Gerhardt Nissen: Kulturgeschichte seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen, Stuttgart: Klett-Cotta 2005, 575 S., ISBN 978-3-608-94104-3, EUR 48,00
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Nissens umfangreiche "Kulturgeschichte seelischer Störungen" ist in 15 Kapitel gegliedert. Er schlägt den Bogen von der Antike "Psyche, Ärzte und Medizin im Altertum" bis zur "Kinder- und Jugendpsychiatrie im 20. Jahrhundert" und legt dabei umfangreiches Material aus der Geschichte des Altertums sowie der europäischen Kulturgeschichte vom Mittelalter bis zur Aufklärung vor, soweit es das Verständnis des Kindes und seines Verhaltens - aber auch des Erwachsenen - betrifft. Der Moderne räumt Nissen besonders großen Raum ein und stellt hier - wie auch schon ansatzweise früher - die Kulturgeschichte seelischer Störungen bei Kindern- und Jugendlichen vor allem als Bestandteil der Geschichte der Medizin dar; dabei vergisst er nicht Theologie, Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Psychotherapie zu berücksichtigen, soweit diese seelische Fragen, vor allem von Kindern und Jugendlichen, betreffen.
Es dürfte damit die zurzeit umfassendste deutschsprachige Zusammenstellung vorliegen, in welcher Nissen die Wurzeln der modernen, vor allem ärztlichen, aber auch anderen wissenschaftlichen Bemühungen um ein Verständnis kindlichen Verhaltens, seiner Entwicklung sowie seiner Beeinflussung und Beeinflussbarkeit erfasst. Er gibt damit allen, die sich mit der Geschichte der Medizin und angrenzender Wissenschaften beschäftigen, reichhaltiges, nach Zeitabschnitten und Geografie, zum Teil auch nach Phänomenologie geordnetes Material an die Hand. Der Aufbau des Buches, das übersichtlich gegliederte Inhaltsverzeichnis, aber auch das Sach-, Personen- und Literaturverzeichnis erlauben dem Leser rasche Orientierung und auch das isolierte Rezipieren einzelner Unterthemen.
Nissen arbeitet unter anderem heraus, dass Ärzte das Kindes- und Jugendalter nicht in allen Epochen als eigenständigen Lebensabschnitt auffassten; Gesundheit und Krankheit wurden nicht vor dem Hintergrund der körperlichen, seelischen und geistigen Entwicklung verstanden, vielmehr wurden Kinder oft wie Erwachsene betrachtet. Beispielsweise hat die Pädagogik in dieser Hinsicht eine andere Geschichte. Nissen stellt dazu eindrucksvolle Beispiele von Einrichtungen früherer historischer Epochen mit deren Konzepten dar, die Kinder und Jugendliche mit besonderen geistigen, seelischen und / oder körperlichen Problemen förderten. Ein Wandel vollzieht sich in der Medizin des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts, sodass sich Pädiatrie und später auch Kinder- und Jugendpsychiatrie als eigene Subdisziplinen der Medizin etablieren.
Der Autor geht auch darauf ein, wie in vielen Epochen körperlich, geistig und seelisch Kranke Opfer von Gewalt, Ausstoßung und Vernachlässigung waren. Der Kampf um ihr Wohl wurde keineswegs in erster Linie von Ärzten geführt. Dieser Kampf war vielmehr Teil gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und stand insofern im Zentrum theologischer, philosophischer, pädagogischer sowie wirtschaftlicher, juristischer und politischer Diskurse in ihrer jeweiligen kulturgeschichtlichen Prägung. Die Befreiung von Kranken aus menschenunwürdiger Behandlung entsprang zunächst Befreiungsgedanken, beispielsweise der Aufklärung. Die Arbeit von Reformeinrichtungen für Kranke, die auf menschenwürdige und freiheitliche Prinzipien gegründet waren, fand auch das Interesse von Philosophen, Theologen und Pädagogen.
