Klaus Garber: Das alte Buch im alten Europa. Auf Spurensuche in den Schatzhäusern des alten Kontinents, München: Wilhelm Fink 2005, 765 S., ISBN 978-3-7705-3234-6, EUR 78,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Dieser Band enthält 19 Aufsätze des Verfassers, die, mit einer unpublizierten Ausnahme, ab 1984, vorzugsweise jedoch in den 90er-Jahren, erschienen sind. Klaus Garber begibt sich nicht als Bibliothekar, sondern als ein Textwissenschaftler auf die Reise, der "den Geschicken der Werke auf der Spur bleiben" möchte (11). Diese Geschicke sind jeweils untrennbar mit der politischen Geschichte unseres Kontinents verknüpft: Garber stellt mit Wehmut fest, dass viele einzelne Werke oder ganze Bestandsgruppen unwiederbringlich zerstört, verschollen, verlagert, geteilt oder aber noch nicht im Entferntesten aufgearbeitet sind. Der "alte Kontinent" ist durch die Überwindung der Spaltung zwar wieder ohne Einschränkung erlebbar, jedoch haben über 40 Jahre kommunistischer Herrschaft im Osten und vermeintliche Progressivität im Westen nicht nur zu einem materiellen, sondern weitgehend auch zu einem mentalen Substanzverlust geführt. "Das alte Europa ist samt seinen Memorialstätten, den Bauten, kulturellen Milieus, geistigen Landschaften und eben auch den Bibliotheken in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts einem Prozeß der Ausblutung ausgesetzt gewesen, für den die bekannte Geschichte keine Parallele bereithält." (11) Dies hat dazu geführt, dass sich Kunst- und Kulturwissenschaften viel zu selten diesem noch immer greifbaren und weithin unausgeschöpften "alten Europa" zugewandt haben, um aus ihm neue Impulse disziplinärer und öffentlichkeitswirksamer Art zu schöpfen.
Garber führt den Leser in die Bibliotheken von Königsberg, St. Petersburg und Lemberg; er reist nach Vilnius, Reval und Riga; er besucht Breslau, Danzig, Posen, Thorn, Stettin - spart aber auch für die literarisch-kulturelle Entwicklung wichtige Orte wie Hamburg, Straßburg sowie Nürnberg nicht aus, und er behandelt großartige Bibliotheken in Gotha, Erfurt, Weimar, Jena, Leipzig, Halle, Zwickau und nicht zuletzt Dresden, die dem westlichen Besucher viele Jahre praktisch verschlossen waren. Damit werden die Konturen eines Europa sichtbar, das, etwa wie die gelehrte und universitäre Geschichte unseres Kontinents, von unerhörtem Reichtum allein schon an Sachwerten, kaum je ausgeschöpfter regionaler Vielfalt und gedanklich-poetischer Größe Vergleiche nicht zu scheuen braucht.
Der Verfasser würdigt den jeweiligen besonderen Bibliotheksbestand, charakterisiert herausragende frühneuzeitliche Werkgruppen und schildert ausführlich die Geschichte der Bibliotheken, ihre Zerstörung, Aufteilung, Verluste und teilweise Wiederentdeckung von einzelnen Bestandsgruppen. Sein Anmerkungsapparat ist, zum Vorteil des Lesers, keinerlei Beschränkungen unterworfen, und so kann dieser lebendigen Anteil an dem begeisterten Forschen und Entdecken des Verfassers nehmen (und erhält nicht zuletzt vielfache Anregungen für neue oder weiterführende Arbeiten). Es gibt zu denken, und dies wird von Garber wiederholt thematisiert, dass es kommunale Bibliotheken sind, die meist auf der Grundlage bürgerlichen Fleißes in Verbindung mit weitblickender Gelehrsamkeit entstanden; so waren in einzelnen Bibliotheken Zehn-, ja Hunderttausende wertvollster Drucke überliefert, die das ihre zum kulturellen Gedächtnis der Nation beitrugen.
Ein eigenes Problem, das der Verfasser ausführlich behandelt, ist die generelle Beschäftigung mit der Erfassung des Schrifttums bis 1800. Garber spricht die zahlreichen Hoffnungen und Schwierigkeiten an, die sich mit Großunternehmen wie dem VD 16 und dem VD 17 und dem Plan für die Verzeichnung der Drucke des 18. Jahrhunderts verbinden, und spart durchaus nicht mit begründeten kritischen Bemerkungen; hier sei nur auf den Ausschluss von Bibliotheken des östlichen Europa verwiesen, wo riesige Mengen deutschsprachiger Texte noch ihrer Verzeichnung harren, wo Rettungsaktionen zur Sicherung und Erfassung von historisch gewachsenen Beständen, deren Zustandekommen ohnehin nur noch mit größter Mühe nachvollzogen werden könnte, eine genuine und dringende Aufgabe von Bibliothekaren und Geisteswissenschaftlern ist. Garber weist zu Recht verschiedentlich auf die katastrophalen Folgen der Vernachlässigung bibliothekarischen Gutes hin: Die Vernichtung und Zerstreuung der geistigen Basis als Reaktion auf eine "inkommensurable Barbarei" habe jene "geistige Entwurzelung" geschaffen, die "ihrerseits um so schmerzhafter ist, je weniger sie von den Betroffenen selbst verspürt wird" (91).
Wer glaubt, dass hier lediglich ein Exemplare zählender Liebhaber alter Drucke am Werke gewesen sei, irrt grundsätzlich. Kenntnis der Bestände, der regionalen Kultur- und Literarhistorie und ihre ausdeutende Fruchtbarmachung durchdringen sich aufs Engste. Wer den Weg zu den alten Büchersammlungen nicht findet, kann die Entstehung von Dichtung und Gelehrsamkeit kaum wirklich erfassen. Das von Garber gebrachte Beispiel der Bukolik könnte um viele weitere ergänzt werden.
Der Sammelband macht nicht nur einen Teil weit verstreuter Arbeiten des Verfassers leicht greifbar, sondern er bietet zugleich eine gedrängte Übersicht über Forschungsgeschichte(n), -probleme und -perspektiven in einem Bereich, der bedauerlicherweise der Öffentlichkeit, ja auch der Fachöffentlichkeit, nicht bewusst oder der verdrängt worden ist. Es wäre äußerst wünschenswert, wenn diese Aufsätze eine entsprechende Wirkung bei der Gestaltung langfristiger Forschungspolitik entfalten könnten.
Detlef Haberland