Rezension über:

Barbara Orland (Hg.): Artifizielle Körper - Lebendige Technik. Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive (= Interferenzen. Studien zur Kulturgeschichte der Technik; 8), Zürich: Chronos Verlag 2005, 286 S., ISBN 978-3-0340-0690-3, EUR 24,80
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Rezension von:
Monika Dommann
Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Martina Heßler
Empfohlene Zitierweise:
Monika Dommann: Rezension von: Barbara Orland (Hg.): Artifizielle Körper - Lebendige Technik. Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive, Zürich: Chronos Verlag 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 1 [15.01.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/01/8963.html


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Barbara Orland (Hg.): Artifizielle Körper - Lebendige Technik

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Wenn Bruno Latour mit seiner Behauptung Recht hat, dann hat es nie eine moderne Welt gegeben, weil das Projekt, Natur und Kultur als zwei ontologisch getrennte Zonen zu denken, beständig Mischwesen zwischen Natur und Kultur in die Welt gesetzt hat. [1] Der anzukündigende Sammelband setzt genau an dieser Aporie, bzw. beim Reden über das Auftreten von Hybridwesen an, das ja Vorstellungen von den beiden Polen, die sich da vermischen sollen, voraussetzt, wie die Herausgeberin Barbara Orland einleitend festhält (10). Etwa zeitgleich mit einer neuen Aufmerksamkeit für die Laborwissenschaften seit Mitte der 1980er-Jahre, rückte der biotechnisch modellierte Körper in den Fokus der Kulturanalyse. Wenngleich die dem Sammelband zu Grunde liegende These der beständigen Re-Konfigurierung des modernen Körpers also nicht neu ist und sich in eine weiter wachsende Fülle von Publikationen zur Thematik einreiht, lohnt sich die Lektüre der kompakten Fallstudien trotz des Gesetzes eines abnehmenden Grenznutzens, weil sie knapp, theoretisch informiert und empirisch fundiert Ur- und Schlüsselszenen der komplexen Technik-Körper Beziehung beleuchten.

Quer durch die versammelten Aufsätze zieht sich die Programmatik, Geschichte im Dienst des Gegenwartsverständnisses zu betreiben. Die Verortung aktueller Debatten in der langen Dauer seit dem 18. Jahrhundert lässt aktuelle biotechnische Visionen weit weniger revolutionär und historisch weitaus belasteter erscheinen, als das deren Promotoren vielleicht lieb ist. Das 18. Jahrhundert figuriert in einigen Texten als Referenzpunkt. Jakob Tanner sieht in Julien Offray de la Mettries "L'homme machine" frappante Parallelitäten zur modernen Neurologie. Auch Jessica Riskin ortet Parallelitäten zwischen den atmenden, seufzenden, verdauenden und sprechenden Automaten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der Vision biokybernetischer Software. Den Musik spielenden Androiden des 18. Jahrhunderts kommt beträchtliche Aufmerksamkeit zu, weil sie Rührung zu verraten scheinen. Interessant ist dabei die Querverbindung zu musiktheoretischen Texten, in denen Musiker angehalten werden, ihre Bewegungen wie Automaten einzusetzen, um beim Publikum Affekte zu erzeugen, wie Adelheid Voskuhl darlegt. Die Entwicklung läuft gemäß Riskin keineswegs linear von den Automaten des 18. Jahrhunderts auf die Cyborgs des 20. Jahrhunderts zu: Der Phase des simulierfreudigen 18. Jahrhunderts, die auf einer Konvergenz des Maschinellen und Lebendigen beruht, folgt im 19. Jahrhundert eine Phase der Skepsis gegenüber der Machbarkeit der mechanischen Simulation von Lebensprozessen, die sich auch in der Literatur des 19. Jahrhunderts widerspiegelt. Mary Shelley denkt sich im Jahre 1818 mit Frankenstein ein Mischwesen zwischen Mensch und Maschine aus, das sich in guter Gesellschaft mit Hybriden aus der Feder von E.T.A. Hoffmann oder Johann Wolfgang Goethe befindet, wobei die Mischwesen zu Monstren der menschlichen Selbstüberschätzung stilisiert werden.

Es zeigt sich in verschiedenen Fallstudien, dass Experimentierpraktiken zu technischen Überformungen des Körpers untrennbar einhergehen mit Extrapolierungen in die Zukunft, sowohl in Gestalt von Horrorvisionen als auch euphorischer Heilsszenarien. Christina Benninghaus verfolgt die Debatten um die künstliche Befruchtung um 1900 in Deutschland und stellt fest, dass die Insemination außerhalb der traditionellen Bahnen des Geschlechtsverkehrs bis nach dem 1. Weltkrieg ein marginales Verfahren bleibt. Diesem Befund steht allerdings eine immense Textproduktion zur Thematik gegenüber, in der neben der negativ konnotierten Vision von "Menschenzüchtung" im Kontext demografischer und kultureller Krisendiskurse auch Heilszenarien aufscheinen. Auch die Forschungsprogramme zur Implantierung künstlicher Herzen seit den 1960er-Jahren entwickeln sich vor dem Hintergrund einer beständigen Debatte über einen zukünftigen Nutzen bzw. eine potenzielle Verbesserung der Lebensqualität, an der Mediziner, Patientenorganisationen und Forschungspolitiker gleichermaßen partizipieren, wie Shelley McKellar aufzeigt. Zu ähnlichen Resultaten kommt auch Markus Christen in seiner Fallstudie zur Geschichte der Neuroimplantaten für die Behebung von Funktionsstörungen des Gehörsinns.

