Rezension über:

Alain D'Hooghe: Autour du Symbolisme. Photographie et peinture au XIX siècle, Amsterdam: Amsterdam University Press 2004, 144 S., ISBN 978-90-6153-548-5, EUR 30,00
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Ulrich Pohlmann / Johann Georg Prinz von Hohenzollern (Hgg.): Eine neue Kunst ? Eine andere Natur ! Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert, München: Schirmer / Mosel 2004, 368 S., 328 Farbabb., ISBN 978-3-8296-0069-9, EUR 39,80
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Rezension von:
Christian Drude
Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Stefanie Lieb
Empfohlene Zitierweise:
Christian Drude: Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert (Rezension), in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 9 [15.09.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/09/4506.html


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Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert

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Die Wechselbeziehungen von Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert sind seit den späten Sechzigerjahren mehrfach Thema von Ausstellungen gewesen. [1] Im Nebeneinander von Gemälden und Fotografien, die von Malern als Hilfsmittel verwendet worden waren, zeigte sich dabei zweierlei: Zum einen wurde die - nicht nur zeitgenössisch von vielen als anstößig empfundene - Abhängigkeit der Bildgestalt von der Fotovorlage deutlich. Ebenso häufig ließ die Konfrontation von Gemälde und Fotografie aber auch die Originalität des malerischen Zugriffs umso deutlicher hervortreten. Im Frühjahr 2004 befassten sich in München und Brüssel erneut zwei Ausstellungen mit dem Verhältnis von Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert. Die Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung zeigte in Kooperation mit dem Fotomuseum im Münchner Stadtmuseum die von Ulrich Pohlmann kuratierte Ausstellung "Eine neue Kunst? Eine andere Natur! - Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert". Etwa zeitgleich war im Palais des Beaux-Arts in Brüssel die von Alain D'Hooghe konzipierte Ausstellung "Autour du symbolisme. Photographie et peinture au XIXe siècle" zu sehen. Trotz des gleich lautenden Untertitels und weitgehender inhaltlicher Überschneidungen verfolgten die Ausstellungen durchaus unterschiedliche Ziele, wodurch sie sich aber auch ergänzten.

In München lag der Akzent - im Gegensatz zur Ausstellung "Malerei nach Fotografie" von 1970, die ebenfalls vom Münchner Stadtmuseum ausgerichtet worden war [2] - diesmal ausdrücklich nicht auf der Gegenüberstellung von Gemälden und zugrunde liegenden Fotovorlagen. Vielmehr sollten die spezifischen Wirklichkeitszugänge beider Medien in "Motivreihen" kontrastiv veranschaulicht werden (7). Die These, dass Malerei und Fotografie im 19. Jahrhundert alternative, teils interdependente, teils konkurrierende Verfahren der Wirklichkeitsabbildung und -aneignung ausbildeten, zeigt sich dabei schon im Titel: Die Fotografie stellte im 19. Jahrhundert nicht nur den tradierten Kunstbegriff infrage, sondern eröffnete neue Sichtweisen der Welt, mithin eine emphatisch als 'neu' wahrgenommene Natur. Die Beschränkung auf zwischen 1840 und 1890 entstandene Exponate resultierte aus dem Anliegen, einen primär realistischen Bilderkosmos der Fotografie erlebbar zu machen, der "über den Buch-, Graphik- und Kunsthandel" allgemein verfügbar war (7). Damit blieben Unikatverfahren wie die Daguerreotypie, aber auch Amateuraufnahmen und die so genannte Kunstfotografie um 1900 ausgespart.

