Arnold Bartetzky / Marina Dmitrieva / Stefan Troebst (Hgg.): Neue Staaten - neue Bilder? Visuelle Kultur im Dienst staatlicher Selbstdarstellung in Zentral- und Osteuropa seit 1918 (= Visuelle Geschichtskultur; Bd. 1), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, X + 364 S., 16 Farb-, 177 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-14704-4, EUR 64,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die Frage nach Geschichtsbildern hat, wie etwa das Programm des diesjährigen 46. Deutschen Historikertags zeigt, Konjunktur, zumal die Ausdruckskraft visueller Geschichtskultur im Gefolge der politischen Revolutionen Ende des 20. Jahrhunderts vielfach miterlebt werden konnte. Gemeint ist mit Geschichtsbildern zumeist weniger die Einbeziehung visueller Kultur bzw. Kunst, Architektur etc., sondern die durch kulturwissenschaftlich-interdisziplinäre Ansätze angeregte Frage nach den eher narrativen Inhalten historischen Bewusstseins und nationaler Identität, die sich verschiedenartig, etwa in Mythen und Erinnerungsorten, aber auch in Texten, ausdrücken können. Die Schaffung und Beeinflussung bestimmter Geschichtsvorstellungen und damit von Identität, zumeist unter Rückgriff auf historische Mythen, gehört zu den systemübergreifenden Paradigmen moderner staatlicher Selbstdarstellung. Insbesondere in Diktaturen und autoritären Regimen lässt sich dabei eine Tendenz zur Instrumentalisierung der visuellen Kultur feststellen. Dies gilt in besonderem Maße auch für die neu bzw. wieder gegründeten Staaten in Europa, die ihre Existenz legitimieren müssen.
Nach den verschiedenen kulturwissenschaftlichen "turns" gehören staatliche Repräsentationsstrategien sowie Identitätsbildungs- und Legitimierungsstrategien auch zu den zentralen Gegenständen historischer Forschung über die politische Kultur dieser Systeme. Bildquellen, vor allem Gegenstände der Alltagskultur wie Briefmarken, Staatssymbolik, Architektur, werden von der Geschichtswissenschaft jedoch noch immer stiefmütterlich behandelt, sodass das methodische Instrumentarium für deren Interpretation noch verfeinert werden muss. Dies umso dringender, als gerade in der Geschichtspolitik ein Unterschied zwischen visuellen und nicht-visuellen Bedeutungsträgern besteht, denn ein "Schlagbild" (Aby Warburg) wirkt nachhaltiger als ein Schlagwort, weil es im Betrachter vielschichtigere Emotionen auslöst.
Dieser Befund führte zu dem "forschungstrategischen" Ansatz (IX) des anzuzeigenden Tagungsbandes, sich auf visuelle Geschichtskulturen zu konzentrieren. Als Anregung dienten zudem die zu beobachtenden zahlreichen Denkmalstürze und -errichtungen in Folge des Zusammenbruchs der sozialistischen Regime: Die staatlich erzeugten Bilderwelten wandelten sich, wobei die Motive ausgetauscht, neu geschaffen oder wieder belebt wurden, die Medien wie Banknoten, Münzen, Briefmarken, Staatsbauten etc. aber letztlich nur umgestaltet wurden. Der Kampf um die neuen Motive war ein Kampf um die geschichtliche Deutungsmacht und die Selbstdarstellung des Staates und damit nicht zuletzt um die Identität der jeweiligen Gesellschaft. Hier wird deutlich, dass die in ihrer Symbolhaftigkeit stark komprimierten Formen visueller Kultur ihre Aussagekraft nur durch einen bestimmten historischen Kontext und nicht allein durch ihre reine Existenz erhalten.
Der Band fasst insgesamt 29, teilweise sehr disparate Beiträge zur "visuellen Geschichtspolitik" in fünf Sektionen zusammen: Elf Aufsätze sind den "neuen Staaten" nach 1918 gewidmet, drei dem Dritten Reich, vier bzw. drei den "neuen Staaten" nach 1945 bzw. nach 1989 sowie sieben Beiträge den "Brüchen und Kontinuitäten: 1918-2003". Bei allen Beiträgen steht die Beschreibung der jeweiligen visuellen Ausdrucksform im Vordergrund. Auf diese Weise werden ähnliche Phänomene für die "neuen Staaten" nach 1918, 1945 und 1989 gegenübergestellt, was Vergleiche und Analogiebildungen in Bezug auf die Schaffung von Geschichtsbildern erlaubt. Insgesamt bilden die Beiträge den aktuellen Forschungsstand über die jeweiligen Geschichtskulturen deutlich ab, ohne - von einigen kürzeren Ausführungen abgesehen - den aktuellen Theoriediskurs explizit aufzugreifen oder zu reflektieren. Auch fehlen theoretische und die verschiedenen Beiträge zusammenführende grundsätzliche Überlegungen, worin sich nicht zuletzt der trotz aller Aktualität häufig noch sehr unzureichende Stand der Forschung ausdrückt: Zu bestimmten Medien fehlen zum Teil noch grundlegende Arbeiten aus historischer Perspektive.
Dies gilt in besonderem Maße für die neun Aufsätze des anzuzeigenden Bandes, deren Verfasser sich explizit mit der visuellen Kultur in den ostmitteleuropäischen Staaten auseinandersetzen, und auch für die sechs vergleichend angelegten Beiträge. In diesem Rahmen kann nicht umfassend auf die einzelnen Aufsätze eingegangen werden, zumal einige Beiträge zu anderen Staaten wie beispielsweise die Analyse der (Selbst-)Darstellung der Dnjestr-Republik im Internet von Stefan Troebst methodisch anregender sind und auf bisher kaum von der historischen Forschung beachtete Quellen hinweisen. Es sei aber angemerkt, dass die Texte zu den ostmitteleuropäischen Staaten in der Sektion über die Zwischenkriegszeit mit fünf Beiträgen einen gewissen Schwerpunkt bilden, wie auch die zwei Aufsätze zu Polen in der Sektion für die Zeit nach 1945. Es geht bei den Ostmitteleuropa betreffenden Darstellungen vor allem um architektonische und städtebauliche Ausdrucksformen von Geschichtskultur (z. B. Beate Störtkuhls Beitrag über Gdynia oder Jacek Friedrichs Analyse des Wiederaufbaus nach 1945 in Warschau, Danzig, Kaliningrad und Minsk), aber auch um polnische Regimentsabzeichen im Ersten Weltkrieg (Roger Pilachowski) und Malerei (z. B. Ivan Gerát über das Werk von L'udoví t Fulla).
Insgesamt zeigt der Band ein facettenreiches Panorama der Gestaltung historischen Bewusstseins durch visuelle Mittel auf, wobei verschiedene Forschungsdesiderate deutlich werden. Indem sie umfangreiches grundlegendes Anschauungsmaterial liefern, können die Aufsätze jedoch als Anregung und Ausgangspunkt für weitere, vertiefende Forschungen dienen und in gewisser Weise vielleicht auch zu einer methodisch-theoretischen Weiterentwicklung beitragen.
Heidi Hein-Kircher