Pablo Schneider / Philipp Zitzlsperger (Hgg.): Bernini in Paris. Das Tagebuch des Paul Fréart de Chantelou über den Aufenthalt Gianlorenzo Berninis am Hof Ludwigs XIV., Berlin: Akademie Verlag 2006, 500 S., ISBN 978-3-05-004162-9, EUR 49,80
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Er sei "nicht würdig, ihm die Schuhriemen zu lösen", schmetterte Bernini Charles Perrault entgegen, als dieser es wagte, seinen Entwurf für den Louvre zu kritisieren. Im Eintrag des 6. Oktobers 1665 berichtet das "Tagebuch des Paul Fréart de Chantelou über den Aufenthalt Gianlorenzo Berninis am Hof Ludwigs XIV.", das nun in einer neuen deutschen Ausgabe vorliegt, von der Eskalation des Konflikts zwischen dem "ersten Künstler" seiner Zeit (118), den Ludwig XIV. nach Frankreich berufen hatte, um seine Entwürfe für die Umsetzung des "Grand Dessein des Rois" vor Ort auszuarbeiten, und dessen französischen Opponenten. [1] Zu letzteren gehörten neben Louis Le Vau, der als erster königlicher Architekt mit der Vollendung des Louvre betraut und daher durch die Berufung Berninis brüskiert war, der erste königliche Maler und Direktor der Gobelin-Manufaktur Charles Le Brun, der seine Autorität in kunsttheoretischen Fragen nicht von Bernini untergraben sehen wollte, sowie Charles Perrault, der als premier commis der königlichen Bauverwaltung unter Colbert eine äußerst günstige Position einnahm, um durch geschicktes Intrigieren gegen den römischen Gast dem Louvre-Entwurf seines Bruders Claude Vorschub zu leisten. Als Charles Perrault an jenem 6. Oktober mit einer von ihm aufgestellten Liste ungeklärter Probleme bezüglich Berninis Planungen ins Hôtel Mazarin - Berninis Quartier in Paris - spazierte, platzte dem Italiener endgültig der Kragen. Immer wieder kam Colbert ihm mit praktischen Erfordernissen, die er in seinen Entwürfen nicht ausreichend berücksichtigt habe. Daran hatte er sich bereits gewöhnt. Doch nun wollte Perrault ihm eine Lektion in Sachen Symmetrie erteilen - ihm, für den die Proportion beim Bauen das allerhöchste Gut war!
Chantelou, der Bernini während dessen Aufenthalt in Paris vom 2. Juni bis zum 20. Oktober 1665 als maître-d'hôtel, Dolmetscher und Fremdenführer zugewiesen war, hatte seine liebe Not, den Ehrengast zu beruhigen. Von der auch sonst "höchst diffizile[n] Aufgabe" (2), die Chantelou als persönlicher Begleiter Berninis zu erfüllen hatte, berichtet das Tagebuch, dessen Original verloren ist. 1875 hat Ludovic Lalanne eine redigierte Abschrift aus den 1670er-Jahren in der Bibliothèque de l'Institut in Paris gefunden und mit "zahlreichen Fehlern" (3) veröffentlicht. [2] Diese Publikation lag dann allen Neuauflagen zu Grunde, bis Milovan Staniæ das "Instituts-Manuskript" 2001 erneut transkribierte und ausführlich kommentierte. [3] Die bislang einzige deutsche Übersetzung legte Hans Rose 1919 vor. [4] Dieser erachtete Chantelous der Neutralität wegen zumeist in indirekter Rede erfolgte Schilderung als unübersetzbar, "wenn man die Grenzen des Verständlichen einhalten" wolle, weshalb er "wichtige Partien in den Dialog umkomponiert[e]". [5] Die mit diesem Vorgehen unweigerlich verbundenen interpretatorischen Eingriffe in den Text, dem darüber hinaus die fehlerhafte Fassung von Lalanne zu Grunde lag, machten eine neue deutsche Übersetzung dringend nötig. Leider gereicht der nun vorliegenden Ausgabe nicht Staniæs Version, von den Herausgebern selbst und zu Recht als "das neue Referenzwerk in bezug auf Chantelous Tagebuch" bezeichnet, zum Ausgangspunkt einer