Antonia Leugers (Hg.): Berlin, Rosenstrasse 2-4: Protest in der NS-Diktatur. Neue Forschungen zum Frauenprotest in der Rosenstrasse 1943, Annweiler: Plöger Medien 2005, 263 S., ISBN 978-3-89857-187-6, EUR 19,80
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Die Ereignisse zum Frauenprotest in der Rosenstraße sind schnell erzählt: Am 27. Februar 1943 wurden in einer groß angelegten "Abholungsaktion" Juden aus ihren Zwangsarbeiterbetrieben geholt und in Sammellager gebracht. Eines dieser Sammellager - und zwar ausschließlich für Juden, die in einer "Mischehe" lebten und für "jüdische Mischlinge" (24) - war in der Rosenstraße 2-4 eingerichtet worden. Daraufhin protestierten die Angehörigen (v. a. Frauen) in der Rosenstraße, und am 6. März kam es plötzlich zur Entlassung der Gefangenen. Hier beginnt nun der sensible Teil der Interpretation der Ereignisse: Wie ist dieser öffentliche Protest zu bewerten? Hat er zur Freilassung geführt oder gab es andere Gründe? Zwei Forschungspositionen stehen sich gegenüber: Während Nathan Stoltzfus in seiner Monografie 1996 argumentierte, dass die in der Rosenstraße festgehaltenen Personen nur durch den Protest ihrer Angehörigen vor ihrer Vernichtung gerettet werden konnten, hat Wolf Gruner in einem Kapitel seiner Dissertation 1997 die Position vertreten, dass die "Mischehepartner" in der Rosenstraße nicht deportiert, sondern lediglich erfasst werden sollten. Von einem erfolgreichen Protest könne keine Rede sein.
Der vorliegende Sammelband möchte nun mit neuen Erkenntnissen und Quellen (im Anhang sind zwölf ausgewählte Dokumente ediert) bisherige Lücken in der Rekonstruktion der Ereignisse schließen und "die Diskussion zur Rosenstraße beleben" (17). Dabei beziehen alle Beiträge des Sammelbandes eindeutig Position zu Gunsten einer hohen Bewertung des Protestes.
Pascal Prause liefert in seinem Beitrag neue Erkenntnisse zu den Ereignissen in der Rosenstraße. So wurden erstens die Verhafteten nicht nur "in das Sammellager Rosenstraße gebracht, sondern auch in die Lager in der Großen Hamburger Straße, in das Ballhaus 'Clou' und in die Auguststraße 17. Vor dem Lager in der Großen Hamburger Straße kam es in Folge dessen ebenfalls zu Protesten von Angehörigen" (33). Zweitens fanden bereits seit dem ersten Tag der Aktion Entlassungen statt und drittens wurden sie nicht nur aus den "Fabriken", sondern auch von zu Hause abgeholt. Schließlich seien auch Juden aus "privilegierten Mischehen" darunter gewesen. Insgesamt kann Prause zeigen, dass mit mehr Protest gerechnet werden muss als bisher angenommen.
Antonia Leugers geht der Rolle der Kirchenoberen bei den Freilassungen nach. Sie wendet sich dabei gegen die Vorstellung, dass die katholische Kirche entscheidend für die Entlassungen in der Rosenstraße gewesen sei, eine Position, die immerhin bei Heinz Hürten, Wilhelm Damberg und Stephan Adam zu finden sei (71). Die Bischofskonferenz habe den öffentlichen Protest trotz Kritik aus dem Ordensausschuss gescheut. Die Eingabepolitik Bertrams sei wirkungslos gewesen. Einen lauten Protest, wie ihn Margarete Sommer am 2. März 1943 von den Bischöfen und dem Papst gefordert hatte, hatte es ebenfalls nicht gegeben (72). Anders verhielten sich die niederländischen Bischöfe, die am 21. Februar 1943 in ihrem Hirtenbrief offen protestierten. Dieser Protest sei später mit dem Mythos umgeben worden, er habe zu einem extremen Vergeltungsschlag geführt. Nach einem im Erscheinen begriffenen Aufsatz von Theo Salemink (Utrecht) wurden jedoch "nur" 114 Personen (darunter Edith Stein) deportiert, die zu erwartenden Opferzahlen zur Rechtfertigung des "Schweigens" jedoch in der Nachkriegsliteratur ins Unermessliche gesteigert (75). Der Protest in der Rosenstraße sei nur auf Grund der zahlenmäßigen Größe der Opfer in Berlin zu verstehen, wo sich Angehörige bei ihrer Suche auf der Straße begegneten. Auf der Linie kirchlichen Handelns lag der Protest also nicht.