Die Brüsseler Ausstellung war als Ergänzung zur gleichzeitigen Retrospektive des belgischen Symbolisten Fernand Khnopff konzipiert [3], eines Künstlers, der nicht nur nach eigenen fotografischen Vorlagen malte und zeichnete, sondern auch Fotoreproduktionen seiner Gemälde malerisch überarbeitete und als eigenständige Werke ausstellte. Folglich lagen hier wichtige Akzente auf den in München ausgeblendeten fotografischen Strömungen der Jahrhundertwende, nämlich auf Fotostudien zur Gemäldevorbereitung, die von den Malern zunehmend auch selbst angefertigt werden konnten, sowie auf der oft allegorisch verrätselten Bildwelt der Kunstfotografie um 1900. Als Prolog zu diesen Subjektivismen der Jahrhundertwende wurden in der Brüsseler Ausstellung auch traditionellere Überschneidungen von Fotografie und Malerei präsentiert. Der Titel "Autour du symbolisme" ist daher insofern wörtlich zu nehmen, als gut die Hälfte der Exponate und Katalogbeiträge das Vor- und Umfeld symbolistischer Ästhetik illustrieren. So enthält der Brüsseler Katalog vor den Kapiteln zu fotografischen Modellstudien und zur symbolistischen Ikonografie in der Kunstfotografie um 1900 drei Kapitel zum fotografischen Genrebild, zur Landschaftsfotografie im Umfeld der Maler von Barbizon sowie zu fotografischen Aktstudien im Akademiegebrauch. Insbesondere die drei letztgenannten Kapitel, die sich mit realistischen und naturalistischen Kunstströmungen befassen, legen den Vergleich mit Text und Bildauswahl der Münchner Publikation nahe. Vergleichbar ist auch das quantitative Überwiegen der Fotografie gegenüber der Malerei: In München kamen auf 260 Fotografien 40 Gemälde und Zeichnungen, in Brüssel lag das Verhältnis bei etwa 200 zu 30.

Die inhaltliche Spannweite des Themas "Malerei und Fotografie im 19. Jahrhundert" wird bereits im Titel von Ulrich Pohlmanns "Vera Icon oder Die Wahrheit der Fotografie" überschriebenem Einleitungsaufsatz zum Münchner Katalog anschaulich. Programmatisch erfasst er nicht nur das ambivalente Verhältnis von Malerei und Fotografie, sondern den gesamten geistesgeschichtlichen Zwiespalt des 19. Jahrhunderts: In der religiös konnotierten Überschrift klingt der grundlegende Konflikt von alter, transzendent verbürgter Sinnerwartung und neuer, positivistischer Faktengläubigkeit an. Der weitere Fortgang des Katalogs macht das Verhältnis von Malerei und Fotografie als Geschichte künstlerischer (und rezeptionsästhetischer) Bewältigungsversuche dieses fundamentalen Antagonismus lesbar, deren - fotografische wie malerische - Ergebnisse die gesamte Skala von polemischer Polarisierung bis zur utopischen Versöhnungshoffnung abdecken. Dabei wird dem Leser schon durch die Kapiteleinteilung des Kataloges, die Zuordnung der Exponate zu den einzelnen Kapiteln und die Konfrontation der Abbildungen im Seitenlayout deutlich, dass sich der Antagonismus von künstlerisch gesetztem Sinn und positivistisch verbürgter Faktentreue nicht umstandslos auf eine eindeutige Rollenverteilung von altem und neuem Medium abbilden lässt: Zu vielgestaltig sind die Übergangsformen und gegenseitigen Anleihen der beiden Kunstformen, ob nun im protokollierenden Blick naturalistischer Maler oder in den erbaulichen Seelendramen präraffaelitischer Fotografen.

