Rezension über:

Thomas Fuchs: Geschichtsbewußtsein und Geschichtsschreibung zwischen Reformation und Aufklärung. Städtechroniken, Kirchenbücher und historische Befragungen in Hessen, 1500 bis 1800 (= Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte; Bd. 21), Marburg: Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde 2006, VIII + 215 S., ISBN 978-3-921254-88-2, EUR 25,90
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Rezension von:
Markus Völkel
Historisches Institut, Universität Rostock
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Markus Völkel: Rezension von: Thomas Fuchs: Geschichtsbewußtsein und Geschichtsschreibung zwischen Reformation und Aufklärung. Städtechroniken, Kirchenbücher und historische Befragungen in Hessen, 1500 bis 1800, Marburg: Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 3 [15.03.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/03/10922.html


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Thomas Fuchs: Geschichtsbewußtsein und Geschichtsschreibung zwischen Reformation und Aufklärung

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Die Untersuchung ist als Nachtrag zur Habilitationsschrift des Verfassers zur 'Geschichtsschreibung in Hessen in der Frühen Neuzeit' von 2002 zu verstehen und damit auch zum SFB 434 'Erinnerungskulturen' in Gießen. [1] In vier Kapitel gegliedert, besteht sie aus drei Teilen, d.h. der Einleitung, einem quellenkundlichen Zentralstück zu 38 hessischen Städtechroniken und einer abschließenden Synthese aus dem dritten und vierten Kapitel "Gedächtnis und Erinnerung" und "Zusammenfassung".

Die 27 Seiten umfassende Einleitung zu 'Tradition, Geschichtsschreibung und Städtechroniken' stellt die regionalen hessischen Chroniken in den großen Zusammenhang der heutigen Gedächtnis- (memoria) und Erinnerungsforschung. Die frühneuzeitlichen Chroniken, eine besonders im ländlichen Bereich im 18. Jahrhundert reichlich bezeugte Gattung, platziert Fuchs in den größtmöglichen Theoriehorizont von Konstruktion, Verzeitlichung, Rationalisierung und Verwissenschaftlichung, aber auch lokalem Wissen (local knowledge) und Kontingenzbewältigung gemäß Hermann Lübbe. Der 100 Seiten starke beschreibende Teil gelangt nach gründlicher Reflexion der Grundlagen chronikaler Typenbildung wie Zeit- und Vergangenheitschronik, ratsnaher städtischer oder personal erlebnisorientierter Chronistik zu den für Hessen einschlägigen Überlieferungsmechanismen und einer Art Inhaltsmatrix. Fuchs betont die schon in seiner Habilitationsschrift anklingende These von den drei 'Historisierungsschüben' in den Landgrafschaften: 1. nach 1500 reformatorisch, 2. nach 1700 absolutistisch-administrativ, 3. um 1800 dann Bedürfnisse der Aufklärung. Wertvolle Quellenkenntnisse vermittelt sodann seine Beschreibung der Chronikbestände aus Hessen-Kassel am Leitfaden der Befragungen von Landgraf Karl I. (geb. 1654, reg. 1677-1730). Erwähnenswert ist, dass Fuchs, auch wenn er das Fehlen von Chroniken konstatieren muss, auf Randgattungen wie Amtsbücher, Verzeichnisse bzw. anderswo zu findende Parallelüberlieferungen hinweist. Damit gelingt ihm eine dichte Beschreibung der lokalen geschichtsnahen Literatur, die allerdings in ihrer Überlieferung erhebliche Einbußen erlitten hat, so dass generelle Aussagen zu ihrer räumlichen Verteilung und Dichte nur unter Vorbehalt getroffen werden können.

Im dritten Teil versucht Fuchs abermals die lokale Erinnerungs- und Gedächtniskultur auf der Grundlage von Lesarten aus den Quellen im Theoriehorizont anzuordnen; dies allerdings eher assoziativ als systematisch. Zwei Ergebnisse treten besonders stark hervor: erstens die 'Überschreibung' der vorreformatorischen kirchlichen und religiösen Landschaft durch den 'Historisierungsschub' nach 1500 (ein Volk, ein Landgraf, ein Glaube); zweitens die über die gesamte Frühe Neuzeit hinweg bewährte Dichotomie von gedächtniszentrierter polyzentrischer 'monumentaler' Gedächtniskultur und obrigkeitlicher, projektgesteuerter Vergangenheitschronistik. Letztere erscheint als die eigentlich verändernde Kraft in der longue durée. Im 'Anhang' finden sich Hinweise zu den überlieferten Berichten im Rahmen der historischen Befragungen von 1710 und 1719/20 sowie eine Liste der Orte, aus denen Antworten überliefert sind.

