Dirk Sadowski: Haskala und Lebenswelt. Herz Homberg und die jüdischen deutschen Schulen in Galizien 1782-1806 (= Schriften des Dubnow-Instituts; Bd. 12), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 437 S., ISBN 978-3-525-36990-6, EUR 59,90
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Nach der Eingliederung Galiziens in das Habsburgerreich im Zuge der Teilungen Polens wurden zahlreiche Modernisierungsprozesse durch die josephinische Politik in Gang gesetzt. Ein Beispiel für die Bestrebungen zur Durchsetzung der habsburgischen Herrschaft und zugleich aufklärerischer Prinzipien ist das Schulwesen im Allgemeinen und das jüdische deutsch(sprachig)e Schulwesen in Galizien im Besonderen. Dessen Entwicklung steht damit exemplarisch zugleich für die Einebnung von Unterschieden und für die Vernichtung von Traditionen durch die Modernisierungsprozesse im 18. und 19. Jahrhundert. Den emanzipatorischen Funktionen von Schule im Sinne der Aufklärung und der "Verbürgerlichung" standen massive Eingriffe in die Autonomie von Gemeinden und Beschränkungen des traditionellen Lebens gegenüber. Denn das jüdische Leben in Galizien war an der Jahrhundertwende insbesondere von traditionell lebenden Gemeinschaften bzw. dem sich zu einer Massenbewegung entwickelnden Chassidismus geprägt. Die auf die Juden bezogenen Modernisierungsdiskurse fokussierten sich auf die Schulen, die eben nicht nur als Ort des Lernens verstanden wurden, sondern auch als Ort, an dem der Machtanspruch des Staates deutlich wurde, weil er durch die Schulpflicht und die vermittelten Inhalte in die Lebensweisen der Familien eingriff. Die außerhalb und in Konkurrenz zum traditionellen jüdischen Erziehungssystem (Cheder) stehenden jüdischen deutschen Schulen sah der Staat als Mittel an, zur "bürgerlichen Verbesserung" der Juden, wie es im damaligen Sprachgebrauch hieß, in einem aufklärerischen Sinne beizutragen. Daher zielten die jüdischen Aufklärer, die Maskilim, darauf ab, die eigenen pädagogischen Vorstellungen in die staatlichen Lehrpläne einzubringen. So gelang es dem Pädagogen und Maskil Herz Homberg (1749-1841), den Aufbau von jüdischen deutsch(sprachig)en und von aufgeklärtem Gedankengut beeinflussten Schulen in Galizien maßgeblich zu beeinflussen. Er "verkörperte", so die Prämisse des Autors, eine "'polizierte' Haskala" (17), die im Rahmen dieser Schulen praktisch wirksam wurde.
An diesem Befund setzt die vorliegende Studie an, indem sie letztlich verschiedene Forschungsdesiderate aufgreift: die historische Analyse der Umsetzung jüdischen aufklärerischen Denkens (Haskala) in Ostmitteleuropa sowie der Entwicklung des aufgeklärten jüdischen deutschen Schulwesens in Galizien und nicht zuletzt eine Untersuchung der prägenden Persönlichkeit Herz Hombergs. Diese Themenfelder sind bislang nicht ausreichend mit Blick auf die Modernisierung des jüdischen Lebens in Galizien betrachtet worden.
Hierzu stellt der Verfasser die Interaktionen zwischen den Behörden des österreichischen Staats, dem Maskil Homberg und den traditionellen Gemeindeeliten dar. Insgesamt verschränkt er in seiner Analyse überzeugend eine makro- und mikrohistorische Perspektive. Daher gliedert Sadowski seine Studie in drei Hauptabschnitte.
Zunächst nähert er sich der Biographie und Vorstellungswelt Hombergs an, um im gleichen Kapitel die Entwicklung des Schulwesens in Galizien vor seinem Amtsantritt darzustellen. Anzumerken bleibt, dass dieser 'Spagat in der Darstellung' nicht wirklich plausibel gelöst wird - hier wären zwei Kapitel bzw. ein Exkurs argumentativ sinnvoller gewesen.