ganz neuen Übersetzung. Diese fungiert vielmehr als Kontrollinstanz einer - die Dialogform wieder zurücknehmenden -Revision des Rose-Textes. Den Herausgebern war es offenbar ein Anliegen, auch eine Hommage an den verdienten deutschen Kunsthistoriker zu liefern. Im letzten der zehn, dem Tagebuch angehängten wissenschaftlichen Beiträge skizziert Christian Fuhrmeister die Biografie Hans Roses, der seit 1931 eine Professur für Kunstgeschichte in Jena bekleidete, bevor er 1938 "wegen Unzucht zwischen Männern" zu einer Haftstrafe von fünfzehn Monaten verurteilt wurde, was mit dem "Verlust der Amtsbezeichnung [...] dem Ausscheiden aus dem Beamtenverhältnis [...] und dem Entzug der Doktorwürde" einher ging (443). Die Rehabilitation des Mannes, dessen "Pioniertat [...] gerade für die deutschsprachige Barockforschung nicht zu unterschätzen ist" (4), muss natürlich in der ersten deutschen Edition nach Rose ihren Platz finden. Doch ist nicht einzusehen, warum die Gelegenheit einer Neuübersetzung auf der Grundlage des "Instituts-Manuskripts" darüber verstreichen musste. Zumal damit Rose Initiationsleistung gar nicht geschmälert worden wäre.
Chantelous Stellung als "Kindermädchen" Berninis und Vermittler zwischen den Fronten war nicht gerade einfach. Doch gingen die Schwierigkeiten weit darüber hinaus, dass Bernini auf die Einhaltung seiner "italienischen Siesta" (14) bestand und ihm die französische Kost zu üppig war (31). Und auch die Kabalen der französischen Architekten hatten weniger mit Eifersüchteleien und persönlichen Ressentiments zu tun. Vielmehr waren sie Symptome einer tiefen kunstpolitischen Krise. Diese beschreibt Dietrich Erben in seinem herausragenden Beitrag ("Erfahrung und Erwartung: Bernini und seine Auftraggeber in Paris") als Ausgangspunkt eines "dynamischen Kommunikationsprozesses" zwischen Rom und Paris zu Beginn der Selbstregierung Ludwigs XIV., dessen Ergebnis eine "angemessene Dekorumskonzeption" zur Repräsentation der neuen absolutistischen Herrschaft war (360-361). Anhand der beiden Hauptprojekte Berninis in Paris - seine Louvre-Planung und die Porträtbüste Ludwigs XIV. - ist die Kollision zweier gegensätzlicher Kunstauffassungen zu beobachten, die einen "innovativen Schub" freisetzt (362). Sich am Vorbild Berninis, am Modell Italiens und der Antike abarbeitend, entwickeln die französischen Künstler und Architekten in ihren Gegenprojekten die Formensprache der französischen Klassik. Beispielhaft nachvollziehen lässt sich dieser Emanzipationsprozess anhand des Louvre, wo auf eine neue Entwurfsidee Berninis stets die Kritik Colberts folgt. Doch in seinen Denkschriften geht es um weit mehr als der "göttliche[n] Vision" praktische Erfordernisse entgegen zu halten (58). Berninis noch aus Rom nach Paris gesandten ersten beiden Projekte erachtet Colbert als magnificence, commodité und seureté [sic] zu wenig Rechnung tragend, wobei es keineswegs um bloße Nörgeleien bezüglich der Nutzbarkeit des Bauwerks geht, sondern um die Einforderung "einer Einschüchterungsästhetik": In seinem im Herbst 1664 verfassten Memorandum skizziert Colbert "ein Monument der Autorität des Königs", auf das der mittlerweile in Paris weilende Bernini mit seinem nunmehr dritten Projekt reagiert (368). Der Entwurf für die Palasthauptfassade im Osten sieht hier auf einem als Naturfelsen gestalteten Sockel ein Erdgeschoss mit drei Rundbogenportalen - das mittlere von zwei Herkules-Statuen gerahmt - vor, darüber zwei von einer Kolossalordnung zusammengefasste Obergeschosse.
