Michael Eissenhauer / Hans-Werner Schmidt (Hgg.): 3 x Tischbein und die europäische Malerei um 1800, München: Hirmer 2005, 239 S., 100 Farb-, 20 s/w-Abb., ISBN 978-3-7774-2785-0, EUR 34,50
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Ist Kunstgeschichte familienfeindlich? Eine Antwort könnte lauten: Wie die Geschichtswissenschaft und Soziologie insgesamt neigt auch die Kunstgeschichte dazu, die Bedeutung familiärer Strukturen spätestens mit dem Anbruch der Moderne für nachrangig zu erklären. Familie, das ist die Herkunft, die man hinter sich lässt. Allenfalls einige Teilelemente des komplexen Beziehungsgefüges namens Familie sind bisher in kunstsoziologischer und -geschichtlicher Perspektive analysiert und als Ausstellungsthemen präsentiert worden. Dazu gehören Künstler(ehe-)paare und neuerdings auch Künstlergeschwister.
Modellgebend für diese kunsthistorische Familienforschung ist unverkennbar das bürgerliche Konzept der Klein- oder Kernfamilie, wie es sich um 1800 herauszubilden begann und in entsprechenden ikonografischen Mustern propagiert wurde. Wie die angelsächsischen kinship-Forschungen belegt haben, wird 'Familie' aber erst dann wieder zu einer methodisch sinnvollen und historisch ergiebigen Bezugsgröße, wenn man sie als Strukturelement eines räumlich verzweigten und generationenübergreifenden Verwandtschaftsgefüges betrachtet.
Die Staatlichen Museen in Kassel und das Museum der bildenden Kunst in Leipzig haben 2005/2006 für die Künstlerfamilie Tischbein eine Art postumes Verwandtschaftstreffen ausgerichtet, das in einem begleitenden Katalogbuch dokumentiert worden ist. Hinter den titelgebenden drei Vertretern der Familie verbergen sich Johann Heinrich d. Ä. (1722-1789), genannt der 'Kasseler Tischbein', und dessen Neffen Johann Friedrich August (1750-1812), der 'Leipziger Tischbein' sowie Johann Heinrich Wilhelm (1751-1829), das einzige Mitglied der Künstlersippe, das nicht nach seinem bevorzugten Wirkungs- und Wohnort, sondern nach einem prominenten Zeitgenossen benannt worden ist: der 'Goethe-Tischbein'.
Der Katalog setzt verheißungsvoll an: Wolfgang Kemp entwickelt in einem pointiert formulierten Essay den thematischen Rahmen (10-19). Der Aufsatz ist ein Plädoyer für die Künstlerfamilie als eine geradezu idealtypische, weil zeitlich und quantitativ überschaubare "Untersuchungsgröße", deren Analyse vorherrschende Künstlertypologien und entwicklungsgeschichtliche Modellbildungen ("Handwerkerkünstler - Hofkünstler - autonomer Künstler") präzisieren und partiell korrigieren könne. Marianne Heinz präsentiert sodann die Geschichte der Malerfamilie Tischbein vergleichsweise konventionell nach Maßgabe der Generationenfolge und ihrer kunstakademischen Institutionalisierung (20-29). Von den drei titelgebenden Tischbeins sind zwei mit monografischen Beiträgen vertreten (Stefanie Heraeus über den 'Kasseler Tischbein', 30-36; Marianne Heinz über Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, 37-47). In Richard Hüttels vergleichender Studie zum Wandel der Porträtauffassung im Werk der Tischbeins kommt endlich auch Johann Friedrich August zu seinem Recht (48-55). Gleichwohl schließt auch dieser Beitrag mit dem offenbar unverzichtbaren Goethe-Porträt Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins, das den Dichter lagernd in der römischen Campagna zeigt, als müsse nach wie vor jedes fachliche und öffentliche Interesse an den Tischbeins teleologisch von dieser Ikone deutscher Italiensehnsucht abgeleitet werden.