Der hervorragend illustrierte Münchner Katalog exemplifiziert das Verhältnis von Malerei und Fotografie im 19. Jahrhundert an fünfzehn Kapiteln. Die Kapiteleinteilung folgt dabei teils traditionellen Gattungen der Malerei (Porträt, Akt, Landschaft, Stillleben, Architektur- und Stadtveduten), reagiert aber auch auf die fotografische Erschließung neuer Gegenstandsbereiche für die Malerei (Momentaufnahmen von Tieren, Wolken und Wellen), auf die Dokumentation geografisch entlegener Sujets (Hochgebirgs- und Orientfotografie) sowie auf die am technischen Fortschritt orientierte Ikonografie des modernen Lebens (Industriebilder). Ein Kapitel ist stilgeschichtlich angelegt (präraffaelitische Fotografie); drei Kapitel widmen sich dem Metadiskurs über den künstlerischen und kunsthistorischen Gebrauchswert der Fotografie (Kunstreproduktion, Fotografie in der Karikatur, Fotografie in der Künstlerausbildung). Zu vier dieser Kapitel haben externe Autoren längere wissenschaftliche Aufsätze verfasst, den übrigen Katalogabschnitten sind kürzere Einleitungstexte von Ulrich Pohlmann vorangestellt (nur der Stillleben-Text stammt von Christiane Lange). Diese Essays führen den Leser überblicksartig in die Problematik ein, erläutern dabei die jeweils im Anschluss vollzählig abgebildeten Exponate und kommentieren deren Anordnung. Dabei halten die Texte elegant die Balance zwischen erzählerischer Präsentation der Exponate und fundiertem Forschungsüberblick. Alle Kapiteleinleitungen erschließen im Anmerkungsapparat weiterführende Quellen- und Forschungsliteratur (die Sach- und Quellenkenntnis des Verfassers äußert sich hier nicht zuletzt in der Benennung so zahlreicher Forschungsdesiderata, dass die Fußnoten regelrechte Fundgruben für künftige Magister- und Doktorarbeiten darstellen).

Die vier wissenschaftlichen Aufsätze des Münchner Katalogs sind gegenüber den Einführungstexten weniger stark auf die Ausstellungsexponate bezogen und vertiefen das Thema des jeweiligen Katalogkapitels an einem signifikanten Themenkomplex. Die Beiträge von Milan Chlumsky und Bodo von Dewitz erläutern am Beispiel von Hochgebirgsfotografie und Orientdarstellungen die Rolle der Fotografie für den geografischen Expansionsdrang des 19. Jahrhunderts mit seiner Überschneidung von wissenschaftlichen, künstlerischen und wirtschaftlichen Interessen. Chlumsky zeigt in seinem Aufsatz über den Montblanc als malerisches und fotografisches Bildmotiv, wie die "bukolischen" (191) und romantischen Ansichten des "Mont maudit" (190) unter dem Einfluss spezialisierter Wissenschaften (Geodäsie, Gletscherkunde und Kartografie) entmystifiziert wurden und sich vor der Fotokamera zu topografisch-realistischen Bestandsaufnahmen wandelten. Zeitgleich eröffnete der aufkommende Alpentourismus breiteren Publikumsschichten neue Seherfahrungen, die wiederum den Wunsch nach erlebbarer Räumlichkeit in Form alpiner Panoramafotografien und Stereoaufnahmen nach sich zogen (193). Eine überraschend ähnliche Karriere als Medienprodukt bescherte die Konkurrenz von Malerei und Fotografie dem Nahen Osten, wie Bodo von Dewitz in seinem Beitrag über Orientdarstellungen zeigt. Auf die Dokumentargrafik im Umfeld des napoleonischen Ägyptenfeldzugs folgte der romantische Orientalismus, in dem sich eine diffuse Gemengelage von literarischem Bildungswissen, Orientfantasien und zivilisationsmüdem Eskapismus artikulierte (259). Die Fotografie wurde zunächst zu Dokumentationszwecken genutzt, um diese "Phantasmen" zu korrigieren (259), wurde von ihnen schließlich aber wieder eingeholt. Wie bei der Alpenfotografie spielte auch hier die parallele Professionalisierung von Tourismus und Fotografie ein zentrale Rolle: Die touristische Erschließung Ägyptens machte die Orientfotografie schon bald zum Lieferanten gefälliger Wunschbilder und damit zum affirmativen Medium westlicher Selbstüberhebung (265). Der Beitrag zeigt eindrücklich, wie sich Klischees mithilfe von Medien und ihren "Vermarktungsstrategien" (262) letztlich selbst bestätigen.