Nissens Buch ist wie gesagt vor allem ein Buch über die Geschichte der Medizin, soweit sie sich mit Verhalten, seelischem Leid, deren Erfassung, Entstehung, Behandlung und Prävention im Kindes- und Jugendalter beschäftigt hat, und weniger eine Kulturgeschichte der seelischen Störungen von Kindern- und Jugendlichen. Mit dem Störungsbegriff verwendet Nissen einen Begriff der heutigen Medizin in der Betrachtung früherer kulturgeschichtlicher Epochen. Seine Entstehung und heutige Verwendung in der Medizin, eben das moderne Verständnis von seelischer Störung, sind erst Ergebnis unserer Kulturgeschichte.
Ähnlich verwendet Nissen den modernen Arztbegriff auch für seine Betrachtung der historischen Abläufe. Heutige Begriffe wie Chirurg, Internist, Psychiater und Psychotherapeut, die jetzt Begriffe für ärztliche Tätigkeiten sind, waren aber im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit Begriffe für Tätigkeiten, die anderen Berufen zugeordnet waren, wenn sie überhaupt schon als Begriffe für Berufe bestanden. Die Tätigkeiten heutiger Psychiater und Psychotherapeuten waren ebenso anderen Berufen zugeordnet wie der Beruf des Chirurgen (dem Bader). Auf diese Weise entsteht der Eindruck, als habe (kultur-)geschichtlich betrachtet die Medizin in früheren Epochen der Beschäftigung mit seelisch Kranken große Bedeutung zugemessen. Nahe liegender ist ja ein umgekehrtes Resümee: Bis heute sind Psychiatrie, aber vor allem Psychosomatik und Psychotherapie in Klinik, Unterricht und Forschung unzureichend verankert, und dies lässt sich (kultur-)geschichtlich herleiten.
Eine Verwendung heutiger Einordnungen und Begriffe auf kulturgeschichtlich andere Epochen scheint auch bei der Gegenüberstellung der Kapitel "Die romantischen Ärzte" und "Die Ärzte der somatischen Schule", die zwei zeitlich parallel verlaufende Strömungen im 19. Jahrhundert beschreiben, zu Grunde zu liegen. Nissens Darstellung vermittelt den Eindruck, dass romantische, unwissenschaftlich denkende Ärzte denen gegenüber standen, die (natur-)wissenschaftlich verankert waren. Die Ärzte jedoch, die in den jeweiligen Kapiteln porträtiert werden, gingen sehr wohl von einer Somato- und Psychogenese seelischer Krankheiten aus. Insofern "Seele" von den "Somatikern" damals als eine an sich immer gesunde aufgefasst wurde, hatten sie einen metaphysischen Seelenbegriff zu Grunde gelegt, der mit dem der heutigen Medizin nicht unmittelbar vergleichbar ist.
Die Romantik verlief im romanischen und angelsächsischen Sprachraum anders als im deutschen Sprachraum, wo die künstlerische und geistige Beschäftigung mit dem Irrationalen, dem Konzepte der Aufklärung zum Teil nicht gerecht zu werden schienen, einen größeren Raum einnahm. Daher etablierten sich im deutschen Sprachraum zunächst eher Psychosomatik und Psychotherapie als eine Medizin, die sich in ihrem Ansatz leib-seelisch versteht und naturwissenschaftliche Erkenntnisweisen ebenso einbezieht wie Erkenntnismöglichkeiten, die dem Irrationalen gerecht werden. Nicht zuletzt deshalb sind Psychosomatik, Psychotherapie und Psychoanalyse bis heute in den Gesundheitssystemen der deutschsprachigen Ländern besser verankert als in vergleichbar entwickelten Ländern - und dies zum Teil trotz der enormen Rückschritte und Schäden, die durch den Nationalsozialismus entstanden sind.
Dem Einfluss des Nationalsozialismus auf die Medizin und hier vor allem auf Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie widmet meines Erachtens Nissen in diesem umfangreichen Werk zu wenig Aufmerksamkeit. Es spricht viel dafür, den Nationalsozialismus nicht als eine isolierte Episode zu verstehen. Er hatte (kultur-)geschichtliche Vorläufer und gerade in Psychiatrie und Psychotherapie weit reichende Folgen. Das vorliegende Buch hätte mehr dazu beitragen können, Licht in diese dunklen Fragen zu bringen.
Tobias von Geiso