Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth: Die lothringische Skulptur des 14. Jahrhunderts. Ihre Voraussetzungen in der Südchampagne und ihre außerlothringischen Beziehungen (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; 29), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2005, 751 S., 937 Abb., ISBN 978-3-937251-71-4, EUR 128,00
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Ein halbes Jahrhundert schon beschäftigt sich Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth mit der Skulptur Lothringens. Die 750 Seiten starke Publikation, mit mehr als 900 zum Teil hervorragenden Schwarz-Weiß-Abbildungen adäquat ausgestattet, bündelt nun die jahrzehntelangen Forschungen. Gleichwohl hat es trotz des monumentalen Umfangs nichts Abschließendes, eher schon hat es den Charakter eines weitgewölbten Passagenwerkes.
Vorrangiges Ziel war eine ''flächendeckende Aufnahme aller noch erhaltenen plastischen Dokumente zwischen 1280/90 und 1380/90, sowohl in der genannten Region als auch an außerlothringischen Standorten'' (6). So versteht sich die Publikation in erster Linie als Corpuswerk, das in einer ''chronologische[n] und stilistische[n] Kernauswahl'' (6), über deren Kriterien man nichts Genaueres erfährt, insgesamt 520 Einzelskulpturen und Ensemble auflistet und mittels stilkritischer Instrumente die Entwicklung der Skulptur Lothringens nachzuzeichnen sucht.
Dem Katalog vorangestellt ist eine nur acht Seiten lange Einführung, die aber für das notwendige Verständnis von der Ordnung der Denkmäler in einzelne Entwicklungsstufen und Produktionszentren entschieden zu kurz ausfällt. Stattdessen sind den einzelnen Abschnitten eigene kurz gehaltene Erläuterungen vorangeschickt. Da ein schnelles Auffinden dieser für das Verständnis wichtigen Einleitungstexte zum Teil durch den Platz sparenden Satz erschwert wird, ist die französische Einführung, die alle Texte gebündelt wiedergibt, eher dazu geeignet, dem Leser die Struktur des Buches und der ihr zugrunde liegenden Ordnungskriterien näher zu bringen.
Die einzelnen Katalognummern geben systematisch Aufschluss über Provenienz, Werkstoff, Maße, Polychromie, generell über den Erhaltungszustand der vorwiegend aus Stein skulptierten Objekte. Die vom Autor vorgenommenen Zuordnungen nach Kunstkreisen oder einzelnen Schulen, die Datierung und eine Qualitätsbestimmung, sowie bibliografische Einträge ergänzen den Katalogkopf. Fließtexte, die je nach Qualität und stilgeschichtlicher Relevanz der Stücke unterschiedlich lang ausfallen, vervollständigen die Einträge. Besonders willkommen ist die großzügige Bebilderung einzelner Skulpturen in mehreren Ansichten, die einen guten Nachvollzug der Beschreibungen gewährleistet.
Der Katalog belegt auf eindrückliche Weise, dass das Erscheinungsbild der lothringischen Skulptur durch ein hohes Maß stilistischer Einheitlichkeit gekennzeichnet ist. Um die Denkmäler nach Werkstätten und Entstehungszeiträumen zu ordnen, greift Schmoll auf ''topographische und kirchenpolitische Zusammenhänge'' (9) zurück. Im Folgenden bleibt aber unklar, welche diese gewesen sind, denn die topografischen Zusammenhänge werden im Buch nicht weiter erläutert und die kirchenpolitischen reduzieren sich letztlich auf die Annahme, dass in den Bischofstädten Metz, Verdun und Toul Ateliers tätig waren, die die Produktion in den jeweiligen Diözesen prägten. Man wird dies für die so genannte zentrallothringische, d. h. Metzer Werkstatt noch nachvollziehen wollen, da sich an diesem Ort eine große Zahl stilistisch einheitlicher Skulpturen von gutem Niveau finden ließ. In Verdun und Toul ist der stilistische Befund ungleich schwerer zu deuten, da aufgrund der geringeren Qualität der dort zu findenden Skulpturen auch die Stilmerkmale allgemeiner Natur sind. Solange nun aber weder Werkstätten noch Auftraggeber fassbar sind, macht es nur eingeschränkt Sinn, eine Kunstlandschaft von ihren geopolitischen Grenzen her zu bestimmen.
Die Entscheidung, historische Landschaften zur Grundlage zu nehmen, suggeriert Auftraggeber, die als (kultur-)politisch Handelnde mit für das einheitliche Erscheinungsbild verantwortlich zu machen sind. Daher überrascht es nicht, dass Schmoll im Einleitungstext die ''Frage [nach] einer Höfischen Kunst'' (13) kurz behandelt. Zu erwähnen ist, dass sich überraschend viele Stücke finden, die einem vermeintlich höfischen, d. h. hohem Anspruchsniveau gerecht werden könnten. Fakt ist aber, dass mit Ausnahme der wenigen überlieferten Grabmäler (Nr. 132, 211 f., 396) keine Objekte lothringischer Provenienz der ersten Jahrhunderthälfte sicher diesem Auftraggeberkreis zuzuordnen sind. Im Zusammenhang fällt sogar auf, dass diese nicht die Qualität einzelner Statuen besitzen, die Schmoll mit dem Epitheton 'höfisch' schmückt. (vgl. Nr. 130 m. w. Bsp.).