Zwei Beiträge der Münchner Publikation befassen sich mit Nutzungsformen der Fotografie durch Kunstinstitutionen. Dorothea Peters bietet eine umfassende Technik- und Institutionengeschichte der Kunstreproduktion. Ihr Text stellt die entsprechenden Verfahren nach Kunstgattungen in chronologischer Reihenfolge ihrer fototechnischen Reproduzierbarkeit vor, beginnend mit der Architektur über Skulptur, Kunstgewerbe, Zeichnung bis zur Malerei, deren tonwertrichtige Wiedergabe den Schlusspunkt der technischen Entwicklung bezeichnete. Dabei reflektiert die Autorin auch die Konsequenzen der Reproduktionsverfahren und -konventionen für die zeitgenössische Interpretationspraxis der Objekte. So weist sie kritisch darauf hin, dass die Schwärzung der Hintergründe bei Fotografien von Skulpturen einerseits der "Versachlichung" diente, da sie die Plastizität des Objekts hervorhob, den Kunstgegenstand andererseits aber auch kontextlos und "enthistorisiert" dem subjektiven Zugriff des Betrachters "als (museales) Kultobjekt" überantwortete (293). Zudem bietet Peters einen Überblick über historische Nutzungsformen der Kunstreproduktion, die von Vorlagen für Kunsthandwerker und Maler über den Unterricht in Kunstakademien und Gewerbeschulen bis zur kunsthistorischen Forschung reichten, wobei letztere der Kunstreproduktion neue Methoden wie das vergleichende Sehen und die Stilkritik verdankt (296). Diese Institutionengeschichte der Kunstreproduktion leitet zum Aufsatz von Dietmar Schenk über, der Sammlungspraxis und Anwendung von Fotografien an der Berliner Kunstakademie und der dortigen Kunstgewerbeschule rekonstruiert. Schenk zeigt, dass man Fotografien in der Künstlerausbildung nicht als Kunstwerke, sondern als Lehrmittel wahrnahm. So wurden fotografische Mappenwerke und Vorlagenbände häufig zerlegt und Abbildungen zu Demonstrationszwecken auf Karton montiert. Fotos wurden erst spät und oft zusammen mit Druckgrafik inventarisiert (326). Der Respekt vor dem einzelnen Abzug war entsprechend gering - als Lehrmittel waren Fotografien Gebrauchs- und damit "Verbrauchsartikel" (329).

Auch der Brüsseler Ausstellungskatalog enthält ein Kapitel zur Nutzung fotografischer Modellstudien in Malerateliers. Dominique Planchon-de Font-Réaulx erläutert, weshalb diese gewerblich hergestellten "Etudes d'après nature" anonymer Modelle nicht nur im Akademiebetrieb zum Einsatz kamen, sondern gleichzeitig zur Subversion akademischer Konventionen dienen konnten. Um ihren Aufnahmen maximale Verwertbarkeit (und damit maximale Verkaufszahlen) zu sichern, arrangierten Fotografen wie Gaudenzio Marconi ihre Modelle in stereotypen Posen, die bekannten Gemälden nachempfunden waren. Die Autorin legt den selbstbezüglichen Medienkreislauf von Malerei und Fotografie offen, in dem diese Aktstudien funktionierten: "s'inspirant des modèles picturaux pour ensuite les nourrir" (65). Zugleich ermöglichte der Kontrast von klassischer Pose und der mitunter wenig idealen Physis des Modells den Bruch mit dem Akademismus. So zeigt die Autorin, dass anatomische Unvollkommenheiten vom Fotografen möglichst kaschiert, von Malern wie Courbet jedoch absichtsvoll betont wurden. Auch Begleitumstände der fotografischen Aufnahme konnten antiakademische Sprengkraft erhalten: Abgelegte Kleidungsstücke gelangten oft zufällig mit aufs Foto, weisen aber in malerischer Umsetzung beispielsweise Courbets Badende nicht als Nymphen, sondern als robuste Landmädchen aus (62). Ebenso wird der beiläufige Blick des Aktmodells in die Kamera erst bei wörtlicher Übernahme ins Gemälde zum anzüglichen Blickkontakt, der die klassische Pose dementiert - etwa bei Manets "Olympia" (63).