Im zweiten Kapitel schildert der Verfasser die konkrete Umsetzung des maskilischen Erziehungsprogramms im Rahmen des staatlichen jüdischen deutschen Schulwesens, indem er einerseits die Entwicklung des Schulprogramms darstellt und andererseits die Konflikte mit den Institutionen des traditionellen jüdischen Erziehungswesens herausarbeitet. So gelingt es Sadowski, die Synergien und auch die Grenzen dieser Symbiose der Ambitionen Hombergs mit den staatlichen Prinzipien der Religionsfreiheit und der Gleichförmigkeit des österreichischen Erziehungswesens aufzuzeigen. Daher spielen hier gerade Konflikte zwischen Behörden und deren Vertretern, dem Maskil Homberg sowie den traditionellen Eliten eine wesentliche Rolle. Behandelt dieser Teil eher übergeordnete Fragestellungen, so widmet sich das dritte Kapitel verschiedenen Facetten der Schulwirklichkeit in Galizien, die auf diese Konflikte zurückzuführen sind.
Eindrücklich schildert der Verfasser in diesem Kapitel das Problem der Schulverweigerung, aber auch das Problem, dass Schulgesetze nicht durchgeführt wurden bzw. werden konnten, und den daraus resultierenden Sanktionsdiskurs sowie den bevölkerungspolitisch begründeten Normalschulzwang für jüdische Brautpaare. Insgesamt wird deutlich, dass die faktische Fortdauer der autonom-korporativen Gemeindeverfassung, die zwar offiziell aufgehoben worden war, es ermöglichte, effektiv und nicht sanktionierbar gegen die Maßnahmen Hombergs zu opponieren.
Gerade die Darstellung der Schulwirklichkeit zeigt, wie sehr die Schulen und ihr oberster Repräsentant Homberg verhasst waren und die traditionellen jüdischen Eliten bestrebt waren, einen Schulbesuch dort zu vereiteln. So verwundert es nicht, dass 1806 die jüdischen deutschen Schulen in Galizien durch kaiserliches Dekret aufgehoben wurden, indem sie mit den allgemeinen Volksschulen vereinigt wurden. Der konkrete Anlass zur Aufhebung der jüdischen deutschen Schulen war finanzieller Natur gewesen, weil im Gegensatz zum christlichen Schulfond der jüdische reich ausgestattet war und daher beide verschmolzen wurden. Als grundlegende Ursache für das Scheitern betrachtet der Verfasser jedoch insgesamt, dass gegen den Willen der Bevölkerung eine "bürgerliche Verbesserung" durch Schulen in Galizien nicht zu erreichen gewesen sei. Er sieht also die Ursachen für dieses Scheitern letztlich in der Kombination des Widerstands der jüdischen Bevölkerung und Korporationen und der Staatsschwäche begründet. Denn der Staat habe in Anbetracht der revolutionären Bedrohung Galizien für sich sichern wollen, indem er mit einer Politik der Traditionenwahrung die einheimische Bevölkerung ruhig stellte. Auch sollte das Schulwesen revolutionären Tendenzen entgegenwirken, so dass das aufklärerische Gedankengut, das nun als revolutionär angesehen wurde, aus den Schulplänen verschwinden sollte. Dies bedeutete, dass der Unterricht in den jüdischen deutschen Schulen nun als staatsgefährdend, als zu aufgeklärt und freigeistig, eingestuft worden sei.
Es gelingt dem Verfasser insgesamt eindrücklich und letztlich überzeugend, den biografischen Werdegang Hombergs nicht nur zu kontextualisieren, sondern durch verschiedene Untersuchungsebenen deutlich herauszustellen, dass die staatliche Aufklärungspolitik nur umgesetzt werden und so lange wirksam sein konnte, wie einerseits mit Homberg ein engagierter Verfechter des jüdischen deutschen Schulwesens an dessen Einrichtung und Förderung mitwirkte und andererseits die Grundvoraussetzung für dessen Etablierung gegeben war, nämlich dass der Staat reformwillig war. Entstanden ist eine sehr lebendig geschriebene Studie, die nicht nur den an der Haskala Interessierten wichtige Einblicke vermittelt, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Geschichte Galiziens und zur Ideengeschichte Österreichs leistet.
Heidi Hein-Kircher