Rezension über:

Museumslandschaft Hessen Kassel / Michael Eissenhauer (Hgg.): König Lustik. Jérôme Bonaparte und der Modellstaat Königreich Westphalen, München: Hirmer 2008, 568 S., 43 Farb-, 5 s/w-Taf., 655 Farb-, 81 s/w-Abb., ISBN 978-3-7774-3955-6, EUR 45,00
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Rezension von:
Ingeborg Schnelling-Reinicke
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Ingeborg Schnelling-Reinicke: Rezension von: Museumslandschaft Hessen Kassel / Michael Eissenhauer (Hgg.): König Lustik. Jérôme Bonaparte und der Modellstaat Königreich Westphalen, München: Hirmer 2008, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 10 [15.10.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/10/14344.html


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König Lustik

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Enfin! Zweihundert Jahre hat es gedauert, bis eine große, überregionale Ausstellung den westphälischen Modellstaat würdigte. Lange nämlich war die Preußen-zentrierte Historiographie von den negativen Reaktionen auf König Jérôme geprägt, die sich unmittelbar nach dem Ende des Königreichs im Jahr 1813 Luft machten. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein standen die wenigen Jahre, die das Königreich überhaupt existierte, unter dem Verdikt der "Fremdherrschaft". Erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts änderte sich dieses Bild, denn nun wurden die Aspekte der Reform und sogar deren Einflüsse auf die ungleich berühmteren Preußischen Reformen diskutiert und der ambivalente Charakter des Kunststaates Westphalen als Modell und als Satellit herausgearbeitet.

Insofern erscheint es folgerichtig, dass an die Gründung des Königreichs Westphalen im Jahr 1807 zweihundert Jahre später in verschiedenen Publikationen und Veranstaltungen erinnert wurde. Unter diesen Ereignissen nahm die Kasseler Ausstellung - schon was deren Größe und Publikumswirksamkeit angehen - sicherlich einen besonderen Platz ein. So widmeten namhafte Tages- und Wochenzeitungen ihr zum Teil ganzseitige Artikel und über 57.000 Besucherinnen und Besucher haben sie sich in Kassel angesehen. [1]

Die gesamte Ausstellungskonzeption (und damit auch die des begleitenden Katalogs) ist am Thema der napoleonischen Kunstpolitik und dem des Kunstraubs orientiert. Die alte kurhessische Residenzstadt Kassel litt sehr unter dem Abtransport von Antiken, Gemälden und anderen Kunstgegenständen. Insbesondere schmerzte der Verlust des berühmten Tageszeitenzyklus von Claude Lorrain. Dass ausgerechnet diese Prunkstücke der alten Kasseler Gemäldegalerie, die von Kurfürst Wilhelm gemeinsam mit einigen anderen bedeutenden Stücken zum Schutz vor dem Zugriff feindlicher Truppen eigens in der Sababurg eingemauert, aber dort doch schon bald aufgespürt worden waren, im Jahr 1815 nicht nach Hessen zurückkehrten, sondern nach Russland verkauft wurden, war für den wieder eingesetzten Kurfürsten ein herber Schlag, und im Jahr 1827 ließ sein Nachfolger Wilhelm II. Ersatz durch seinen Hofmaler Martin von Rohden herstellen. Diese Episode und auch die Gegenüberstellung der beiden Zyklen nahmen in der Ausstellung einen eigenen Raum ein, und auch der Katalogband widmet sich ihr sehr ausführlich.

Insgesamt betonte die Ausstellung die Themen Kunst und Kunstpolitik im Vergleich zu den allgemein historischen Themen. Der Ausstellungsaufbau spiegelt sich natürlich im Katalog wider.

Er zerfällt in zwei Teile: Im ersten sind 22 kurze Aufsätze zu den vier Gliederungspunkten "Voraussetzungen", "Kunst und Kultur", "Staat und Gesellschaft" und "Nachleben" zusammengestellt, wobei jeder Teil mit einem übergreifenden Beitrag eröffnet wird, dem jeweils die Behandlung einzelner Aspekte folgt: (1) "Grundlinien der napoleonischen Deutschlandpolitik" (Thierry Lentz), (2) "Die Erfindung des style empire" (Hans Ottomeyer), (3) "Imperiale Herrschaft, politische Reform und gesellschaftlicher Wandel" (Helmut Berding) und (4) "Die Restauration in Kurhessen und der Umgang mit den Reformen des Königreichs Westphalen" (Winfried Speitkamp).

