Bernhard Chiari (Hg.): Afghanistan (= Wegweiser zur Geschichte), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, 216 S., ISBN 978-3-506-75664-0, EUR 12,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Gisela Schwarze (Hg.): Die Sprache der Opfer. Briefzeugnisse aus Rußland und der Ukraine zur Zwangsarbeit als Quelle der Geschichtsschreibung, Essen: Klartext 2005
Harald Stadler / Martin Kofler / Karl C. Berger: Flucht in die Hoffnungslosigkeit. Die Kosaken in Osttirol, Innsbruck: StudienVerlag 2005
Peter Jahn (Hg.): Triumph und Trauma. Sowjetische und postsowjetische Erinnerungen an den Krieg 1941-1945, Berlin: Ch. Links Verlag 2005
Bernhard Chiari / Conrad Schetter (Hgg.): Pakistan, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010
Bernhard Chiari / Matthias Rogg / Wolfgang Schmidt (Hgg.): Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts, München: Oldenbourg 2003
Bernhard Chiari (Hg.): Die polnische Heimatarmee. Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg, München: Oldenbourg 2003
Es ist eine Binsenweisheit, dass Kriege die Gesellschaften der beteiligten Länder wesentlich verändern. Die bundesdeutsche Öffentlichkeit musste diese Erfahrung nicht machen und wird sich ihr auch in absehbarer Zeit nicht in letzter Konsequenz stellen müssen. Deutsche Soldaten allerdings sind längst wieder in internationalem Einsatz, und das mit deutlich zunehmender Tendenz. Die Integration dieser Art von Außenpolitik in Selbstwahrnehmung und Leben der Bundesrepublik ist ein Prozess, der höchst unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft tangiert und mit prägen wird: Mit Berichten über "Feldpost"-Sendungen nach Afghanistan, mit Diskussionen über die gesetzliche Absicherung "ewiger" Kriegsgräber für gefallene Bundeswehrsoldaten oder über den Umgang mit Ex-Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen haben in den letzten Monaten bislang unbekannte Themen Einzug in deutsche Amtsstuben und Medien gehalten. [1]
Auch das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Potsdam sieht sich vor neue Aufgaben gestellt: Der hier vorgestellte Wegweiser zur Geschichte Afghanistans ist der zweite Band einer Reihe, die seit 2005 "über den historischen und kulturellen Hintergrund von Krisengebieten informieren" soll, "in denen deutsche Soldaten im Einsatz stehen". Dabei wendet sich der Band nicht nur an die "Einsatzarmee", sondern auch an "zivile Leserinnen und Leser" (9).
Es sei nur am Rande erwähnt, dass der zivile Leser hier auch Interessantes über Organisationsstrukturen und Aufgabenverständnis von MGFA und Bundeswehr erfährt. So gibt es ebenfalls seit 2005 einen "Wissenschaftlichen Beirat Einsatzunterstützung", und das ganz im Westen der Republik gelegene Verteidigungsbezirkskommando 46 in Saarlouis fungierte als Experte für die Vorab-Evaluierung des Buchs. Für Konzeption und Herausgabe schließlich zeichnet ein "Modul Einsatzunterstützung" im MGFA verantwortlich. Betriebswirtschaftliche Organisationslehren haben offenbar Universitäten und militärgeschichtliche Forschungsstätten gleichermaßen erreicht, und der Leser hält auch kein Buch mehr in Händen, sondern ein "Produkt" (9).
Die Vermittlung von Kenntnissen über Kultur und Geschichte soll, so der Herausgeber, helfen, "aktuelle Entwicklungen besser zu verstehen und einzuordnen" (11). Auch wenn das handliche Format, zahlreiche Fotografien und eine Aufstellung von "Erinnerungsorten", die arg an touristische "Highlight"-Listen erinnert, unweigerlich an einen Reiseführer denken lassen: Der vorliegende Band will kein Taschen-Polyglott für Soldaten sein, und er ist es auch Gott sei Dank nicht geworden. Stattdessen liefert ein erster Teil in zehn kurzen Beiträgen wesentliche Grundinformationen über die historische Entwicklung Afghanistans. Der Schwerpunkt liegt sachgerecht auf dem 20. Jahrhundert, in dem der frühere Pufferstaat zwischen England und Russland zunächst gegen Großbritannien, dann in Abgrenzung gegen die UdSSR ein recht enges Verhältnis zu Deutschland entwickelte. Ein sehr spezifischer Beitrag zur Sicherheitslage in Afghanistan (Stand Januar 2006) erinnert den Leser nachdrücklich an die besondere Zielgruppe des Bandes. Grundsätzlich wirft der Beitrag die Frage auf, inwieweit die etwa in Forschungen zum Zweiten Weltkrieg thematisierten soldatischen Reiseerlebnisse nicht eher Verdrängungsmechanismen bzw. Beruhigungsformeln der Truppe widerspiegeln als ihre unbedarfte Abenteuerlust.