Die Einschätzung dieser Forschungsleistung sollte sich an dem im Titel erhobenen Anspruch orientieren. 'Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung zwischen Reformation und Aufklärung' zielt auf einen maximalen Theorie- und Interpretationshorizont. 'Städtechroniken, Kirchenbücher und historische Befragungen in Hessen, 1500 bis 1800' möchten eine lokale 'historiographische Überlieferung' in ihrem Bestand dokumentieren. Ohne Zweifel ist der quellenkundliche Abschnitt gelungen, wenngleich kleinere Einschränkungen angebracht sind. Umfangsangaben sowie Hinweise zu Illustrationen wären sinnvoll gewesen, ebenso eine detaillierte Karte beider Landgrafschaften. Nicht jedem dürften so wichtige Orte wie Hilmes und Lohra, Friedlos und Freudenberg unmittelbar geläufig sein. Ohne Karte lässt sich auch kein genaues Bild der regionalen Verteilung historischen Wissens gewinnen, also etwas, was eigentlich zu den zentralen Fragen eines 'local knowledge' gehört.

Als nachteilig für Struktur und Lesbarkeit der Studie erweisen sich Gebrauch und Verteilung des üppigen Theorievorrates. Es spricht für den Verfasser, dass er sich unablässig um theoretische Selbstvergewisserung bemüht. Gegen ihn spricht, dass er dies zu häufig deskriptiv, d.h. ohne strikt thematische Argumentationslinien und ohne leserfreundliche Verteilung tut. Fuchs bringt das gesamte Beschreibungsrepertoire, welche das Metaphänomen 'Frühneuzeitliches Geschichtsbewusstsein' in den letzten 40 Jahren aufgerufen hat, vor seiner ländlichen hessischen Chronistik in Stellung. Fast unverschuldet, so möchte man einräumen, wird er damit das Opfer einer Diskurslage, die zwar eine große Anzahl 'weicher Begriffe' einsetzt (Gedächtnis, Erinnerung, Identität, Wissen etc.), aber bislang daran gescheitert ist, ihre konzeptuellen Schwächen aneinander abzuarbeiten. Liegt die Reproduktion dieser 'Unübersichtlichkeit' im Interesse der hessischen Heimat- und Archivforscher, für die dieses Buch am Ende doch gedacht ist?

So bleibt ein zwiespältiger Gesamteindruck zurück. Wer wie Fuchs einen totalisierenden Diskurs zur Legitimation aufruft, darf sich nicht der Aufgabe entziehen, die Theorie der 'Konstruiertheit' historischen Wissens, mithin auch ihrer Beschreibungsbegriffe, auch auf die Aufklärung (Verwissenschaftlichung) und darüber hinaus auf den eigenen Theoriegebrauch auszudehnen. Daraus hätte eine systematische theoretische Anstrengung erwachsen können oder aber, angesichts des Vorhabens, eine dichte Quellenbeschreibung für eine Region zu liefern, der bewusste Verzicht darauf. Dies hätte den Weg für ein reines Quellenrepertorium frei gemacht, eine stärkere Orientierung an den Bedürfnissen tatsächlicher Benutzer ermöglicht und nahegelegt, die Elemente der Synthese nicht von 'oben', d.h. der Metasprache abzuleiten, sondern induktiv, d.h. vor allem im Vergleich mit anderen Geschichtslandschaften. Komparatistisch ist bei Fuchs jedoch nur die Chronistik der Reichsstädte gegenwärtig. Wie die Studie jetzt vorliegt, stellt sie vor allem den Versuch dar, die Makroebene direkt in der Mikroebene wiederzufinden. Dieses wagemutige Verfahren könnte im Resultat dazu führen, dass Fuchs' ehrgeiziger Ansatz seinen beiden möglichen Lesern nicht genügt: nicht dem Theoretiker und nicht dem Heimatforscher bzw. Landeshistoriker. Und das wäre bedauerlich, denn hier liegen in der Tat sowohl ausgebreitete Theorie- wie auch Quellenkenntnisse vor, nur eben in einer unglücklichen Kombination und Schwerpunktsetzung.


Anmerkung:

[1] Thomas Fuchs: Traditionsstiftung und Erinnerungspolitik. Geschichtsschreibung in Hessen in der Frühen Neuzeit (= Hessische Forschungen zur geschichtlichen Landes- und Volkskunde; Bd. 40), Kassel 2002.

Markus Völkel