Dagmar Glass: Der Muqtataf und seine Öffentlichkeit. Aufklärung, Räsonnement und Meinungsstreit in der frühen arabischen Zeitschriftenkommunikation (= Mitteilungen zur Sozial- und Kulturgeschichte der islamischen Welt; Bd. 17), Würzburg: Ergon 2004, 2 Bde., XVI + 749 S., ISBN 978-3-89913-379-0, EUR 89,00
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Die Auswertung von Zeitungen und Zeitschriften scheint auf den ersten Blick einfach zu sein. Das Material ist umfangreich, aber auch begrenzt, und öffentliche Diskurse, um deren Beschreibung es in den meisten Fällen geht, scheinen zum Greifen nahe. Man braucht sie doch eigentlich nur aus dem Textkorpus herauszufiltern und fertig ist die Arbeit. Leider hat so mancher Forscher bzw. so manche Forscherin, der seine bzw. die ihre Studien auf die Analyse von Printmedien zu stützen gedachte, sehr schnell erkennen müssen, dass die inhaltliche und diskursive Ergiebigkeit der Texte trotz der beeindruckenden Quantität oftmals sehr zu wünschen übrig lässt. Plötzlich wird die scheinbar leichte Aufgabe, gesellschaftliche Änderungen anhand der geführten Diskussionen und Debatten nachzuzeichnen, zu einem beinahe unlösbaren Problem. Diese Erfahrung musste sicherlich auch Dagmar Glass machen, die anhand der 1876 von Yaʿqūb Ṣarrūf (1852-1927) und Fāris Nimr (1856-1952), zwei Absolventen des Syrian Protestant College (heute: American University of Beirut) in Beirut gegründeten (und ab 1885 in Ägypten publizierten) Monatszeitschrift al-Muqtaṭaf ("Das Ausgewählte" oder "Die Auslese") den Gesellschaftswandel in der nahöstlichen Welt an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert aufzeigen wollte. Sie hat diese Schwierigkeiten allerdings geschickt gemeistert, indem sie ihre Arbeit in zwei deutlich voneinander geschiedene Teile gliedert. Geht es im ersten Band hauptsächlich um die Analyse der medialen und sozialen Strukturen, in die al-Muqtaṭaf eingebettet war, so werden dem Leser im zweiten Band die Themen der in der Zeitschrift geführten Debatten in Form von Streitgesprächsprotokollen weitgehend unkommentiert an die Hand gegeben.
Durch die direkte Konfrontation mit der europäischen Welt im Zuge des Kolonialismus und Imperialismus begannen sich ab den 1870er-Jahren die islamisch geprägten Gesellschaften in raschem Tempo zu wandeln und zu modernisieren. Dieser Wandel wurde getragen durch eine Transformation der öffentlichen Kommunikation und der Mediensysteme, die eine Veränderung der Produktion, Distribution und der Rezeption von Wissen nach sich zog. Dieser "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (Jürgen Habermas) bewirkte mittelfristig die Zerstörung traditioneller Monopole und Gewissheiten und die Etablierung moderner (Gegen-)Autoritäten. So wie im Europa des 18. Jahrhunderts die Zeitschriften und Zeitungen als die Medien der Aufklärungsbewegung fungierten, leisteten im Nahen Osten die mağallāt diese "Anschlussleistung". Für diese intellektuelle Anstrengung ist im arabischsprachigen Raum der Terminus "an-Nahḍa" geprägt worden. Man hat diesen Begriff häufig mit "Renaissance" übersetzt, doch rekurriert die gesamte Bewegung im Unterschied zur europäischen "Wiederbelebung (der Antike)" auf ein fremdes kulturelles Referenzsystem. Aus diesem Grund trifft "Verwestlichung" das Phänomen schon eher.
Motor und Produkt der Nahḍa war in Ägypten das periodische Schrifttum, das sich seit der 1828 auf Geheiß des damaligen Regenten Muḥammad ʿAlī (reg. 1805-1848) ins Leben gerufene Zeitschrift al-Waqāʾ iʿ al-Miṣrīya ("Die ägyptischen Ereignisse") verbreiten konnte. Eine wirkliche Dynamik erhielt die Auseinandersetzung mit dem europäischen Gedankengut allerdings erst durch das Aufkommen privater Zeitschriften und Debattierklubs im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.
Sinnvollerweise unterscheidet die Verfasserin im Verlauf ihrer Arbeit scharf zwischen Zeitschrift und Zeitung: Eine Zeitschrift sei durch eine periodische Erscheinungsweise gekennzeichnet, wobei sie sich von der Zeitung durch die Andersartigkeit der Periodizität absetze. Anders als die Zeitung erscheine die Zeitschrift in Heftform bzw. in einer "gewissen buchartigen Stärke". Beide Druckerzeugnisse böten dem Leser inhaltlich ähnlich vielfältige Themenbereiche, doch enthielte eine Zeitung überwiegend deskriptives Material, wohingegen eine Zeitschrift mehr auf facettenreiche Darstellung und vernunftgeleitete Kritik ausgerichtet sei. Darüber hinaus kommuniziere nur die Zeitschrift mit einem speziellen Publikum und hielte auf diese Art und Weise sozusagen Zwiesprache mit den Lesern.