Die Lücke, die sich dabei zwischen den Antipoden Horrorvision und Heilszenarien auftut, soll in jüngster Zeit durch Bioethik geschlossen werden. Deshalb sind die in den Fallstudien erzählten Geschichten der Hybridwesen zwischen Technik und Körper eigentlich auch eine Geschichte des Aufstiegs der Bioethik. Eine wichtige Funktion von Technikvisionen liegt in der Bündelung von Forschungsoptionen wie Carmen Baumeler in ihrer kleinen Geschichte des Wearable-Computing seit den 1990er-Jahren betont: Auch wenn die Kleinstcomputer, die direkt am Körper getragen werden sollen, weiterhin mehr Visionen denn Realisationen sind, vermögen sie ein loses Netz von Forschern mit Vertretern der Elektroindustrie, der Modeindustrie und des Militärs, die gleich zu Beginn der 1990er-Jahre aktiv in die Finanzierung und Entwicklung involviert sind, zu verbinden.

Die Bedeutung des Militärs und des Krieges als produktiver Faktor in der Mensch-Maschinen-Verbindung ist ein weiterer Befund der Querlektüre. Die Prothesen stehen dabei in der Tradition des "gelehrigen Körpers" [2], der durch Drill, Disziplin und Rehabilitationstechnik fügsam gemacht wird. Der Erste Weltkrieg stellt einen Paradigmenwechsel dar, wie Heather R. Perry ausführt: In der Kriegsökonomie der totalen Mobilmachung steht nicht mehr die kosmetische Nachbildung und Simulation des Körpers im Zentrum, sondern dessen bloße Funktion als Arbeitsinstrument. Die Ursprünge der Sehprothesenforschung im Kontext der Endphase des 2. Weltkrieges in Deutschland beleuchtet Cornelius Borck. Dabei kommen verschiedene Prinzipien zum Einsatz: Der Versuch, biologische Bestandteile an einen technischen Apparat anzuschließen, gipfelt in Experimenten mit Retinaimplantaten, die Idee, auf Basis physiologischer Prinzipien Apparate zu bauen, in die Entwicklung eines photoelektrischen Sensors.

Dass "Natur" und "Kultur" eine kulturelle Unterscheidung darstellen, die deshalb auch veränderbar ist, zeigt sich deutlich in der Intensivmedizin, mit der sich Silke Bellanger und Aline Steinbrecher beschäftigen. Die in den 1960er-Jahren neu geschaffenen, "künstlich" beatmeten Mensch-Maschinen Hybride evozieren die Frage nach der Unterscheidung von Leben und Tod neu. Interessant ist dabei, dass auf eine Phase der Grenzziehung auf Basis der Visualisierungstechnologie EEG in den 1960er-Jahren, in den 1980er-Jahren eine Wende zum Apnoetest erfolgte, der durch Entkoppelung von Mensch und Maschine das "natürliche" Sterben wieder einführt.

Wie sich die neuen Selbsttechnologien der hoch individualisierten Gegenwart wie Schönheitschirurgie und Wellness, die von Sabine Maasen und Stefanie Duttweiler analysiert werden, in die lange Geschichte der Produktion von Hybridkörpern einordnen, bleibt offen. Maasen tendiert in Bezug auf die Schönheitschirurgie auf die Betonung eines Bruchs, weil sie zugleich Techniken der Freiheit und Techniken der subtilen sozialen Unterwerfung darstellten. Duttweiler sieht demgegenüber die Wurzeln von Wellness in der Modernisierungskrise Ende des 19. Jahrhunderts.

Zum Schluss stellt sich die Frage, was mit dem Befund anzufangen ist, dass sich die Natur-Kultur-Dichotomie seit zweihundert Jahren beständig neu auflöst, wie in den Studien plausibel zum Ausdruck gebracht wird. Was folgt auf die Einsicht, dass wir nie modern gewesen sind? Welche Anschlussfragen stellen sich dann? Dass der Sammelband darauf keine Antworten liefert, soll keinen Vorwurf zum Ausdruck bringen, sondern spiegelt vielmehr die gegenwärtige Ratlosigkeit der Kulturanalyse.


Anmerkungen:

[1] Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995 (Paris 1991).

[2] Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1991 (Paris 1975), 177.

Monika Dommann