Peter Collmer: Die Schweiz und das Russische Reich 1848-1919. Geschichte einer europäischen Verflechtung (= Die Schweiz und der Osten Europas; Bd. 10), Zürich: Chronos Verlag 2004, 650 S., ISBN 978-3-0340-0637-8, EUR 52,00
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Die Verbindung von moderner Politikgeschichte, der Geschichte politischer Kulturen und gegenseitiger Wahrnehmungen ist die große Stärke von Peter Collmers Dissertation über die russisch-schweizerischen Verflechtungen zwischen Gründung des Bundesstaates und der Epochenwende von 1917/19, die an der Universität Zürich von Carsten Gehrke und Madeleine Herren betreut wurde. [1] "Regierungshandeln und zwischenstaatliche Verhältnisse [können] ohne die Berücksichtigung von Wahrnehmungsprozessen und Deutungszuschreibungen nicht adäquat beurteilt werden" (24), insbesondere wenn es sich um stark unterschiedliche Kulturräume und Staatsgebilde handelt - so begründet Collmer seinen Zugang. Der Autor wird seinem Anspruch durchaus über weite Strecken und auf sprachlich durchgehend hohem Niveau gerecht. Insbesondere die Neigung zur Mikrogeschichte und Abschweifungen von der Fragestellung nach den Wechselwirkungen zwischen diesen drei Ebenen muten dem Leser aber auch bisweilen Härten zu.
Der Band überzeugt durch eine plausible Grobgliederung. Dem hinführenden Teil über die institutionellen Voraussetzungen der Verflechtung folgt der erste Hauptteil über die russisch-schweizerischen Beziehungen zwischen dem Schweizerischen Bürgerkrieg und der Bewältigung der Neuenburger Krise 1856/57. Der zweite Hauptteil behandelt Verflechtungsbeziehungen in dem langen Zeitraum bis zur russischen Revolution 1917. Mit einem Kapitel über die weitgehende Auflösung der russisch-schweizerischen Verflechtungen nach der Oktoberrevolution und einem kurzen Fazit endet der Band.
Der Abschnitt über die institutionellen Voraussetzungen ist vor allem notwendig, weil die politischen Akteure sich wiederholt weigerten, diplomatische Beziehungen überhaupt zu unterhalten. Zum einen wollte die Schweiz eine Außenpolitik im traditionellen Sinn nicht haben und sparte mit Gesandtschaften. Zum anderen verhinderten ideologische Gewissheiten auf beiden Seiten und sich widersprechende Ansprüche kultureller Überlegenheit nach dem Bürgerkrieg und auch später wiederholt die politische Kommunikation. Schon die hauptsächlichen Arbeitsgebiete der jeweiligen Konsulate und Gesandtschaften spiegeln die unterschiedlichen politischen Systeme und Gesellschaften wider: Die schweizerischen staatlichen Einrichtungen im Zarenreich dienten vor allem den zumeist technisch ausgebildeten Russlandschweizern und der schweizerischen Industrie, die russischen in der Alpenrepublik hingegen den Exilanten und politischen Flüchtlingen, die dort auch überwacht wurden. Zu bemängeln ist die Länge des institutionengeschichtlichen Teils (150 Seiten): Die zahlreichen konsulararchivalischen Informationen und Personalia gehören eigentlich in ein inventarisierendes Handbuch oder in eine Archivzeitschrift [2]; so manche hier geschilderte Episode lenkt von der Fragestellung ab.
Im Teil über die Umbruchjahre (1848-1856) der Schweiz arbeitet Collmer anhand des schweizerischen Bürgerkriegs überzeugend die ideologischen und politisch-kulturellen Gegensätze zu Russland heraus, die u. a. dazu führten, dass die Schweiz langfristig in den "Verdacht kontinuierlicher Subversionsbegünstigung" (322) geriet. Differenziert und ausgewogen ist auch der Abschnitt über die pragmatische, auf Friedenserhalt abzielende russische Vermittlung zwischen Preußen und der Schweiz in der Neuenburger Frage. Doch der für die inneren Entwicklungen im Zarenreich so wichtige Krimkrieg fehlt in diesem Teil. Hier wäre eine interessante Frage, ob sich aufgrund der Reformen unter Alexander II. das "Bild vom Anderen" in der Schweiz änderte.
