Larry W. Hurtado: Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids, MI: Eerdmans 2003, xxii + 746 S., ISBN 978-0-8028-6070-5, USD 55,00
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Der an der University of Edinburgh lehrende Neutestamentler Larry W. Hurtado hat mit diesem voluminösen Werk nicht nur eine Reihe eigener Vorarbeiten fort- und zusammengeführt (vgl. 19) [1], sondern er erhebt damit zugleich den Anspruch, als Erster "in focus, scope, and depth" (xiii) in die Fußspuren von Wilhelm Boussets Epoche machendem Werk "Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenaeus" zu treten [2] - wenngleich auch in kritischer Distanz in der Sache. Sein Programm skizziert Hurtado in einer den zehn Hauptkapiteln des Buches vorangestellten "Introduction" (1-26), die außerdem eine knappe Darstellung der Forschungsgeschichte enthält. Wie Bousset will Hurtado dezidiert keine dogmengeschichtliche Entfaltung einer Christologie des Neuen Testaments vorlegen. Vielmehr geht es ihm im umfassenderen Sinne um eine historische Analyse und Darstellung der religiösen Überzeugungen und Praktiken des frühen Christentums, welche er begrifflich unter die Kurzformel "Christ-devotion" bzw. (ohne Bedeutungsunterschied) "devotion to Jesus" fasst (vgl. zur Definition 3 f.). Mit diesem Ausdruck will Hurtado die zentrale Bedeutung der Person Jesu im religiösen Leben und Denken der frühen Christen und Christinnen als spezifisches Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen zeitgenössischen religiösen Gruppierungen kennzeichnen. Ausgangspunkt seiner Betrachtungen ist dabei - contra Bousset -, dass die Christusverehrung bereits ein frühes und sich äußerst schnell ausbreitendes Phänomen war. Da vor allem die Intensität der Verehrung und die Vielfalt ihrer Äußerungen im Ganzen analogielos seien, müsse nach den Gründen und Bedingungen für diese Entwicklung gefragt werden. Dabei sei besonders beachtlich, dass die religiöse Verehrung Jesu konsequent im Rahmen des jüdischen Monotheismus verblieben sei, seine göttliche Bedeutung also stets im Verhältnis zu dem einen Gott Israels formuliert worden sei (vgl. 2 f., 7 f.).
Im ersten Kapitel, "Forces and Factors" (27-78), entwirft Hurtado seine Theorie der Voraussetzungen und Bedingungen dieser spezifischen Entwicklung der Christusverehrung als Grundlage seiner nachfolgenden historischen Analyse und Darstellung. Als maßgeblich sieht er das Zusammenspiel folgender vier Faktoren an:
1.) Der exklusive jüdische Monotheismus, der zur typischen "binitarischen" Gestalt der Verehrung Christi anstelle seiner Apotheose als eigenständiger Gottheit nach paganem Vorbild geführt habe; 2.) die polarisierende Wirkung von Person und Auftreten des irdischen Jesus; 3.) die Deutung der Osterereignisse als göttliche Offenbarung der Erhöhung und Verehrung Jesu; 4.) die Auseinandersetzung mit der religiösen jüdischen wie nicht-jüdischen Umwelt. In den weiteren neun Kapiteln schreitet Hurtado diese Entwicklung in mehr oder minder historisch-chronologischer Folge ab und nimmt dabei neben den christologischen Reflexionen stets auch die religiöse Praxis in den Blick.
Dazu erhebt er im zweiten Kapitel ("Early Pauline Christianity", 79-153) zunächst das christologische Profil der paulinischen Gemeinden, da uns für sie in Form der Paulusbriefe die ältesten Primärquellen vorliegen. Bereits hier konstatiert Hurtado die auch die spätere Zeit prägenden "characteristic beliefs and practices" (153), vor allem die strenge Rückbindung an das monotheistische Bekenntnis.
Erst im anschließenden dritten Kapitel ("Judean Jewish Christianity", 155-216) widmet sich Hurtado den (vorpaulinischen) judenchristlichen Gemeinden in Jerusalem und Judäa, da sich deren religiöse Äußerungen nur indirekt, vornehmlich aus den Paulusbriefen und der Apostelgeschichte, erschließen lassen. Im Gegensatz zu Bousset sieht er - mit weiten Teilen der neueren Forschung - die Verehrung Jesu als "Herr" (gr. kyrios) nicht als ein späteres heidenchristliches Interpretament an. Vielmehr sei die Anrede Jesu als "Herr" nicht nur bereits für die palästinischen Gemeinden vorauszusetzen (aram. mar), sondern reiche vermutlich sogar in die Zeit des Irdischen zurück, wobei die ursprünglich profane Verwendung nachösterlich schon früh christologisch aufgeladen worden sei. Wenig überraschend findet Hurtado seine These einer rasanten Ausbreitung der Christusverehrung bereits für diese Frühzeit bestätigt: "[A] veritable explosion of devotion to Jesus took place so early and was so widespread by the time of his Gentile mission, that in the main christological beliefs and devotional practices that he advocated, Paul was not an innovator but a transmitter of tradition" (216).