Arrangierte Posen erzeugen also in der fotografischen Situation mitunter ein irritierendes Mehr an Realität - oder sogar symbolisch deutbare Irrealität, wie Michel Poivert am Beispiel fotografischer Genreszenen zeigt. Hier wird demonstrative Unbewegtheit allegorisch lesbar und legt die "nature construite de la représentation" offen (23). Besonders überzeugend veranschaulicht Poivert diese mediale Selbstreferentialität am Beispiel fotografischer tableaux vivants im viktorianischen England. Die absichtsvolle Künstlichkeit angehaltener Gesten vereint sich mit den historischen Kostümen zur "figure de l'inactuel, de la dialectique des temporalités" (24). Dieser theatralische Anachronismus stellt sich auch bei Szenen in zeitgenössischem Kostüm ein, die Poivert als "folklore naturaliste" deutet (29). Auch wenn der Autor beim letzten Punkt den Nachweis schuldig bleibt, inwieweit dieser Anachronismus auch damals schon wahrnehmbar war, weist seine These des "'synchronisme' de l'inactuel" als Kern einer "esthétique naissante de 'l'image performée'" (23) weit über das 19. Jahrhundert hinaus und verdient, im Kontext aktueller kulturwissenschaftlicher Forschungen zu Inszenierung und Performativität diskutiert zu werden.

Obwohl die Aufsätze von Planchon-de Font-Réaulx und Poivert vom Gegenstandsbereich her im Vorfeld des Symbolismus verbleiben (im Sinne des Katalogtitels: "Autour du symbolisme"), berühren beide mit ihren medienorientierten Ansätzen den Kern symbolistischer Ästhetik, nämlich die Frage nach der Authentizität des Artifiziellen. Beide stellen die Frage, inwieweit das Arrangement, die Zurichtung für den fotografischen Akt, eine eigene Form von Präsenz schafft, die weder in der abgebildeten Realität noch in der inszenierten Ikonografie aufgeht. Damit bereiten sie das Feld für eine medientheoretische Reflexion von Symbolismus und Fotografie - die allerdings in den Aufsätzen von Alain D'Hooghe und Christine De Naeyer, die sich dezidiert dem Symbolismus zuwenden, nicht eingelöst wird. D'Hooghe belässt es in seinem Beitrag über "Peintres et photographes, peintre-photographes" weitgehend bei einer Chronologie malerischer Anwendungsweisen von Fotostudien seit Delacroix. Obwohl er mit Moreau, Stuck und Khnopff drei hochrangige Symbolisten würdigt, nimmt er die Bedeutung des Medienwechsels für die symbolistische Verfremdungsästhetik kaum in den Blick. Dieses Versäumnis ist umso bedauerlicher, als die Brüsseler Ausstellung neben Khnopff noch mit weiteren hochkarätigen Beispielen für die Foto-Karriere speziell des belgischen Symbolismus aufwartet: Félicien Rops' Skandalmotiv der lasziv gekreuzigten Nackten führt ein düsteres fotografisches Nachleben bei dem Tschechen Frantisek Drtikol - Satanismus auf Salzpapier. In der Radierung "Mon portrait squelettisé" geht James Ensor seinem eigenen Fotoporträt buchstäblich unter die Haut - Druckgrafik als Röntgenkamera, die die Foto-Pose aufs Makaberste als banale Oberfläche entlarvt. Weder Rops noch Ensor werden von D'Hooghe erwähnt.

