Michael Borgolte / Cosimo Damiano Fonseca / Hubert Houben (Hgg.): Memoria. Erinnern und Vergessen in der Kultur des Mittelalters (= Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient; Bd. 15), Berlin: Duncker & Humblot 2005, 405 S., ISBN 978-3-428-11852-6, EUR 26,00
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Es liegt in der Natur der Sache, dass über das Erinnern mehr zu sagen ist als über das Vergessen, auch wenn letzteres den Alltag mehr belastet. So ist es auch bei diesem Band, der die Vorträge vereint, die 2002 in Trient gehalten wurden. Nach der Lektüre der 17 Beiträge ist man beeindruckt, wieviel Mühe sich die Menschen gaben, um nicht dem Vergessen anheimzufallen. Man scheute kaum Kosten, um die Erinnerung wachzuhalten. Der Appell an Zeitgenossen und Nachgeborene geschah im liturgischen Gebet oder in dem zum Denkmal stilisierten Grab, um nur zwei Formen zu nennen. Doch weil der Titel dieses Sammelbandes Erinnern und Vergessen gleichrangig nebeneinander stellt, hätte ich mehr als nur gelegentliche Halbsätze zum Thema Vergessen erwartet. Die Herausgeber haben sogar das absichtliche Vergessen vergessen, obwohl die Damnatio memoriae als die brutalste Form des Vergessens in den Quellen durchaus Spuren hinterließ.
Woran erinnert man sich nach der Lektüre dieses Bandes? Zunächst an Beiträge über konkrete Grablegen. Houben Hubert erklärt, weshalb und wann die süditalienischen Altavilla ihre Grablege von Venosa in Apulien nach Monreale auf Sizilien verlegten.
Tanja Michalsky vergleicht neapolitanische Adelsgräber des späteren 15. Jahrhunderts in San Domenico Maggiore miteinander. Wegen des beschränkten Platzes in der Kirche behinderten neue Gräber den Erhalt der alten und damit auch die Memoria an deren Stifter. Um dieses Dilemma zu lösen, verlegte man Grabmäler an weniger prominente Stellen in der Kirche. Starb eine Familie aus und erlosch damit das Interesse an ihrem Gedächtnis, kam es vor, dass man ihre Grabstätte zerstörte und durch eine andere ersetzte. Andere Grabmäler wurden recycelt, wovon teilweise erhaltene Zierelemente zeugen. So gestaltete einer das Grabmal eines 250 Jahre zuvor verstorbenen Verwandten für sich barock um und sparte viel Geld. Eine andere Familie widmete das Grabmal eines 100 Jahre vorher Verstorbenen um, indem sie Wappen und Inschrift ersetzte.
Benjamin Scheller geht dem Schicksal der Fugger-Gräber in St. Anna und bei den Dominikanern nach. In St. Anna hätten eigentlich die Nachkommen des agnatisch definierten Geschlechts der Brüder Ulrich, Georg und Jakob Fugger beigesetzt werden sollen, während die Stiftung bei den Dominikanern für die kognatische Deszendenz bestimmt war. Doch die Reformation von 1525 verhinderte die völlige Umsetzung des Stifterwillens und hinterließ ein unvollendetes Grabmal. Nachdem der katholische Ritus bei den Predigern wieder eingeführt war, wurde das Fugger-Gedächtnis 1555 dorthin überführt.
Mehrere Beiträge befassen sich mit dem Totengedächtnis in Italien. Ausgehend von der Frage, weshalb im 8./9. Jahrhundert Verbrüderungsbücher im Frankenreich und in England weit verbreitet, in Oberitalien aber selten waren, kommt Uwe Ludwig anhand der Liste aus Nonantola, die in St. Gallen und auf der Reichenau kopiert wurde, zu dem Schluss, dass die Klöster Oberitaliens solche Listen geführt, sie aber nur als lose Blätter aufbewahrt hätten, weshalb sie in später verloren gegangen seien.
Giancarlo Andenna betont den Unterschied zwischen Nekrolog und Obituar, das kein liturgisches Buch, sondern Verwaltungsschriftgut sei. Der Eintrag in den Kalender, d.h. in die Liste der Heiligen und Märtyrer, sei geschehen, damit man die Verstorbenen im Liber Vita der Apokalypse auffinde und sie nicht der ewigen Verdammnis anheim fielen. Während sich anfänglich nur Mönche hätten eintragen lassen, hätten dies später auch Weltgeistliche getan. Seit der Pest von 1350 ließen sich sogar Laien ins Martyrologium eintragen, das so die Lebenden und Toten einer Gemeinde miteinander verband.