Ausführlich beschreibt Chantelou die Vorarbeiten zur Realisierung von Berninis Louvre-Projekt: Probemauern wurden im Nebenhof des Hôtel Mazarin errichtet, während man mit der Fundamentierung des neuen Ostflügels begann. Am 17. Oktober 1665 war die Grundsteinlegung. Bekanntlich blieb es dabei. Obgleich Bernini seine Pläne noch nach seiner Rückkehr nach Rom weiter überarbeitete, wurden diese zu Gunsten des Projekts mit der Louvre-Kolonnade, die aus der Arbeit des 1667 von Colbert eingesetzten Petit Conseil - dem ausgerechnet Le Vau, Le Brun und Claude Perrault angehörten - hervorgegangen war, endgültig fallen gelassen. Doch sieht man in der Realisierung der Louvre-Kolonnade die Geburtsstunde der Architektur des klassischen Zeitalters, so war Bernini ihr Geburtshelfer. Chantelous Tagebuch ist die Chronik dieser schwierigen Schwangerschaft "in einer Zeit weitgreifender Umwälzungen", sowohl kultureller als auch politischer Natur. [8]
Es ist Pablo Schneider und Philipp Zitzlsperger gelungen, durch die Zusammenstellung aktueller Forschungspositionen die Bedeutung des Journal aufzuzeigen, wobei das Augenmerk auf dessen Eigenwert als Quelle liegt. Um diese "als Corpus [zu] belassen", wurden die Kurzkommentare im Tagebuchtext "so sparsam wie möglich" gehalten (5). Indessen erweist es sich jedoch als schwierig, der Abfolge der unterschiedlichen Projekte für den Louvre allein anhand von Chantelous Aufzeichnungen zu folgen. Wenn hier vom "ersten Entwurf" die Rede ist (57, 72, 74), so ist eigentlich Berninis drittes Projekt gemeint, das im Zentrum der Auseinandersetzung während seines Paris-Besuchs stand. Hier hätten Anmerkungen der Herausgeber für Klarheit sorgen können. Während bei Staniæ eine "Chronologie du Louvre" sowie eine ausführlich kommentierte Folge von Abbildungen den Planungsablauf nachvollziehbar präsentiert, ist die Bebilderung der neuen deutschen Ausgabe in einer Weise gestaltet und beschriftet, die eher zur Verwirrung beiträgt. Jedenfalls für architekturgeschichtliche Belange bleibt die französische Tagebuch-Edition von 2001 vorerst das unangefochtene Referenzwerk.
Anmerkungen:
[1] Zur Louvre-Planung unter Ludwig XIV. vgl. vor allem Michael Petzet: Claude Perrault und die Architektur des Sonnenkönigs. Der Louvre König Ludwigs XIV. und das Werk Claude Perraults, München / Berlin 2000; s. hierzu auch die Rezension von Michael Hesse, in: in Kunstform 2 (2001), Nr. 2, URL: http://www.arthistoricum.net/index.php?id=276&ausgabe=2001_02&review_id=5619.
[2] Ludovic Lalanne (Hg.): Chantelou. Journal de voyage du Cavalier Bernin en France, in: Gazette des Beaux-Arts 1877-1884; Gesamtausgabe, Paris 1885.
[3] Milovan Staniæ (Hg.): Chantelou. Journal du Voyage du Cavalier Bernin en France, Paris 2001.
[4] Hans Rose (Hg.): Tagebuch des Herrn von Chantelou über die Reise des Cavaliere Bernini nach Frankreich, München 1919.
[5] Hans Rose (Hg.): Tagebuch, XI (s. Anm. 4).
[6] Hans Rose (Hg.): Tagebuch, 275 (s. Anm. 4).
[7] Staniæ: Chantelou, 2001, 229 (s. Anm. 3).
[8] Sabine Frommel: Rezension zu Milovan Staniæ (Hg.): Chantelou. Journal du Voyage du Cavalier Bernin en France, Paris 2001, in: Journal für Kunstgeschichte 7 (2003) 4, 327-336.
Kristina Deutsch