Rezension über:

Peter Parshall / Rainer Schoch u.a.: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch, Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum 2005, X + 371 S., 177 Farb-, 53 s/w-Abb., ISBN 978-3-936688-08-5, EUR 52,00
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Rezension von:
Janez Höfler
Universität Ljubljana
Redaktionelle Betreuung:
Ulrich Fürst
Empfohlene Zitierweise:
Janez Höfler: Rezension von: Peter Parshall / Rainer Schoch u.a.: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch, Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 9 [15.09.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/09/9845.html


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Peter Parshall / Rainer Schoch u.a.: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik

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Die Erfindung des Druckverfahrens für Reproduzierung bzw. Vervielfältigung auf der Basis eines Holzstocks oder Metallplatte bedeutete für die bildenden Künste eine kleine Revolution. "Die Druckgraphik gehört ohne jeden Zweifel zu den großen Innovationen des ausgehenden Mittelalters, deren kulturhistorische Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann," stellt Peter Schmidt am Anfang seines Beitrags im besprochenen Ausstellungskatalog (Das vielfältige Bild: Die Anfänge des Mediums Druckgraphik, zwischen alten Thesen und neuen Zugängen, 37-56) fest und fragt sich, was an ihr so bedeutend sein soll: "Die technische Erfindung im vorweggenommenen Geiste Gutenbergs? Neue ästhetische Qualitäten, namentlich die schlichte Größe schwarz-weißer Linienkunst? Der Beginn einer neuen 'Volkskunst'? Anfänge des kleinen Andachtsbildes, also eine neue Qualität religiöser Kunst? Oder gar eine von der Druckgraphik eingeleitete 'Medienrevolution', der Beginn der modernen Massenkommunikation?" Die tief ins 19. Jahrhundert hinein zurückreichende Erforschung dieser Kunstgattung entschleierte allmählich all ihre technischen, stilistischen und kulturgeschichtlichen Facetten, konnte jedoch zu endgültigen und allseitig akzeptablen Ergebnissen noch nicht kommen. Der Grund dafür steckt nach Schmidt in den Änderungen der Blickpunkte: Die ältere Forschung konzentrierte sich auf philologisch-historische Aufgaben, ohne sich der Bedeutung der kommunikologischen Aspekte bewusst zu sein, die erst in neuester Zeit aktuell geworden sind, wogegen es den neuen Untersuchungen, die von diesen Ausgangspunkten zurückblicken und den Sachverhalt so oder so aus der heutigen Entwicklung der Medien erklären wollen, an soliden historischen Fundamenten fehlt.

Die Ausstellung, die in Zusammenarbeit der National Gallery of Art in Washington mit dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg vorbereitet und in Washington (4. September - 27. November 2005) wie auch in Nürnberg (15. Dezember 2005 - 19. März 2006) gezeigt wurde, soll die Gelegenheit bieten, die Anfänge der Druckgraphik und speziell des Holzschnitts neu zu erhellen. Der umfassende großformatige Katalog, von Peter Parshall und Rainer Schoch herausgegeben und in amerikanischer Ausgabe unter dem Titel The Origins of European Printmaking: Fifteenth-Century Woodcuts and Their Public bei Yale University Press erschienen, erfüllt manche Erwartung. Im Gegensatz zu der neuerdings weit verbreiteten Gepflogenheit, Ausstellungskataloge primär aus Einleitungsstudien zusammenzusetzen und die Behandlung der gezeigten Objekte nur als notwendiges Übel zu nehmen, liegt der Schwerpunkt dieser Publikation in ausführlich und detailliert bearbeiteten Katalognummern, die beinahe kleinen Monographien gleichen. Den Kuratoren gelang es, eine Fülle von höchst bedeutenden Werken zusammenzutragen: In erster Linie sind es natürlich Holzschnitte, von solchen, die das früheste Entwicklungsstadium von Technik und Stil vertreten, bis zu solchen, die all die formalen und inhaltlichen Möglichkeiten dieses Bildmediums mit und ohne Text veranschaulichen, des weiteren ein wertvolles Beispiel eines bedruckten Stoffs, die berühmte Sittener Tapete mit Episoden aus der Ödipus-Sage im Baseler Historischen Museum, Pilgerzeichen und andere Gegenstände, deren Herstellung durch Prägung in unterschiedlichen Materialen die Technik des Bilddrucks vorwegnimmt, außerdem originale Druckstöcke und frühe Beispiele anderer Drucktechniken, wie des Kupferstichs, Metallschnitts, Teigdrucks und so weiter.

Im Abschnitt mit den frühesten Beispielen des Holzschnitts (121 ff.; Kat.-Nrn. 25 ff.) wurde eine repräsentative Auswahl von bedeutendsten Blättern und Fragmenten gezeigt. Die Bearbeitung fiel an Richard S. Field, heute einen der erfahrensten Kenner der Materie. Durch die Zuweisung des großen Londoner Blatts mit Christus vor Pilatus (Kat.-Nr. 25, mit Datierung um 1420-1430) ins deutsche, möglicherweise fränkische Milieu statt nach Burgund, wie bisher üblich, verlagert sich der Schwerpunkt der Entwicklung nach Mitteleuropa. Die Lokalisierung der früheren, bis um 1420 zu datierenden Werke zwischen Franken, Bayern oder Salzburg bestätigt die diesbezügliche Bedeutung Süddeutschlands, dem sich um 1430 noch Österreich (Wien) und Mähren anschließen. Die berühmtesten und schönsten Blätter, wie der Hl. Sebastian, die Hl. Dorothea und das Fragment derselben Heiligen in München (Kat.-Nrn. 26-28) sowie die Heilige Familie, der Hl. Hieronymus und die Lambacher Pietà in Wien (Kat.-Nrn. 31-33), haben im Grunde keine neue Bestimmung erfahren, der Autor neigt allerdings zu einer etwas späteren Datierung. Der gleichermaßen bekannte wie umstrittene Buxheimer Christophorus in Manchester (Kat.-Nr. 35) wird von Peter Schmidt trotz Datum am Blatt selbst (1423) nun mit überzeugenden Argumenten in der Zeit um 1450 angesetzt.