Francesco Panarelli wertet das zwischen 1153 und 1185 angelegte und bis ins 14. Jahrhundert weitergeführte Nekrolog von San Zeno in Pisa aus, das mehr als 9000 Verstorbene umfasste. Obwohl viele Einträge nur aus Vornamen bestünden, was ihre Identifizierung verunmögliche, träten Bezüge zur Familie der Visconti deutlich zum Vorschein, etwa in der Tatsache, dass viele Gedächtnisse das sardische Kloster Bonarcado beträfen.
Cristina Andenna entdeckte in einer liturgischen Handschrift, die der Kanonikergemeinschaft von San Michele di Cameri gehörte, bevor sie an das Kloster San Pietro in Ciel d'Oro überging, ein Martyrologium Usuardi, an dessen Rand man 84 Totengedenken eintrug, die später zum Teil ausradiert wurden. Die ältesten Einträge stammen aus dem frühen 12. Jahrhundert, als ein Kreuzfahrer die Kirche gründete, die jüngsten aus dem 13. Jahrhundert. Mehrere Prioren und Kanoniker, aber auch 8 männliche und 8 weibliche Konversen wurden in das Buch eingetragen. Leider bleibt unklar, weshalb es nach dem Übergang von Kirche und Archiv an San Pietro zu den Rasuren kam. Auf eine detaillierte Beschreibung der Handschrift folgt die Edition des Nekrologs und weiterer Quellen.
Heinrich Dormeier untersucht das älteste der drei bekannten Nekrologien aus Vercelli, dessen Entstehungszeit er um die Mitte des 11. Jahrhunderts und damit fünfzig Jahre später als bisher ansetzt. Während die Bischöfe von Vercelli vom Ende des 10. bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts fast lückenlos genannt seien, finde sich von den fünf kaiserlichen Gegenbischöfen zwischen 1094 und 1121 nur der letzte, obwohl sich auch die anderen intensiv um die Kirchenreform gekümmert hätten. Daraus schließt er, dass man Gedenknotizen nicht vorschnell kirchenpolitisch interpretieren dürfe. Auffällig sei, dass einst der Eintrag des bloßen Namens zum betreffenden Todestag genügt habe. Gegen 1100 werde der Gegenstand der Schenkung immer wichtiger. Gleichzeitig habe man die persönlichen und wissenschaftlichen Vorzüge des Verstorbenen höher gewichtet und die Einträge zu biographischen Skizzen erweitert. Das um 1130 neuredigierte Gedenkbuch ist verloren. Der Vergleich mit dem um 1205 angelegten dritten Gedenkbuch ergab, dass damals ein Drittel der Namen des ersten Buches dem Vergessen anheimfiel.
Guido Cariboni analysiert ein Manuskript aus dem Besitz der 1123 gegründeten Abtei Santa Maria di Lucedio und konfrontiert seinen Befund mit dem zisterziensischen Totengedenken, das von einer Beschränkung des Gedenkens an Einzelne geprägt war. Dennoch finden sich im Kalender und Martyrolog viele das Totengedenken betreffende Marginalien aus dem 12. bis 14. Jahrhundert, die sich nicht nur auf die Markgrafen von Monferrato als Gründer der Abtei beziehen. Erstaunlicherweise fehlen aber viele Äbte des 13. Jahrhunderts. Dafür finden sich elf Konversen oder Wohltäter der Abtei, an deren Gedenktag den Mönchen ein Mahl gereicht wurde, weshalb man das Stiftungsgut notierte. Weitere 20 Namen trug man ein, als man ihre Träger in der Kirche oder im Kreuzgang begrub. Von 1230 bis 1300 notierte man 167 Personen, weil sie einen kleinen Betrag für das klösterliche Gebetsgedenken spendeten.
Thomas Frank verweist zunächst auf die vielen Berührungspunkte zwischen frühmittelalterlichen Gebetsverbrüderungen und späteren Bruderschaften. Ein Grund dafür sei, dass rituelles Andenken an Personen die Gruppenbildung fördere oder gar fordere. Dann fragt er, ob sich diese Praxis in Rechtstexten spiegle. Während die großen Kirchenrechtssammlungen die Bruderschaften kaum behandeln, sei die spätmittelalterliche Diskussion um die quarta portio canonica, welche die Bruderschaften an die Bischöfe hätten zahlen müssen, wenn sie nicht als laikale Institution, sondern als loca pia eingestuft worden wären, fruchtbar. Doch eine Lehrmeinung, was eine Bruderschaft sei, lasse sich nicht feststellen.