Dementsprechend überraschend ist die Fragestellung von Jana Leichsenring, ob der Protest in der Rosenstraße 1943 organisiert wurde und hier für die Organisation v. a. das "Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat Berlin" (HBOB) im Blick hat, das eng in das bistumsweite Netzwerk kirchlicher Arbeit eingespannt war. Eine besondere Rolle spricht sie Margarete Sommer, Geschäftsführerin des HBOB, zu, denn es sei nicht auszuschließen, dass Sommer nun weiter ging als bisher und zur Versammlung in der Rosenstraße aufrief (114). Überzeugend erscheint diese Eigenmächtigkeit Sommers angesichts des vorherigen Beitrags und der Quellenlage nicht.
Joachim Neander behandelt "die Auschwitz-Rückkehrer vom 21. März 1943". Dabei wird erst grundsätzlich auf die Möglichkeit von Entlassungen von Auschwitz eingegangen. Gegen Gruner wird argumentiert, dass selbst wenn der Protest der Frauen in der Rosenstraße nicht zur Freilassung ihrer Männer geführt habe, dieser Protest eine wichtige psychologische Wirkung für die Durchhaltefähigkeit der Männer gehabt habe (126 f.). Ob dies Gruners Argumentation trifft? Ferner gegen Gruner: Die 25 Juden aus der Rosenstraße seien als "Schutzhäftlinge" erst bei ihrer Ankunft in Auschwitz klassifiziert worden (129). Sie waren zur Zwangsarbeit ausgewählt worden. Zudem seien noch 120 jüdische Ehepartner bestehender 'Mischehen' nach Auschwitz deportiert worden (138). Insgesamt seien 35 von Auschwitz wieder zurückgekehrt, 23 aus der Rosenstraße und 12 aus anderen Sammellagern. Für Neander ist diese Bilanz am besten über die Straßenproteste zu erklären - möglich, aber man würde hier auch gern mehr über alternative Erklärungen wissen.
Nathan Stoltzfus erhält Gelegenheit, seine grundlegende Interpretation über einen Beitrag zum Bericht des Gerhard Lehfeldt über "Die Lage der 'Mischlinge' in Deutschland Mitte März 1943" zu vertiefen. Dieser Bericht zeige die Absichten des NS-Regimes Ende 1942/Anfang 1943 bezüglich der in 'Mischehen' lebenden Juden (Ziel "Endlösung"), ferner dass die führenden Persönlichkeiten beider christlichen Konfessionen grundlegende Kenntnisse über das Schicksal der Juden Europas hatten und dass sich die NS-Führung von äußeren Bedingungen beeinflussen ließ. Letzteres erscheint immer noch als stärkstes Argument für die Wirkung des Protestes.
Bestätigend dazu vergleicht Joachim Neander die Wirksamkeit des Protestes in der Rosenstraße mit den Protesten in Frankreich und in den Niederlanden. Hier wird nochmals die Position Saleminks zu den Niederlanden skizziert und gegen Gruner ins Feld geführt, was nicht die einzige Dopplung in dem Band darstellt. Die Deportation der 25 in "sternpflichtiger Mischehe" lebenden Juden aus der Rosenstraße erscheint dabei letztlich als "Versuchsballon" des NS-Regimes, welches in seiner gängigen Methode einen "Vorstoß" machte, um sich bei öffentlichem Protest vorläufig zurückzuziehen (202).
Insgesamt leistet der Sammelband einen äußerst wichtigen Beitrag zur Frage der Bewertung des öffentlichen Protestes in der NS-Diktatur und macht in erschreckender Weise deutlich, was mehr Mut möglicherweise hätte bewirken können. Gerade in kirchengeschichtlicher Perspektive ist dies besonders relevant - aber nicht nur hier. Leugers ist zuzustimmen, dass wir auf dem Feld des öffentlichen Protestes "zu einer umfassenderen Sicht kommen [...] müssen, die eine Einordnung der Protestformen und ihrer Erfolge und Misserfolge innerhalb der NS-Diktatur erst ermöglicht" (80). Es ist zu hoffen, dass der Sammelband diese Diskussion neu anregt.
Nicole Priesching