Wir haben es hier also zu tun mit einer kommunikationsgeschichtlichen Diskursanalyse der Zeitschrift al-Muqtaṭaf zu tun. Der Untersuchungszeitraum reicht von 1876/77 bis 1926, also von der Gründung bis zum Tod von Yaʿqūb Ṣarrūf, des hauptverantwortlichen Herausgebers. Alles in allem 70 Bände mit ca. 50.000 Seiten. Die Editoren verfolgten ein enzyklopädisch-anthologisches Prinzip der Wissenspräsentation mit einem rational-säkularen Wissensverständnis, wobei die gängigsten Darstellungsformen längere Aufsätze, Rubriken (u.a. auch Leserbriefe, Fragen/Antworten, Ratschläge, Rätsel etc.), literarische Texte und Bilder waren. Für sich und ihre Leser hatten sie den Dialog zum Grundprinzip moderner Aufklärungstechnik erklärt. Die munāẓ ara-("Streitgespräch")-Rubrik im Muqtaṭaf, die bis 1952 für gewöhnlich einmal im Monat erschien und als Markenzeichen der Zeitschrift galt, stellte dabei den bevorzugten Ort für den komplexen Disput, für Ideenaustausch und Meinungsstreit dar. Wichtigste Aufgabe einer wissenschaftlichen Zeitschrift war nach Auffassung von Yaʿqūb Ṣarrūf und Fāris Nimr die Herstellung von Öffentlichkeit und die Meinungsbildung durch Meinungsstreit. Sie machten aus al-Muqtaṭaf ein Disputationsgremium, eine Stätte der munāẓ ara durch kontroversen Diskurs. In der Tat diente die Zeitschrift als Forum der öffentlichen Diskussion, in der "die Teilnehmer strittige Geltungsansprüche thematisieren und versuchen, diese mit Argumenten einzulösen oder zu kritisieren" (Jürgen Habermas) und in der "kontroverse Wahrheitsansprüche" gestellt werden können.
Nachdem Dagmar Glass vor diesem Hintergund im ersten Teil ihres Buches den Forschungsstand und die theoretischen Grundlagen und Methoden der Untersuchung skizziert hat (1-68), beschreibt sie ausführlich das frühe arabische Zeitungs- und Zeitschriftenwesen in seinem gesellschaftlichen Umfeld (69-180). Im Anschluss an die Schilderung der Entstehungsgeschichte des Muqtaṭaf und der Lebensläufe seiner Initiatoren und Editoren (181-208) folgen aufschlussreiche Ausführungen über das Programm, den Vertrieb und die Aufmachung der Zeitschrift (209-258). Der analytische Teil schließt mit sachdienlichen Anmerkungen zur Gestaltungsform und zu den Briefstellern, Disputanten und Autoren des Muqtaṭaf (259-373).
Wie oben bereits erwähnt, folgt nun ein zweiter Teilband mit den Streitgesprächsprotokollen (387-628). Dies ist der Befund einer mühsamen Zusammenstellung und inhaltlichen Erfassung der Leserbriefkommunikation in den Zeiträumen 1876 bis 1885 (Beiruter Phase), 1885 bis 1900 (Start- und Expansionsphase in Kairo), 1906 bis 1910 (Zeit der Jungtürkischen Revolution) und den 1920er-Jahren (Aufbruch Ägyptens in die Unabhängigkeit). Die Debatten sind nach Themenbereichen geordnet: A. Wissenschaft: Wissenschaft und Religion; die arabische Darwinismusdebatte. B. Sprache: Hochsprache und Dialekt; Arabisierung von Fremdwörtern; Arabische Schrift (Latinisierung versus Reform); Sprache und Politik. C. Gesellschaft: Rechte und Pflichten der arabischen Frau; Sozialismus und Individualismus; Wirtschaftsentwicklung in Ägypten; Islam als Religion in Politik und Kultur; Schule und Nation (Verantwortlichkeiten des Staates und der Familie).
Glass hat insgesamt eine ganz ausgezeichnete Studie vorgelegt, in der sie nicht nur den historischen Kontext der von ihr untersuchten Zeitschrift al-Muqtaṭaf vorbildlich aufbereitet, sondern auch in geradezu exemplarischer Weise den Verlauf einzelner Debatten nachzeichnet. Die diskursiven Veränderungen innerhalb der ägyptischen Gesellschaft werden damit sehr schön erkennbar. Man kann nachvollziehen, wie die Teilnehmer strittige Geltungsansprüche thematisieren und versuchen, diese mit Argumenten einzulösen oder zu kritisieren. Es gelingt der Verfasserin damit aufzuzeigen, dass in al-Muqtaṭaf der Meinungsstreit als dialogisches Verfahren zur Aufklärung von den Herausgebern ganz bewusst eingesetzt und von den Lesern angenommen und umgesetzt wurde. Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so das gewichtige Fazit der Studie, kam es in der arabischen (aber auch in der türkischen und persischen) Welt - zumindest innerhalb der gebildeten Elite - zur Herausbildung einer Kultur der öffentlichen Kommunikation und damit zu einer fundamentalen Modifikation und Änderung der bis dahin bestehenden Wert- und Gesellschaftsvorstellungen.
Anmerkung der Redaktion:
Für eine komplette Darstellung der arabischen Umschrift empfiehlt es sich, unter folgendem Link die Schriftart 'Basker Trans' herunterzuladen: http://www.orientalische-kunstgeschichte.de/orientkugesch/artikel/2004/
reichmuth-trans/reichmuth-tastatur-trans-installation.php
Stephan Conermann