Christine De Naeyer schließlich interpretiert in "Le pictorialisme à l'aune du symbolisme" die exklusive Ästhetik der Kunstfotografie um 1900 mit ihren delikaten Tonwerten und suggestiven Unschärfen als Ausdruck ästhetizistischer Weltflucht und morbider Dekadenz. Dabei entspricht ihre Herleitung der pretiösen Unikatabzüge als elitäre Gegenreaktion auf die Demokratisierung der Amateurfotografie den historischen Tatsachen (111). Ihre Versuche jedoch, Weichzeichner-Optik und introvertierte Sujets der Piktorialisten umstandslos auf Okkultismus und Narzissmus zu verpflichten, überzeugen nicht, weil sie die Indizien hierfür nicht den Bildern, sondern den Biografien der Fotografen entnimmt wie bei Demachy und Evans (114, 116) oder aber ihre Bildbeispiele schlicht überinterpretiert: Aus einer Porträtstudie im Profil spricht "le silence d'une âme en quête d'absolu" (115), Hannons Dämmerungslandschaften zeigen "une nature dangereuse et sombre, peuplée d'invisibles [!] monstres" (117), und für Puyos etwas sentimentale Aufnahme eines betenden Mädchens mit Schleier bemüht sie gar Freuds "Zwangshandlung und Religionsausübung" (116). Statt mystischer und psychologisierender Suggestionen wären Bildanalysen und -vergleiche ertragreicher gewesen: So verweist das Kreismotiv bei Seeley nicht nur auf die im "Linked Ring" kultivierte Esoterik (115), sondern wäre auf analoge Funktionalisierung in Fernand Khnopffs Porträts und Interieurs zu befragen, und auch die nebelverhangenen Teiche des Belgiers Hannon aktualisieren Khnopffs Ansichten des Weihers von Fosset und damit ein Standardmotiv des belgischen Symbolismus. Hinweise auf Maler und Fotografen wie Eugène Carrière oder Edward Steichen, die den symbolistischen Kult der Unschärfe regelrecht zu ihrem Markenzeichen machten, fehlen völlig - wobei letzterer mit seinen Fotos von Skulpturen Rodins eine zusätzliche medienübergreifende Perspektive auf den Symbolismus ermöglicht hätte. Während sich D'Hooghes Aufsatz ausgezeichnete Werkbeispiele der Ausstellung entgehen lässt, wird man De Naeyer umgekehrt ihre konsequente Beschränkung auf die Exponate zugute halten müssen: Die Verflechtungen von Kunstfotografie und Symbolismus sind zu komplex für ein Kapitel unter vielen und hätten ohne weiteres eine eigene Ausstellung gerechtfertigt.

Die Stärken des Brüsseler Ausstellungskatalogs liegen also paradoxerweise weniger in den Aufsätzen, die sich explizit mit den titelgebenden Symbolismus-Bezügen befassen als in den Beiträgen, die deren Voraussetzungen in Malerei und Fotografie der Vorgängergeneration thematisieren. Hier bestehen inhaltliche Überschneidungen mit dem Münchner Katalog, die eine Parallellektüre beider Publikationen lohnend machen. Ein Beispiel bietet die unterschiedliche Kontextualisierung des viktorianischen Fotografen Oscar Gustav Rejlander in den beiden Katalogen. Im Münchner Katalog firmieren Rejlanders Kinderstudien und sein Doppelselbstbildnis nicht im Kapitel über präraffaelitische Fotografie, sondern in einem eigenen Abschnitt über physiognomische Porträts. Die Nähe von Rejlanders demonstrativer Mimik und Gestik zu Duchenne de Boulognes elektrophysikalisch stimulierten Ausdrucksstudien und Regnards an der Pariser Salpêtrière fotografierten Hysterikerinnen enthüllen frappant, dass künstlerische Seelenaussprache und medizinische Seelendiagnostik eine gemeinsame Wurzel in theatralischen Inszenierungen haben, die Affekte erst lesbar machen. Rejlanders Theatralik erscheint hier in einem neuen, naturwissenschaftlichen Kontext, der Michel Poiverts medientheoretische Überlegungen zu Inszenierung und Performativität in der viktorianischen Fotografie hervorragend ergänzt. Ähnlich fruchtbare Überschneidungen zwischen den beiden Publikationen ergeben sich auch für die akademische Aktstudie und die Landschaftsfotografie.