Grundsätzlich aber ist es äußerst sympathisch, dass der Autor die Qualität der Werke beurteilt. Zurecht erinnert er damit daran, dass es auch im 14. Jahrhundert bereits rege Diskussionen über die Wertschätzung einzelner Werke gab. Allerdings wurde hier meines Erachtens eine seltene Gelegenheit verpasst, dieser Diskussion ihre anschaulichen Argumente zurückzugeben. Denn das wichtigste, auch von Schmoll intensiv genutzte Instrument der Stilkritik ist das vergleichende Sehen. Das vergleichende Sehen aber befördert die Einübung in historische Wahrnehmungsweisen. Damit eröffnet sich ein Wahrnehmungshorizont, vor dem sich das für die Bestimmung der Qualität entscheidende Zusammenspiel einzelner Kriterien, wie handwerkliches Können, Materialwahl, ikonografische Komplexität und kompositorische Lösungen, stärker abzeichnet. Dadurch hätte deutlich werden können, was eine qualitativ hoch stehende von einer Skulptur minderer Qualität unterscheidet. Da es Schmoll aber unterlässt, die eigenen Kriterien für seine Rangabfolgen zu reflektieren, besitzt die Kategorie ''Qualität'' gleich derjenigen der kunstlandschaftlichen ''Bestimmung'' nur begrenzten historischen Aussagewert.
Der entscheidende Zeitraum für die Entwicklung der lothringischen Skulptur liegt nach Schmoll zwischen 1290 und 1310. Für diese zeitliche Spanne fehlt es jedoch an absoluten Daten. Sieht man vom stark mutulierten Grabmal des 1316 vergifteten Metzer Bischofs Renaud de Bar (Nr. 132) einmal ab, lassen sich keine chronologischen Fixpunkte nennen. Die von Schmoll vorgelegte Chronologie ist damit eine relative, die in ihren Verästelungen nicht immer nachvollzogen werden kann. Gehalten wird dieses chronologische Gerüst von zwei außerhalb Lothringens erhobenen Eckdaten: dem Datum des Kölner Chorgestühls (Nr. 378) um 1308/11 und dem Stiftungsdatum 1293 der Notre-Dame de Fontenille (Altarweihe 1295) vom Hospital in Tonnerre im Département Aube.
Ersteres markiert eine obere Grenze, da am Chorgestühl lothringische Bildschnitzer arbeiteten, deren Œuvre alle charakteristischen Stilmerkmale des so genannten Metzer Ateliers aufweist. Mit dem Hospital von Tonnerre verbindet sich die so genannte "Aube-Skulptur", die wahrscheinlich in den Werkstätten von Mussy-sur-Seine entstand und die allem Anschein nach Schrittmacherfunktion für die lothringische Skulpturenproduktion besaß. Die stilistischen und motivischen Übereinstimmungen, vom Verfasser überzeugend herausgearbeitet, zeigen zumindest, dass die Aube-Skulptur den frühen lothringischen Werken aus Vergaville, Morhange und Berlin SMPK (Nr. 125-127) entschieden näher steht, als die ebenfalls als impulsgebend betrachteten Skulpturen der Ostchampagne.
Allerdings finden sich auch hier für die Genese der lothringischen Skulptur Interpretationsspielräume, die man im Auge behalten sollte. Denn vom Hospital in Tonnerre heißt es nur, dass es vollendet gewesen sei, als die Stifterin Marguerite de Bourgogne 1308 verstarb. Für den zweiten wichtigen Werkkomplex der Aube-Skulptur in der Stiftskirche von Mussy-sur-Seine liefern nur das vermeintliche Grabmal des Guillaume de Mussy aus den Jahren 1307/08 und eine umfangreiche Dotation desselben aus dem Jahre 1300 relativ sichere Anhaltspunkte. Damit bleiben aber die für die gesamte Chronologie entscheidenden Datierungen der Muttergottesstatuen von Bayel und Mussy (Nr. 23+31) auf 1290 respektive 1290/95 in der Diskussion. Für Lothringen bedeutet dies, dass die frühe Datierung der 'ersten' lothringischen Skulptur, dem Eustasius aus Vergaville (Nr. 125), auf 1290/1300, mit einem Fragezeichen versehen bleibt. Für die Entwicklungsgeschichte der lothringischen Skulptur nicht unproblematisch ist zudem auch das jüngere Kölner Datum: so bleibt für eine postulierte 'Entwicklung hin zur vollen Blüte' ein lediglich schmales Zeitfenster von 10-15 Jahren.
Das Opus liefert erstmals einen umfassenden Überblick über die bislang häufig als peripher beschriebene Bildnerei Ostfrankreichs im 14. Jahrhundert. Dem bescheiden formulierten Anspruch, das Werk möge Grundlage für weitere Forschungen sein, wird das Buch gerecht. Manche Hoffnungen bleiben jedoch unerfüllt. Man hätte sich gewünscht, dass der Verfasser verschiedene Fragen aufgreift, die sich beim vorgelegten Überblick geradezu aufdrängen. So bleibt nach wie vor ungeklärt, warum es um 1300 keine größeren Portalensemble mehr gibt, die Skulpturen stattdessen mehrheitlich in das Kircheninnere immigrierten; was die Ursache für die merkliche Größenreduzierung und die Tendenz zur Verblockung und Einansichtigkeit der Figuren ist; welche Rolle der Werkstoff für die einheitlich und auf relativ hohem Niveau erfolgte Produktion spielte; auf wen die zunehmend komplexere marianische Ikonografie der Skulpturen zielte; kurz welches Publikum und welche Funktionsbereiche sich in den nun in großer Zahl produzierten Skulpturen spiegelten?
Nötig wären rezeptionsästhetische Untersuchungen, die verstärkt die Formen der damaligen Wahrnehmung in den Blick nehmen. Denn eine mittels stilkritischer Analyse erstellte Rekonstruktion dieser Wahrnehmung wirft nicht nur ein Licht auf die Prämissen damaliger Skulpturenproduktion, sondern auch auf die ihr zugrunde liegenden Ideen.
Michael Grandmontagne