Der folgende Katalogteil gliedert sich gattungsspezifisch in Historie, Grafik und Porträt. Innerhalb dieser Sektionen sind die drei Protagonisten in unterschiedlichen Gewichtungen vertreten; Vergleichsbeispiele der europäischen Kunst, die stilistische Einflüsse und ikonografische Parallelen andeuten sollen, arrondieren die drei Abteilungen. Den Eindruck großer Beliebigkeit bei der Zusammenstellung kann keine zerstreuen. Die summarische Gliederung nach Bildgattungen gerät hier mit dem Konzept des Generationenvergleichs in eine unübersehbare Spannung.
So ist die Sektion Historienbild auf den 'Kasseler Tischbein' zugeschnitten, während Johann Friedrich August Tischbein hier überhaupt nicht vertreten ist und auch zahlreiche Werke von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, wie die Oldenburger 'Idyllen' (Kat.-Nr. 33a) oder der 'Rat der Tiere' (Kat.-Nr. 34), unter dem Gattungsbegriff Historie deplatziert wirken. Die Rubrik Grafik hingegen wird allein von Werken des Letztgenannten bestritten, ein Monopol, das die Frage nach dem zeichnerischen Werk des Onkels und des Cousins geradezu heraufbeschwört. Johann Friedrich August Tischbein hat endlich in der Gattung Porträt einen späten, aber dafür glanzvollen Auftritt und die hier in unvermuteter Fülle aufgeführten Vergleichsbeispiele der englischen Bildnismalerei (Reynolds, Gainsborough, Romney) dienen vor allem der kunsthistorischen Einordnung seines Œuvres. Die genauere Bestimmung dieses Einflussverhältnisses bleibt indessen unklar. So legt die These, Johann Friedrich August Tischbein sei von Gainsboroughs Technik sichtbarer Farbschraffuren ("hatchings") beeinflusst worden (Kat.-Nr. 68), eine intime, historisch nur schwer zu rekonstruierende Kenntnis von dessen Werk nahe (Gainsborough hat England nie verlassen, Johann Friedrich August Tischbein hat es nie betreten). Soweit zu sehen, hat der als Porträtist viel beschäftigte 'Leipziger Tischbein' seinen Auftraggebern nirgendwo einen derart kühnen, leicht als 'unfertig' misszuverstehenden Farbduktus zugemutet.
Die irritierenden Wirkungen dieser summarischen Kontextbildung potenzierten sich in der Ausstellung (nur jene in Leipzig hat der Rezensent gesehen). Für den interessierten, aber keineswegs einschlägig spezialisierten Besucher dürfte es nahezu unmöglich gewesen sein, die Vergleichswerke in einen sinnvollen Bezug zu einem der drei Tischbeins zu bringen. Zusätzliche Verwirrung musste der Umstand stiften, dass im Widerspruch zur Titelgebung von Ausstellung und Katalog der Vergleichszeitraum sehr weit gefasst worden ist: Das früheste Werk, ein Bildnis von Nicolas de Largillière, entstand "um 1700" (Kat.-Nr. 41), womit dann plötzlich das gesamte 18. Jahrhundert überblickt sein wollte.
Um einen schärfer fokussierten thematischen Schwerpunkt zu finden, hätte man nur das sich geradezu aufdrängende Rahmenthema der Künstlerfamilie konsequenter behandeln müssen. Über drei Generationen wurden die Tischbeins nicht müde, die Vereinbarkeit von Kunst und Familie bildlich zu propagieren. Auf diese Weise entstand eine Ikonografie der Integration, die jedes Familienmitglied in Doppel- und Dreifachrollen vorführt: die Gattin als Mutter und Muse, den Gatten als Vater und Virtuose, den Bruder als Freund und Vollender des geschwisterlichen Doppelporträts. So deutlich sich die wachsende Selbstbezüglichkeit dieses künstlerischen Familiensinns abzeichnet, der spätestens bei Johann Friedrich August Tischbein semi-sakral überhöht worden ist, so nachdrücklich hätte sich eine kritische Analyse seiner ideologischen und geschlechtsspezifischen Prämissen empfohlen. Stattdessen wird in tautologischer Redundanz die manifeste Bildaussage ("Vorstellung familiärer Harmonie", "Zusammenklang aller Mitglieder", 53) abermals konstatiert.