Ein zweiter Abschnitt widmet sich, wiederum in zehn knappen Skizzen ziviler und militärischer Autoren, Strukturen und Lebenswelt des Landes. Der instruktive Beitrag von Lutz Rzehak zur mündlichen Tradierung von Geschichte stellt dabei eine geglückte Klammer der beiden Teile dar. Er verdeutlicht das Beharrungsvermögen hergebrachter, durchaus gewaltgesättigter Traditionen. Dass die nach Paschtunen zweitgrößte Bevölkerungsgruppe in Afghanistan, die Tadschiken, ihre goldene Ära in der Zeit vor der Islamisierung sieht, verweist auf die gesellschaftlichen und politischen Bruchlinien in einem Land, in dem eben nicht nur islamische, sondern auch Stammeskulturen eine wesentliche Rolle spielen. Diese Gemengelage erklärt auf der anderen Seite auch, warum der Begriff "Mudschahed" im heutigen afghanischen Sprachgebrauch vielfach nicht mehr mit "Gotteskrieger", sondern mit "Räuber" und "Wegelagerer" gleichgesetzt werden kann (137). Die Taliban-Spielart des Islam hat in der Bevölkerung offenbar keinen dauerhaften Anklang gefunden.
Dagegen setzten den Ausführungen von Christine Nölle-Karimi zufolge viele Afghanen große Hoffnungen auf die 2001 wieder belebte Loya Dschirga ("Große Versammlung"). Innenpolitische Assoziationen beschworen ein positiv besetztes Bild demokratischer Veränderungen herauf, wie sie ab 1964 unter Sahir Schah begonnen hatten. Diese Reaktion nimmt letztlich auch einer kruden Ablehnung demokratischer Werte als "westliches Diktat" die Glaubwürdigkeit. In der Realität litten die neuen Versammlungen allerdings unter fehlenden Freiheiten der Wähler. Die Beratungsergebnisse selbst spiegelten zudem aus afghanischer Perspektive zu sehr die Interessen der UNO und der Vereinigten Staaten wider. Diese gebrochene Wahrnehmung wirft ein Schlaglicht auf die Probleme internationaler Befriedungs- und Aufbaustrategien, derer das Land doch so dringend bedarf: Schätzungen gehen etwa von rund 1800 illegalen bewaffneten Gruppen aus, in denen bis zu 130.000 Kämpfer vereinigt sind (95). Wirtschaftlich liegt Afghanistan mit einem Bruttoinlandsprodukt von 349 $ pro Kopf praktisch brach. Zudem werden weit über 30 Prozent des Bruttosozialprodukts in der Opium-Industrie erwirtschaftet, obwohl Staat wie Religion dessen Produktion verbieten.
Die Beiträge bieten ein knappes und damit notwendigerweise mitunter geglättetes Bild afghanischer Entwicklungen; hinsichtlich der früheren Stärke der sowjetischen Truppen im Lande hätte man sich natürlich eine eindeutige Angabe gewünscht (58, 65). Gerade der zweite Abschnitt des Buches bemüht sich in bester post-kolonialistischer Weise darum, eine unbekannte Kultur nicht stur nach europäischen Maßstäben zu messen; trotzdem mag der Band nicht ganz auf die romantisierende Variante des Eurozentrismus verzichten (21, 119). Gerade in dem Minenfeld interkultureller Studien und Dialoge wird es indes auch nicht reichen, eine "europäische" Perspektive einfach unkritisch durch eine nicht-europäische Perspektive zu ersetzen - wenn sich bestimmte Fragestellungen denn überhaupt mit diesen Schemata erfassen lassen. Ob sich der "westliche Lebensstil" in Alkohol, Partys und "freizügiger Kleidung" erschöpft (166), scheint doch fraglich, und die Feststellung, dass die Burka "auch praktische Seiten" habe, da die Frauen sich "darunter kleiden [...], wie es ihnen gefällt, und sich sogar schminken" könnten, erscheint als unfreiwillige Satire (164 f.). Ähnlich problematisch wird es, wenn wertdurchtränkte Begriffe unreflektiert benutzt werden (116, 163). Schließlich wird man sich auch fragen dürfen, welchen Interessen mit der Ablehnung umfassender Reformen im Afghanistan der 1920er-Jahre gedient war. Glaubensreinheit und Privilegienschutz waren offenbar auch hier kaum voneinander zu trennen.
Trotz dieser Kritikpunkte erweist sich der Wegweiser als informative Einführung in Geschichte und Kultur eines Landes, das von inneren Zwistigkeiten, Besatzung, Bürgerkrieg und Terror zerrissen ist. Dazu tragen auch die vergleichsweise umfassenden Literaturhinweise bei. Das klarere Bild, das sich aus der Lektüre ergibt, akzentuiert zugleich deutlich die vorhandenen Distanzen zwischen Leser und "Einsatzgebiet".
Anmerkung:
[1] Vgl. die eindringliche Reportage von Henning Sussebach: Schulz zieht in den Krieg, in: Die Zeit Nr. 45 vom 2.11.2006, 17-20; Liane von Billerbeck: Grabstätte auf Zeit, in: Die Zeit, Nr. 47 vom 16.11.2006, 13.
Andreas Hilger