Die Konsolidierung und Intensivierung der Austauschbeziehungen steht im Mittelpunkt des Kapitels "[z]wischen den Revolutionen" (229), wie der Autor schreibt - er meint das lange Zeitfenster zwischen der Neuenburger Krise und der Oktoberrevolution. Der erste Teil über wirtschaftliche und administrative Angelegenheiten verdeutlicht die Zunahme der vertraglichen Kooperation, leidet indes an einem Mangel an inhaltlicher Kohärenz. Denn neben dem Personenverkehr, den Zollsystemen, Handelsverträgen und Wirtschaftsabkommen werden das Passwesen, Erbfälle, Repatriierung, Internierung, Opfer der russischen Deutschfeindlichkeit usw. relativ unverbunden behandelt. Gegen die Auswahl der Aspekte ist zwar nichts einzuwenden, doch der Leser vermisst hier zuweilen den roten Faden, und der Erkenntnisgewinn der jeweiligen Abschnitte ist recht unterschiedlich. Der zweite Teil dieses Kapitels über die "politischen Beziehungen" zeichnet sich dagegen durch einen besseren Fluss aus, der durch die thematische Fokussierung auf die Asyl- und Auslieferungsproblematik gewährleistet wird. Hier werden u. a. die zaristische Politik gegenüber russischen Studenten und Studentinnen in der Schweiz sowie insbesondere die Rückwirkungen der russischen politischen Emigration auf die schweizerisch-russischen Staatsbeziehungen eingehend behandelt. Die Verhandlungen zum Auslieferungsvertrag von 1873 sieht Collmer hier als "Konzentrat der Kommunikationsprobleme" (303), die aufgrund unterschiedlicher staatspolitischer Auffassungen, kultureller Traditionen und nationaler Empfindlichkeiten die russisch-schweizerischen Beziehungen ständig begleiteten. Die zaristische Diplomatie wollte den Zugriff auf politische Dissidenten sichern, indem sie sie kriminalisierte, die Schweiz hingegen zwischen kriminellen Straftätern und Aktivisten unterscheiden, die lediglich ihre politische Meinung äußerten. Die Beziehungen erreichten einen Tiefpunkt, der erst überwunden wurde, als die Schweiz im Fall eines Flüchtlings, der in Russland einen zwar politisch motivierten, aber doch einen Mord begangen hatte, einem Auslieferungsbegehren im Herbst 1872 stattgab. Aufgrund der Asymmetrie der Beziehungen und zahlreicher Komplikationen - so u. a. angesichts der Ermordung Alexanders II. im März 1881, dessen Attentäter Anhänger in der Schweiz hatten, der wachsenden Zahl ausländischer Anarchisten in der Schweiz und der "Züricher Bombenaffäre" 1889 - übte die Schweiz stets einen Balanceakt zwischen Souveränität und Kooperation bei der Bekämpfung insbesondere gewaltbereiter Milieus. Nicht ganz nachzuvollziehen ist, warum die polnischen Flüchtlinge von 1863/64 und die anfängliche schweizerische Solidarität mit der polnischen Freiheitsbewegung erst den Abschnitten über die russisch-schweizerischen Asylstreitigkeiten bis zum Ersten Weltkrieg nachfolgen, bilden sie doch in der Chronologie einen wichtigen Hintergrund zum Verständnis der gespannten Beziehungen zwischen Bern und St. Petersburg in der Asylfrage und zur Genese des Auslieferungsvertrages von 1873.
Im Ersten Weltkrieg wurde die Alpenrepublik noch einmal zum großen Sammelbecken der russischen Opposition, da diejenigen Revolutionäre, die zunächst in Deutschland und Österreich Unterschlupf gefunden hatten, nun ebenfalls in die Schweiz ausreisten. Eine interessante Facette der russischen Gesandtschaftsarbeit beleuchtet Collmer mit seiner Untersuchung der humanitären Unterstützung bedürftiger, durch die eingeschränkte Konvertibilität bzw. Entwertung des Rubels plötzlich mittelloser Landsleute. Der dritte Hauptteil behandelt schließlich die Liquidation der sowjetisch-schweizerischen Beziehungen nach der Oktoberrevolution, d. h. die Abreise der russischen Revolutionäre in die Heimat, den Abbruch der institutionellen Beziehungen und die Rückkehr der Russlandschweizer, deren Existenzgrundlage mit der Umstellung der russischen Wirtschaftsordnung zusammenbrach. Hier gibt der mikrohistorische Ansatz viel her.
Die kulturellen Differenzen und Perzeptionsprobleme zwischen der Schweiz und Russland, die durch den staatstheoretischen Gegensatz zwischen der ersten dauerhaft errichteten Demokratie und dem autokratischsten Regime Europas noch gesteigert wurden, kamen vor allem dort zum Tragen, wo politische Konflikte sich ideologisch aufluden. Mitunter aber, wie beim Auslieferungsvertrag, wurden wirtschaftliche und politisch-ideologische Fragen von der russischen Regierung auch gekoppelt, so dass das Zarenreich Druck auf die Schweiz ausüben konnte. Auf wirtschaftlicher und Verwaltungsebene hingegen überwogen Pragmatismus und das Bemühen um eine Ausweitung und vertragliche Stabilisierung der Beziehungen. Vor diesem Hintergrund konstatiert der Autor in seinem Fazit eine Vereinbarkeit der schweizerischerseits überwiegend wirtschaftlichen, russischerseits überwiegend politischen Interessen trotz der "Unvereinbarkeit der politischen Diskurse" (572).
Collmer hat, trotz mancher Kritik im Einzelnen, mit seinem Buch ein grundlegendes Werk zu den russisch-schweizerischen Beziehungen dieser Epoche geschaffen und vorbildlich die Brücke zwischen politischer und gesellschaftlicher Verflechtung und kulturellen Wahrnehmungsprozessen hergestellt. Eine klarere Binnenstruktur, Konzentration auf die Fragestellung und Thesenbildung hätten bei der Umwandlung der Dissertation in ein Buch nicht geschadet. Immerhin wiegen die nützlichen Zwischenbilanzen diese Mängel teilweise wieder auf. Insgesamt ist sein Buch eine vielschichtige, überaus fleißige und mitunter spannende Analyse der Verflechtungsgeschichte zwischen Ungleichen.
Anmerkungen:
[1] Zur den russisch-schweizerischen Beziehungen in Zeit vor 1848 entsteht gerade eine Dissertation; die Zeit nach 1918 behandelt: Christine Gehrig-Straube: Beziehungslose Zeiten: Das schweizerisch-sowjetische Verhältnis zwischen Abbruch und Wiederaufnahme der Beziehungen (1918-1846), Zürich 1997.
[2] Ein solches Inventar gibt es überdies bereits; vgl. Schweizerisches Konsular-Bulletin, verschiedene Beilagen der Jahre 1926-1929.
Matthias Schulz