nicht erschüttern können. Zudem sei die deutsche Seite erstaunlich ungenau über die Einstellungen der Letten und ihre Widerstandspotenziale im Bilde gewesen. Leider folgt dieser Feststellung kein ausführlicherer Beitrag über den antideutschen Widerstand; Antonijs Zunda gibt stattdessen lediglich eine knappe Skizze über die Behandlung des Themas in der sowjetischen, exillettischen und postsowjetischen Historiografie.
Den Holocaust behandeln im dritten Abschnitt drei Beiträge: Aivars Stranga gibt einen allgemeinen Überblick, in dem er knapp den Gesamtablauf schildert, auch - vorsichtig - auf die lettische Beteiligung eingeht und den Versuch unternimmt, die Gesamtzahl der jüdischen Opfer zu ermitteln (65.000-70.000). Dzintars Ērglis schildert aus der Mikroperspektive ein Massaker in einer lettischen Kleinstadt (Krustpils) und lenkt damit den Blick auf die in dieser Hinsicht bislang noch kaum untersuchte Provinz. Wie Ērglis stützt sich auch Rudīte Vīksne bei ihrer Untersuchung der personellen Zusammensetzung des berüchtigten Arājs-Kommandos vor allem auf KGB- bzw. sowjetische Gerichtsakten, die in diesem Fall anlässlich der zwischen 1944 und 1967 geführten Prozesse gegen 356 Mitglieder des Kommandos entstanden sind. Auf dieser Quellengrundlage gelingt Vīksne eine eindrucksvolle Analyse der Herkunft, der Einstellungen und späteren Bestrafung der Mitglieder dieses Mordkommandos.
Im vierten Teil des Bandes vermitteln sechs Beiträge schließlich einen Überblick über die Entwicklung Lettlands im Verbund der Sowjetunion seit 1944. Heinrihs Strods skizziert die Grundlinien der sich in drei Phasen (1944-1946, 1947-1950, seit 1950) vollziehenden Sowjetisierung und diskutiert ihre Wirkungen bis 1991; Jānis Riekstiņš beschreibt die mit der Sowjetisierung verbundenen Kolonisations- und Russifizierungsprozesse, die zu einem grundlegenden Wandel in der ethnischen Zusammensetzung des Landes führten und bis 1989 den Anteil der Letten an der Gesamtbevölkerung auf 52% reduzierten, den der Russen dagegen auf 34% anhoben. Daina Bleiere diskutiert die Zwangskollektivierungen in der Landwirtschaft und die damit verbundenen Repressionen, die sie als "social genocide" charakterisiert, während Aleksandrs Ivanovs die Sowjetisierung der lettischen Historiografie behandelt, Aldis Bergmanis, Ritvars Jansons und Indulis Zālīte die Aktivitäten und Repressionsformen der Sicherheitsorgane der Lettischen SSR in den Jahren 1944 bis 1956 beschreiben und Heinrihs Strods abschließend einen Überblick über den bewaffneten und zivilen Widerstand in Lettland in den Jahren 1944 bis 1991 gibt.
Alle Aufsätze des Bandes basieren in hohem Maße auf neu erschlossenem Archivmaterial, in erster Linie aus lettischen, daneben auch aus deutschen und russischen Archiven. Die ausgebreiteten Einsichten können damit durchweg auf eine erheblich erweiterte Quellenbasis gegründet werden. Allerdings bleibt zu konstatieren, dass der Zugang zu den Moskauer Archivbeständen nach wie vor zu wünschen übrig lässt und sich hier der Forschung noch erhebliche Aufgaben stellen. Zudem ist zu hoffen, dass sich diese Forschung künftig in noch stärkerem Maße als bisher in einem internationalen Diskurs fortentwickeln möge. Der besprochene Band leistet dazu mit seiner englischsprachigen Vermittlung zentraler neuerer lettischer Ansätze einen hervorragenden Beitrag.
Anmerkung:
[1] Latvijas Vēsturnieku komisijas rakstu bibliogrāfisks rādītājs: 1.-15. sējums, in: Dzintars Ērglis (Hg.): Totalitārie režīmi Baltijā. Izpētes rezultāti un problēmas. Starpautiskās konferences materiāli, 2004. gada 3.-4. jūnijs, Rīga 2005 (Latvijas Vēsturnieku komisijas raksti; Bd. 15), 250-279.
Eduard Mühle