In Kapitel vier profiliert Hurtado die Logienquelle ("Q and Early Devotion to Jesus", 217-257) als "successful literary product" (257) und somit als wesentliche Vorstufe der Evangelienüberlieferung, der die Kapitel fünf bis sieben gewidmet sind. Auch wenn nämlich das anschließende fünfte Kapitel mit "Jesus Books" (259-347) überschrieben ist, behandelt es nur die synoptischen Evangelien. Das Johannesevangelium ist - zusammen mit der übrigen johanneischen Literatur mit Ausnahme der Offenbarung - erst Gegenstand des sechsten Kapitels ("Crises and Christology in Johannine Christianity", 349-426). Die doppelte Frontstellung des johanneischen Kreises, einerseits im Gegenüber zur Synagoge (JohEv), andererseits aufgrund innergemeindlicher Konflikte (1/2 Joh) habe zu Pointierungen wie auch Modifikationen älterer religiöser Anschauungen geführt: "[T]he results were historic and highly influential for practically all known forms of subsequent Christian belief about Jesus. It was particularly the rendition of Jesus in GJohn that memorably presented him as unquestionably divine and yet also as a human figure of real history" (425 f.).
Kapitel sieben erschließt die wichtigsten außerkanonischen Jesusüberlieferungen ("Other Early Jesus Books", 427-485) und schlägt so bereits die Brücke zu den Traditionen des 2. Jahrhunderts, die in den letzten drei Kapiteln untersucht werden. Nach Hurtado ist diese Phase der Kirchen- und Theologiegeschichte durch zwei widerstrebende Entwicklungslinien bestimmt. Eine Tendenz der "radical diversity", von der u. a. die apokryphen Evangelien zeugen, steht einer aufkommenden "proto-orthodoxy" gegenüber. In Kapitel acht ("The Second Century - Importance and Tributaries", 487-518) werden jene Glaubensüberzeugungen und -praktiken als "proto-orthodox" definiert, die später für das "klassische" oder "orthodoxe" Christentum typisch werden. "[P]roto-orthodox devotion to Jesus represents a concern to preserve, respect, promote, and develop what were by then becoming traditional expressions of belief and reverence, and that had originated in earlier years of the Christian movement" (495). Demgegenüber seien solche Äußerungen, die in der "proto-orthodoxen" Linie als häretisch angesehen wurden und daher verteidigt werden mussten, Zeugnis einer "radical diversity". Als wegbereitende Traditionen dieser Entwicklungen werden hier als Zeugnisse des 1. Jahrhunderts noch Beobachtungen zu Hebr, Kol, Eph und Past nachgetragen (496-518), bevor sich Kapitel 9 ("Radical Diversity", 519-561) den Valentinianern und Markioniten als den wichtigsten "heterodoxen" Strömungen zuwendet.
Das letzte Kapitel ("Proto-orthodox Devotion", 563-648) stellt hingegen eine zeitlich wie formgeschichtlich weit gefächerte Palette von Zeugnissen der "Proto-Orthodoxie" zusammen. Diese reicht von den Spätschriften des Neuen Testaments (1/2Petr, Jud, Offb) über Hymnus und Gebet bis zu Nomina Sacra und muss notwendigerweise fragmentarisch bleiben.
Unter "Thereafter" (649-653) finden sich knappe zusammenfassende Bemerkungen, die keinesfalls die Lektüre des gesamten Werkes oder einzelner Abschnitte ersetzen können. Der Band wird durch eine Bibliografie (655-702) sowie umfangreiche Register der modernen Autoren, der Sachen und der antiken Quellen (703-746) erschlossen.
Ob Hurtados Werk genauso einflussreich werden wird wie Boussets "Kyrios Christos", können erst nachfolgende Generationen beurteilen. Hurtado dokumentiert jedenfalls nicht nur in klarer und umsichtiger Form den gegenwärtigen Stand der Forschung, sondern er entfaltet vor allem einen eigenständigen Entwurf zur Entstehung und Entwicklung christologischer Überzeugungen und Praktiken in den ersten beiden Jahrhunderten. Dass ein solch geschlossenes Modell Kritik im Einzelnen hervorruft, ist nicht verwunderlich. So wäre etwa zu fragen, ob die Unterscheidung von heterodoxem und orthodoxem Christentum tatsächlich angemessene Beschreibungskategorien bereitstellen oder ob nicht insgesamt auch pagane Einflüsse auf das frühe Christentum stärker in Rechnung gestellt werden müssten, nicht zuletzt vermittelt durch das hellenisierte Judentum. Doch schmälern derlei Anfragen keineswegs das Unternehmen Hurtados, die komplexe Entwicklung frühchristlicher Glaubensinhalte und -praktiken in ein Gesamtmodell zu überführen - im Gegenteil mangelt es der gegenwärtigen Forschung allzu oft an solchen Versuchen. Daher ist dem Werk unbedingt die breite akademische wie nicht-akademische Leserschaft zu wünschen, die im Vorwort anvisiert ist (vgl. xiv). Die Einzeldiskussionen kann und wird die Fachwelt führen. Gebildete Laien hingegen erhalten einen ebenso facettenreichen wie plastischen Einblick in das Denken und die kultische Praxis der frühen Christen und Christinnen. Man sollte sich dabei nicht vom Umfang des Werkes abschrecken lassen, zumal der gut lesbare, eingängige Stil auch Nichtmuttersprachlern eine unangestrengte wie anregende Lektüre ermöglicht.
Anmerkungen:
[1] Vgl. besonders One God, One Lord: Early Christian Devotion and Ancient Jewish Monotheism, London 1988; At the Origins of Christian Worship. The Context and Character of Earliest Christian Devotion, Carlisle 1999, sowie jetzt die Sammlung älterer Studien in: How on Earth Did Jesus Become a God? Historical Questions about Earliest Devotion to Jesus, Grand Rapids (Michigan) 2005.
[2] Wilhelm Bousset: Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenaeus, Göttingen 1913 (2. Aufl., 1921).
Heike Omerzu