Den Leitbeiträgen folgen jeweils ein bis sieben Artikel. So werden unter "Voraussetzungen" und "Kunst und Kultur" die folgenden Themen behandelt: Napoleonische Kunstpolitik und Kunstraub, Portrait-Aufträge Jérômes und Darstellung des Königs in Historiengemälden, ephemere Festarchitektur und Bauwesen, Tafelkultur, Musik / Theater und Mode. Zu "Staat und Gesellschaft" und "Nachleben" zählen die Aspekte Parlament, Militär, Säkularisierung der Gesellschaft, Jüdische Reformpolitik, Naturwissenschaftliche Bildung, Sprachpolitik, Politischer Wandel und Traditionsbildung sowie die Erinnerung an das Königreich Westphalen und seinen Herrscher in Deutschland ab dem Ende des Königreichs bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

Jeder dieser Einzelbeiträge ist - zumal es sich bei den Autorinnen und Autoren fast ausnahmslos um Expertinnen und Experten handelt, die auf zum Teil langjährige Forschungen zu den verschiedensten Aspekten der Geschichte des Königreichs Westphalen verweisen können - ein abgerundeter, in der Regel quellengesättigter Blick auf das jeweilige Thema beziehungsweise das Themensegment. Und doch vermisst man - konkret im Kapitel "Staat und Gesellschaft" - Themen, etwa zur Wirtschaft und der Aufhebung der Zünfte oder auch zur Justizverfassung, die durchaus eigene Beiträge verdient hätten. Auch die historiographisch ausgerichtete Frage, warum es bisher zu keiner - mit Recht vermissten - Gesamtdarstellung des Königreichs Westphalen gekommen ist oder kommen konnte, wäre ein lohnendes Thema gewesen.

Sicherlich kann ein Aufsatzteil eines Ausstellungskatalogs keine umfassende Darstellung einer Epoche ersetzen; allerdings erheben die Herausgeber und Ausstellungsverantwortlichen eben diesen Anspruch (22).

Der zweite, der eigentliche Katalogteil präsentiert die Exponatbeschreibungen (zumeist mit Abbildungen) der Gliederung der Ausstellung folgend unter den Stichworten "Der Palast der Stände", "Der Triumph der Trikolore", "Der Kunstraub", "Der König", "Leitbilder", "Der Modellstaat", "Ende und Erinnerung". Unter den ungefähr 500 Exponaten, darunter auch viele Leihgaben aus kleinen Archiven, Bibliotheken und Museen, ziehen die zu den Kapiteln "Kunstraub" und "König" ihrer Vielfalt und auch durchaus ihrer Pracht wegen die größte Aufmerksamkeit auf sich.

Der Anhang des Bandes enthält neben den üblicherweise zu erwartenden Verzeichnissen auch einen Abdruck des Briefs Napoleons an seinen jüngsten Bruder Jérôme zur Verfassung des Königreichs Westphalen sowie eine mit 35 Seiten Vollständigkeit suggerierende Bibliographie und eine Objektliste der parallel auf Schloss Wilhelmshöhe veranstalteten Ausstellung "Weißes Gold für 'König Lustik'". Besonders hinzuweisen ist aber auf die ebenfalls im Anhang enthaltenen Karten, die das Königreich in seinen verschiedenen Ausdehnungen zeigen (1807-1810, 1810, 1810-1813); eine weitere Karte fügt das Königreich Westphalen in seiner größten Ausdehnung in eine Karte der heutigen Bundesrepublik Deutschland ein und gewährt auf diese Weise einen sehr guten Eindruck von der Größe und der geographischen Lage des in der heutigen historisch interessierten Öffentlichkeit weiterhin kaum bekannten Staates.

Eben dies zu ändern war auch der Sinn der Ausstellung und des Katalogs. Die eingangs erwähnte Publizität, die die Ausstellung erreichte, spricht dafür, dass dies durchaus gelungen ist. In der Tat kommt der Ausstellung das Verdienst zu, das Thema über mehrere Monate hinweg in der Öffentlichkeit präsent gehalten zu haben.

Wirklich schade aber ist die Wahl des Haupttitels der Ausstellung: Obwohl nahezu alle Autorinnen und Autoren - bis hin zu einem eigenen Beitrag über die Sprachpolitik - sich erfolgreich darum bemühen, das daraus entstandene Missverständnis zu klären, greift der Titel den berühmt-berüchtigten Spottnamen des Königs auf und stellt ihn in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Wenn auch die Kombination mit Ausrufe- und Fragezeichen gewiss eine Distanz andeuten soll, werden mit der Titelwahl in erster Linie die alten Vorurteile bedient. Dem Katalog sind daher nicht nur Betrachter, sondern vor allem Leserinnen und Leser der Beiträge zu wünschen.


Anmerkung:

[1] Siehe die Pressemitteilung vom 30. Juni 2008 auf der Homepage der Museumslandschaft Hessen Kassel: http://www.museum-kassel.de/index_navi.php?parent=1167 [letzter Besuch 1.9.2008].

Ingeborg Schnelling-Reinicke