Katajun Amirpur / Ludwig Ammann (Hgg.): Der Islam am Wendepunkt. Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion (= HERDER spektrum; Bd. 5665), Freiburg: Herder 2006, 219 S., ISBN 978-3-451-05665-9, EUR 9,90
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In Zeiten, in denen der Islam vielfach als nur rückwärtsgewandte Religion und als Relikt aus dem Mittelalter wahrgenommen wird, sind Bücher wichtig, die uns am innerislamischen Diskurs um den Weg in die Zukunft teilnehmen lassen. Genau dies geschieht mit dem Buch, das Katajun Amirpur und Ludwig Ammann vorlegen. Sie tun dies, indem sie 19 "Reformer" des Islam vorstellen und damit dem Leser das Verhältnis von Muslimen zur Moderne näher bringen. Damit wollen sie die Debatte um das rechte Islamverständnis, um die rechte Auslegung des Koran und der Tradition für gegenwärtige Gesellschaften lebendig werden lassen. Da es im Islam ähnlich dem protestantischen Christentum keine autoritative Schriftauslegung gibt (wenngleich einige sich selbst zu solchen Autoritäten erheben wollen), ist eine große Zahl von Standpunkten, ja eine "unendliche Vervielfältigung der Standpunkte" (10) möglich.
Das Buch kann natürlich nur eine begrenzte Auswahl treffen. Es konzentriert sich "auf das gesamte Reformspektrum und stellt liberale und konservative Standpunkte einander gegenüber" (11 f.). Die vorgestellten Personen wurden in fünf Kategorien eingeteilt, was den Vorteil hat, dass man Zusammengehöriges auch nahe beieinander findet und es hintereinander lesen kann. Der erste Teil stellt fünf markante Persönlichkeiten des europäischen Islam dar (inklusive der Türkei und den USA), der zweite drei Entwürfe einer religiösen Demokratie, der dritte drei Positionen zu den Spielräumen einer Schariareform, der vierte vier Ansichten über das künftige Verständnis des Koran und der fünfte geht mit weiteren vier Positionen auf islamische Frauen- und Menschenrechtsaktivisten ein. Ein Nachwort von Patrick Haenni zieht aus den Einzelartikeln die Konklusion.
Man kann natürlich immer bedauern, dass die eine oder andere Persönlichkeit fehlt. Nadeem Elias oder Murat Hofmann vorgestellt zu bekommen wäre für das Verständnis des Islam in Deutschland nützlich gewesen. Said Nursi mit seinen Ideen der Trennung religiöser von staatlichen Ämtern hätte auch gut in das Buch gepasst. Unabhängig von solchen Einzelwünschen, die jeder Leser woanders anbringen mag, fällt auf, dass die Positionen im Buch alle mehr oder weniger den Wünschen deutscher Leser an Muslime entsprechen. Man findet hier aufgeklärte, um Demokratie, Gleichberechtigung und Menschenrechte bemühte Persönlichkeiten. Aber zum modernen Islam und den Reformbestrebungen in ihm gehören auch ganz andere Kräfte, nämlich solche, die einer wörtlichen Auslegung des Koran und ebenso einer wörtlichen Befolgung der Scharia das Wort reden. Auch diese verstehen sich als Reformer und streben danach, den sich ihrer Ansicht nach in eine falsche Richtung entwickelnden Islam zu den fundamentals der Zeit Mohammads zurückzuführen, das klassische Anliegen der Reformer à la Martin Luther. Programmatisch schließen die Herausgeber solche Kräfte aus: "Ausgeschlossen werden erstens antipluralistisch-totalitäre und revolutionäre Positionen, zweitens rein weltlich begründete Standpunkte und drittens Vertreter eines bornierten Buchstabenglaubens, der die Notwendigkeit jeglicher und insbesondere historischer Auslegung bestreitet." (12) Im Vorwort wird also eine klare Abgrenzung gezogen, die sicher auch sinnvoll ist. Das Anliegen des Buches besteht schließlich darin, westlichem Denken sympathischere Positionen zu präsentieren. Das islamische Reformspektrum ist so aber nicht abgedeckt, und wer sich die zitierten Zeilen nicht genau gemerkt hat, kommt am Ende des Buches zu dem Schluss, dass es nur Reformer gibt, die in Richtung auf einen (im Sinne des "Westens") "modernen" Islam hinarbeiten.
Patrick Haenni geht in seinem Nachwort über die meist theologisch reflektierten und begründeten Positionen zur Moderne hinaus auf "Die stillschweigende Modernität" (200-204) ein. Die Individualisierung der Lebensverhältnisse und die Versachlichung der Tradition, die nicht mehr selbstverständlich gelebt, sondern herbeigesehnt wird, in Kombination mit einer konsumistischen Orientierung verbreiteten sich unreflektiert und fast unaufhaltsam, was eine Anpassung der Religiosität zur Folge habe oder eben eine Gegenreaktion, oft auch eine Mischung von beidem.
Mit den Beiträgen des Buches sollen Positionen zum Verhältnis von Islam und Moderne vorgestellt werden. Es zeigt sich, dass der größte Teil der Beiträge das Verhältnis von Islam versus moderner Rechtsstaat thematisiert. Es geht fast immer um das Verhältnis der Muslime zu westlichen Staatsformen und den Menschenrechten. Dies ist kein Zufall, sondern es zeigt sich vielmehr, wo die eigentlichen Knackpunkte für den Weg in die Zukunft liegen. Diese Diskussion ist keine akademische, sondern eine, die die Öffentlichkeit in islamischen Ländern genauso bewegt wie in Europa. So zeigt das Buch Gemeinsamkeiten des Denkens der Muslime in ihren alten Heimatländern und in Europa auf, und es zeigt, worauf im Dialog besonders zu achten ist: auf das Verhältnis von islamischem Recht versus modernem Recht. Parallele Rechtsstrukturen, die viele Länder kennen, nicht zuletzt islamische, sind als Variante mit zu bedenken. Das Buch ist nützlich, keine Frage, und die Beiträge fundiert. Literaturhinweise am Ende jeden Artikels führen interessierte Leser weiter. Wer sich über die Breite islamischer Reformbestrebungen in verschiedenen Ländern informieren will, wer einen Eindruck von möglichen exegetischen Methoden für Koran und Sunna bekommen möchte, der ist mit dem sich an Nichtfachleute wendenden Buch gut bedient.
Anmerkung der Redaktion:
Für eine komplette Darstellung der arabischen Umschrift empfiehlt es sich, unter folgendem Link die Schriftart 'Basker Trans' herunterzuladen: http://www.orientalische-kunstgeschichte.de/orientkugesch/artikel/2004/
reichmuth-trans/reichmuth-tastatur-trans-installation.php
Wassilios Klein