Als Fazit lässt sich festhalten, dass der Münchner Katalog mit dem Vergleich von malerischer und fotografischer Weltsicht stärker den positivistisch-wissenschaftlichen Aspekt fokussiert, während der Hauptakzent der Brüsseler Publikation auf dem medialen Arrangement als künstlerischem Akt der Verfremdung liegt. Faszinierend ist dabei, dass diese Erkenntnisse - insbesondere auf dem Sektor der Fotografie - teilweise denselben Gegenständen abgewonnen werden. 'Malerisch' oder 'fotografisch' ist also weniger eine Frage der Bilderzeugung als des Blickwinkels, aus dem Bilder betrachtet werden und des Kontextes, in dem sie erscheinen. Beide Publikationen haben den Bildhaushalt des 19. Jahrhunderts für diese Fragen ein Stück transparenter gemacht. Hier zeigt sich auch die veränderte Einstellung zum Mediengebrauch des 19. Jahrhunderts seit den Pionierausstellungen der Siebzigerjahre: J. A. Schmoll gen. Eisenwerth, der Nestor deutscher Fotoforschung zum 19. Jahrhundert, beschließt den Münchner Katalog mit einem persönlichen Rückblick auf die von ihm kuratierte Ausstellung "Malerei nach Fotografie" von 1970. Sein Bericht dokumentiert die Widerstände einer Kunstöffentlichkeit (und Kunstgeschichte!), die damals immer noch meinte, Kunst gegen Technik verteidigen zu müssen oder sich das Verhältnis von Malerei und Fotografie allenfalls im Sinne einsinniger Abhängigkeiten und Einflüsse vorzustellen vermochte. Demgegenüber zeigen die beiden aktuellen Publikationen, dass die Frage nach der medialen Konkurrenz, Durchdringung oder Ergänzung von Malerei und Fotografie nicht auf der Ebene der Kunstgattungen zu beantworten ist, sondern Nutzungsweisen und Publikationskontexte beider Medien zu berücksichtigen hat. Die Tiefenschichten, die der Diskussion über Malerei und Fotografie im 19. Jahrhundert damit hinzugewonnen wurden, zeugen von der vielseitigen Bildkultur einer Epoche, die den heute vielbeschworenen "iconic turn" nicht nötig hatte.


Anmerkungen:

[1] Fotografische Bildnisstudien von Lenbach und Stuck (Ausstellungskatalog Museum Folkwang, Essen 1969); Fotografie nach Malerei. Von der Camera obscura bis zur Pop Art. Eine Dokumentation (Ausstellungskatalog Münchner Stadtmuseum 1970); Erika Billeter (Hg.): Malerei und Photographie im Dialog. Von 1840 bis heute (Ausstellungskatalog Kunsthaus Zürich 1977); Dorothy Kosinski (Hg.): The Artist and the Camera. Degas to Picasso, (Ausstellungskatalog San Francisco Museum of Modern Art / Dallas Museum of Art / Fundación del Museo Guggenheim, Bilbao 1999/2000).

[2] Siehe Anm. 1.

[3] Fernand Khnopff (1858-1921) (Ausstellungskatalog Musées Royaux des Beaux-Arts, Bruxelles / Museum der Moderne Rupertinum, Salzburg / McMullen Museum of Art, Boston 2004).

Christian Drude