Weiter ist an die historiographischen oder methodischen Beiträge von Cosimo Damiano Fonseca, Michael Borgolte und Jean-Loup Lemaître zu erinnern. Die beiden Herausgeber berichten über die Erforschung der Gedächtniskultur, die damit verbundenen Editionsprojekte in Italien und Deutschland und geben einen Überblick über den Forschungsstand. Nach dieser Lektüre weiß man, warum das Vergessen auf der Tagung vergessen ging. Es gibt keine 'Vergessensbücher' zum Edieren.
Lemaître beginnt mit der nomenklatorischen Bemerkung, dass Nekrolog kein Quellenbegriff, sondern eine Neuschöpfung des 17./18. Jahrhunderts sei, während das Wort obituarium seit dem 15. Jahrhundert existiere. Zuvor habe man Quellen, die den Kalendertag, den Verstorbenen und die Stiftung nennen, unspezifisch liber, calendarium oder datarium genannt. Wichtig sei die Verbindung von Stiftung und Gedenken, denn Memoria sei nie gratis gewesen. Auch wenn die Gedenkstiftung für die Ewigkeit gedacht gewesen sei, sei die Leistung wohl nur kurze Zeit erbracht worden. Weiter fragt er ketzerisch, wie Mönche trotz ihres Armutsgelöbnisses Gedenkstiftungen einrichten konnten.
Ein anderes Erinnern behandeln die letzten hier anzuzeigenden Beiträge. Ludger Körntgen vergleicht nach einführenden Bemerkungen zu Herrscherbildern in liturgischen Handschriften aus ottonischer und salischer Zeit und nach berechtigter Kritik an den bisherigen Interpretationen jenes des Perikopenbuchs mit jenem des Regensburger Sakramentars und erkennt, dass im Regensburger Sakramentar die hl. Lanze als Reliquie dargestellt sei und ihre Übergabe an den Herrscher somit die Vermittlung des Heils verkünde.
Nicolangelo D'Acunto geht den Litterae confraternitatis der Bettelorden nach, die seit dem späten 13. Jahrhundert überliefert sind. Sie hätten eine rein spirituelle Verbindung ohne jegliche juristische Wirkung zwischen den Brüdern und den Begünstigten geschaffen und ein früheres zisterziensisches Vorbild imitiert.
Daniela Rando fragt sich, warum Bischof Johannes Hinderbach von Trient den Rand seiner Bücher so dicht beschrieb. Sie liest diese Marginalien, die emotionale Reaktionen auf Gelesenes enthalten oder sich wie etwa die Schilderung des Ritualmordes von 1475 auf Ereignisse seines Lebens beziehen, als Ego-Dokumente. Schließlich zeugen sie auch davon, dass der gelehrte Bischof über sein eigenes Ich nachdachte, wie es seit dem 12. Jahrhundert der Beichtzwang forderte. Erinnern ist also nicht nur das Wiederherstellen von Wissen, sondern konstituiert auch Erfahrung.
Marina Münkler stellt ähnliche Überlegungen an. Anhand des Berichts des Johannes de Plano Carpini zeigt sie, wie Memoria Wissen organisiert und Erfahrung produziert. Sie sieht aber nicht die Zirkumstantienlehre als Grundlage für den Fragenkatalog, mit dem der Franziskaner nach Osten aufbrach, sondern die aristotelische Kategorienlehre, "die sich für die Beschreibung von Gegenständen, die nicht aus gesetzten Prämissen abgeleitet werden konnten" (88), bestens eignete. Carpini beschreibe die Akzidentien der Mongolen mit größtmöglicher Präzision, während die Zirkumstantienlehre nach den Umständen des Handelns und nicht nach dem Charakter des Menschen frage, denn sie suche nach Begründungen, um das Handeln des Menschen moralisch zu bewerten, was Carpini aber nicht tue.
Wie man es bei der Reihe erwartet, ist der Band sorgfältig redigiert. Ein Namenregister wäre nützlich gewesen. Doch dies der Vergesslichkeit der Herausgeber anzulasten, ist verfehlt, denn alle Bände dieser Reihe kommen ohne diese Lesehilfe aus.
Andreas Meyer