Man muss schon bis Kat.-Nr. 55 vorrücken, um einen handfesten Beleg für den hochgradig konstruierten Charakter dieser Familien-Idyllen zu erhalten. Hier ist über das 1796 entstandene Familienbildnis Johann Friedrich August Tischbeins zu lesen, dass die jüngste Tochter des Malers, Elisabeth, das Gemälde später nicht nur radikal beschneiden ließ. Auch verlangte sie die Übermalung des versonnen aus dem Hintergrund blickenden Vaters (erst eine neuere Restaurierung brachte ihn wieder zum Vorschein). Als "ein sehr heftiger, jähzorniger Mann" habe er bei der inzwischen erwachsen gewordenen Tochter "Jugenderinnerungen" wachgerufen, "die ihr nicht angenehm waren" (so Elisabeth Tischbeins Tochter Emma, 178). Eine ikonoklastische Geste, die zu der von dem Maler-Vater beschworenen familiären Harmonie in keinem größeren Gegensatz stehen könnte.
Überhaupt: die Töchter der Tischbeins. Sanft und engelsgleich erscheinen sie in den Bildern ihrer Väter als anschmiegsame, inspirierende Wesen. Dabei waren sie auch Künstlerinnen, die sich als auf dem Felde der Zeichnung, der Blumen- und Miniaturmalerei, zum Teil mit kunstakademischen Weihen, betätigt haben. Hinzu kamen Malerinnen, die in die Tischbein-Sippe eingeheiratet haben, wie die Hamburgerin Magdalena Gertrud Lilly. Das künstlerische Werk der weiblichen Tischbeins wird kursorisch erwähnt (27), für katalogwürdig wurde es nicht befunden. Kenntnisse über ihr Schaffen zu vermitteln, wäre fraglos dringlicher gewesen als abermals Arbeiten von Angelika Kauffmann und Elisabeth Vigée-Lebrun zu besprechen, über die man sich andernorts längst ausführlicher informieren kann.
So bleibt der "Stammbaum der Familie Tischbein" in gewisser Hinsicht eines der interessantesten Dokumente des Katalogs (224, 225). Hier nehmen auch diejenigen Mitglieder der Tischbein-Sippe einen genealogischen Platz ein, die von der kunsthistorischen Kanonbildung bisher übergangen worden sind. Die Stammtafel hätte der Masterplan für ein innovatives Ausstellungsprojekt werden können, das sich in durchaus programmatischer Absicht auf die männlichen und weiblichen Künstler(innen) der Familie Tischbein und angeheiratete Maler(innen) und Baumeister hätte beschränken dürfen. Wolfgang Kemp spricht in seinem Katalogbeitrag davon, dass "bisher vielleicht die größten Chancen vertan worden" sind, den Typus der Künstlerfamilie als überregionales Netzwerk, als generationen- und geschlechterübergreifende Solidar-, Inspirations- und Berufsgemeinschaft historisch genauer zu profilieren (11). Das Kasseler und Leipziger Ausstellungsprojekt hätte ein gewichtiger Baustein für diese noch zu schreibende Geschichte der Künstlerfamilie als eine Organisationsform neuzeitlicher und frühmoderner Kunstproduktion werden können, der in vergleichender europäischer Perspektive etwa die französisch-niederländische Malerdynastie Vanloo gegenüberzustellen wäre. Tatsächlich schreiben Ausstellung und Katalog nur ein hinreichend bekanntes patrilineares Prominenzprinzip fort, anstatt zu seiner Überwindung beizutragen. Sie reihen sich damit in die von Wolfgang Kemp beschworenen Chancen ein, die vertan worden sind.
Joachim Rees