Allerdings bleibt das Bild vom frühen Holzschnitt, wie es uns die Ausstellung bot, unvollständig. Es fehlen Beispiele aus anderen Regionen Deutschlands, etwa diejenigen, die bisher nach Schwaben lokalisiert worden sind, [1] ebenso unberücksichtigt bleiben Frankreich und Italien, die in der Frühgeschichte des Holzschnitts eine gewisse Rolle gespielt haben. Dem Anliegen der Kuratoren, all den Reichtum an Form und Verwendbarkeit des frühen Bilddrucks anschaulich zu machen, ist wohl zuzuschreiben, dass auch zwei wichtige österreichische Blätter mit der Verkündigung Mariens und der Heimsuchung in der Wiener Albertina von ca. 1430-1435 nicht in die Ausstellung gelangten, obwohl sie die einzigen bekannten Werke dieser Art sind, die sich einem bestimmten Malerkreis - es handelt sich um den sogenannten Meister der St.-Lambrechter Votivtafel - zuweisen lassen. [2] Überhaupt würde man sich bei der Besprechung einzelner Holzschnitte angesichts ausführlicher ikonographischer, theologischer und sonstiger kulturgeschichtlicher Analysen mehr komparative Stilanalysen mit Malwerken wünschen, obwohl diese bei den begrenzten bildkünstlerischen Mitteln des frühen Holzschnitts nicht so tiefgreifend sein können.

Für diese Mängel wird der Leser mit einleitenden Studien entschädigt. Die Kuratoren der Ausstellung und Herausgeber des Katalogs, Peter Parshall und Reiner Schoch, stellen im ersten Beitrag (Der frühe Holzschnitt und die Rezeption des Primitiven, 1-17) grundlegende Gedanken zum Medium und seiner bildkünstlerischen Relevanz in Geschichte und Gegenwart dar. Richard S. Field (Der frühe Holzschnitt: Was man weiß und was man nicht weiß, 19-35) bringt einen anregenden Abriss der Forschungsgeschichte, hält sich dabei speziell bei den technischen und sonstigen materiellen Voraussetzungen des frühen Holzschnitts auf und schneidet viele Fragen an, die dessen Herstellungsprozesse und Funktion betreffen. Auch das Verhältnis zur Malerei wird angesprochen (29-30) und dabei eines der erwähnten Wiener Blätter abgebildet zusammen mit der namengebenden Votivtafel aus St. Lambrecht; dennoch zeigt sich der Autor nicht ganz überzeugt von der Möglichkeit, dass die Holzschnittproduktion auch in gewöhnlichen Malerwerkstätten erfolgt sein könnte, geschweige, dass die genannte Wiener Werkstätte neben Tafelbildern auch Glasgemälde geliefert und Handschriften illustriert hätte. Peter Schmidt konzentriert sich in seinem oben zitierten Beitrag auf diejenigen Probleme des frühen Holzschnitts, die mit seiner vervielfältigenden Natur verbunden sind. Bildquellen und Gebrauch, ikonographische Gebundenheit und Freiheit, Mobilität und nachträgliche Reproduktion, regionale Vernetzung, die uns von einem Lokalstil nicht zu reden erlaubt - darin Anknüpfung an Fields oben erwähnte Bedenken - werden mit höchster Akribie behandelt. Obwohl beide Texte keinen Anspruch darauf erheben können, die mit dem Phänomen Holzschnitt auftauchenden Grundfragen endgültig zu lösen, präsentieren sie den Sachverhalt in all seiner Komplexität und regen zu weiteren Untersuchungen und Überlegungen an.

Der vorliegende Ausstellungskatalog zählt zu den vielschichtigsten und nutzbarsten Publikationen, die je über den frühen Holzschnitt erschienen sind. Obwohl die Auswahl an frühesten Belegen dieser Kunst eher beschränkt ist, bietet er mit den Objekten, die parallele Phänomene betreffen und auf die Entstehung der Druckgraphik mehr Licht werfen, und mit späteren Werken, die all die Vielfalt an Form, Inhalt und Gebrauch des Holzschnitts im Laufe des 15. Jahrhunderts illustrieren, ein abgerundetes und überzeugendes Bild. Dazu trägt auch eine sorgfältige, in Satz und Abbildung übersichtliche typographische Herstellung des Bandes bei.

Anmerkungen:

[1] Vgl. die letzte Gesamtdarstellung von Hans Körner, Der früheste deutsche Einblattholzschnitt, München 1979. Zu seinen sonst problematischen Thesen siehe Richard S. Field im unten zitierten Katalogbeitrag, 31-32.

[2] In dem Vorderdeckel und auf dem Hinterdeckel einer aus Olmütz nach Wien gelangten Handschrift; Otto Benesch, Zur altösterreichischen Tafelmalerei, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien, NF II, 1928, 69.

Janez Höfler